44. 𝔎𝔞𝔭𝔦𝔱𝔢𝔩

Aus dem Lehrbuch für Mystische Geschöpfe

*Jace*

Das Leben war schön. Er fühlte sich frei, er fühlte sich gut, geradezu großartig. Ein wenig schummrig und müde, aber immer noch großartig. Alle Sorgen waren verdrängt, verborgen hinter dickem Nebel, der seine Gedanken schwergängig werden ließ. Seine Gedanken trugen ihn hierhin und dorthin, verweilten nie irgendwo lange und waren auch nicht greifbar.

Andere hätten diesen Zustand genossen, doch Jace wusste wie gefährlich er war. Er kannte einige Wölfe, die von diesem Rausch abhängig und schließlich verrückt geworden waren. Und ein Alpha der nicht mehr klar denken konnte, blieb nicht lange Alpha.

Etwas benommen riss er die Terrassentür auf und sog gierig die frische Luft ein. Die Dusche hatte nicht viel geholfen, seinen Kopf klar werden zu lassen, doch die kalte Luft tat gut. Er blieb stehen, bis seine Umgebung nicht mehr in bunten Farben zu leuchten schien.

Diese Wirkung hatte das Gemisch normalerweise: Es versetzte die Gefangenen in einen Rausch, bei dem sie all ihre Sorgen losließen und irgendwann glückselig einschliefen. Es nahm ihnen die Grundlage für jegliche Aggressivität, doch bei Tobias war das Gegenteil der Fall gewesen. Das Gemisch hatte ihn noch gefährlicher, noch aggressiver, noch unberechenbarer werden lassen.

Jace hatte schon erlebt, was zu viel Eisenhut auslösen konnte. Die Betroffenen bekamen regelrechte Schübe: Der Rausch wurde unerträglich, führte zu Wahnvorstellungen, Orientierungslosigkeit und Kontrollverlust. Doch bei Tobias war es ein Dauerzustand, der noch dazu nicht mehr enden wollte. Das konnte nicht allein am Eisenhut liegen.

Heute Morgen war er völlig normal gewesen, bevor er ins Rathaus ging. Jace wäre alles andere aufgefallen. Und vorhin, in der Zelle, hatte er ihn sich genau angesehen. Er wies nur die Verletzungen auf, die er sich selbst zugefügt hatte. (Natürlich würde er das noch einmal prüfen, sobald Tobias seine menschliche Gestalt angenommen hatte.) Die Frage war also, wie und wann er vergiftet wurde – und womit. Bei seinem Zustand musste das Mittel direkt in seiner Blutbahn gelandet sein.

Jace stützte sich auf dem Geländer ab und sah auf den See hinaus. Sie hatten es in letzter Zeit schon einmal mit einem Eisenhut-Gemisch zu tun gehabt. In Ilargia. Gab es einen Zusammenhang?

Sein Kopf begann zu schmerzen. Er sollte seine Gedanken notieren, bevor sie ihm wieder entglitten, oder keinen Sinn mehr ergaben.

Etwas schwerfälliger als sonst schloss er sein Arbeitszimmer auf und trat ein. Es sah genauso aus, wie sie es vorhin verlassen hatten. Dennoch war etwas anders und er kam nicht sofort darauf, was es war.

Im Raum lag Kathlyns Duft.

Es ergab keinen Sinn, das wusste er selbst. Es roch eindeutig nach ihr, nach Moder, nach Ruß und nach Wachs. Das ergab noch viel weniger Sinn. Er hatte doch gerade eben aufgeschlossen, oder nicht?

„Jace?", hörte er sie nun auch noch, und zweifelte vollends an seinem Verstand. Der Rausch musste schlimmer sein, als er angenommen hatte.

„Josi hat mich gebeten nach dir zu sehen." Seine Halluzination wurde Wirklichkeit und betrachtete ihn. Ihr hellblondes Haar leuchtete wie Mondstrahlen und ihre Augen funkelten wie Sterne.

„Wie die fleischlich gewordene Mondgöttin.", schoss es ihm durch den Kopf, während er sie anstarrte. Vielleicht war sie gar nicht echt?

„Ist alles in Ordnung?"

„Wie kommst du in mein Arbeitszimmer?", riss er sich zusammen und versuchte sich zu konzentrieren. Seine Gedanken schweiften immer wieder ab und malten ihm ein Bild von Kathe auf seinem Tisch. Nackt. Ihre Brüste nur verdeckt von ihrem leuchtenden Haar.

„Äh, durch die Tür? Oder wie gehst du von einem Raum in den anderen?" Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen und musterten ihn kritisch. „Hast du vorhin was am Kopf abbekommen?"

„Vorhin?" Was war vorhin? Er konnte sich an nichts erinnern.

Kathe schnaubte kurz ungläubig auf, bevor sie dicht an ihn herantrat, seine Augen fixierend. Sie kam ihm so nah, dass er jedes kleine Härchen in ihrem Gesicht wahrnahm. Jede einzelne geschwungene Wimper. Jede Nuance ihrer himmelblauen Augen. Jeden Rotton ihrer Wangen und ihrer süßen Lippen, die sich unzufrieden aufeinander pressten. Sie war so wunderschön. Sie konnte unmöglich real sein.

„Hast du Eisenhut genommen?" Ihre Augen gaben ihn nicht frei, suchten schockiert nach Antworten. Kurz fragte er sich, woher sie davon wusste. Dann schob sich wieder dicker Nebel vor seine Gedanken. Müde rieb er sich die Nasenwurzel.

„Nicht freiwillig, aber es ist in meiner Blutbahn."

„Das ist auch keine Kunst." Ihre kühlen Finger berührten seine Seite, seine glühende Haut. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er kein Shirt trug. Und er bemerkte die langen, tiefen Kratzer. Waren sie eben schon da gewesen?

„Du solltest das verbinden Jace." Ihre Berührungen waren sanft, beinahe zärtlich. Er stellte sich vor, wie sich diese Finger auf dem Rest seiner Haut anfühlen würden. Wie sie über seinen Rücken fuhren. Wie sich ihre Nägel in seine Haut gruben, während er ...

„Im Bad ist Verbandsmaterial." Sie wandte sich ab, doch er packte ihr Handgelenk und zog sie zurück, bevor er sich überhaupt darüber im Klaren war. Gierig drängte er sie gegen den Tisch.

„Was ...?"

„Du solltest lieber gehen Kathlyn. Solange der Rausch anhält, solltest du nicht in meiner Nähe sein." Anstatt seinen eigenen Worten nachzukommen, beugte er sich nach vorn und nahm ihr immer mehr Bewegungsspielraum. Sie lag nun halb auf dem Tisch, aufgestützt auf ihren Ellbogen, und sah verwirrt zu ihm auf.

„Warum? Könntest du so werden wie Tobias?"

Er konnte dem Drang nicht länger widerstehen ihr Haar zu berühren. Fasziniert nahm er eine Strähne zwischen die Finger und betrachtete sie. Jedes einzelne Haar leuchtete in seiner Hand und fühlte sich herrlich weich an.

Langsam glitt sein Blick an ihr hinab. Ihr Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Ihr Busen war perfekt. Er schien fest und prall, die richtige Größe für seine Hände, auf die sie nur zu warten schienen. Wie oft hatten sich ihre Knospen unter seinem Blick schon aufgerichtet? Zwei zarte, rosa Verführungen, mit denen er zu gern spielen würde.

Der Tisch hatte die ideale Höhe. Es wäre so leicht herauszufinden wie sie sich anfühlte. Wie sie schmeckte. Wie sie seinen Namen stöhnte. Es wäre so leicht, sich dem Rausch vollkommen hinzugeben. Sich von seinen Trieben beherrschen zu lassen.

„Jace?" Ihre Stimme schien plötzlich ein wenig höher zu sein. Auch ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie versuchte sich aufzurichten, doch er gab keinen Millimeter nach. Stattdessen drängte er sie noch weiter auf den Tisch zurück. Also versuchte sie von ihm wegzurutschen, sodass er ihre Brüste plötzlich genau vor seiner Nase hatte.

„Fordere mich nicht heraus, mein Mondstrahl.", raunte er, ihr Dekolleté so verlockend nahe. Seine Lippen senkten sich auf ihr Schlüsselbein und verteilten zarte Küsse darauf. Kathe keuchte auf, griff nach ihm und landete prompt vollends auf dem Tisch.

Sein Mund verselbstständigte sich, glitt besitzergreifend über ihr Dekolleté, ihren Hals hinauf und spürte ihren rasenden Puls unter seinen Lippen. Ihr Körper rutschte unruhig unter ihm herum und ließ ihn erregt aufknurren. Sofort bekam sie eine Gänsehaut.

Ihre Hände hielten ihn abwechselnd fest und versuchten ihn wegzuschieben. Als wüsste sie selbst nicht, was sie wollte. Jace wartete nicht, bis sie sich einig war. Seine Zähne zupften an ihrer empfindlichen Halsbeuge, seine Hände umfassten ihre Hüfte und zogen sie dicht an sich heran. Seine Hüfte drängte gegen ihre Körpermitte und sie keuchte überrascht auf. Er wollte sie und sie spürte es.

„Jace ...", begann sie erneut und drehte den Kopf beiseite, als er Küsse über ihre Jawline verteilte. Ihre Wangen waren feuerrot. Er wusste nicht mehr, ob dies hier real war oder nicht. Es war ihm auch egal.

Seine linke Hand fuhr unter ihr Gesicht und drehte es ihm zu, gleichzeitig senkten sich seine Lippen auf ihre. Der Kuss fiel alles andere als unschuldig aus. Jace küsste sie fordernd, wild und voller Verlangen. Er saugte an ihrer Unterlippe, zupfte daran und nutze es sofort aus, als sich ihr Mund ein wenig öffnete. Seine Zunge strich verführerisch über ihre Lippen und tauchte dann in ihren Mund ein, kostete sie, neckte sie, forderte sie heraus.

Der Rausch verstärkte sich, riss ihn fort, wollte mehr. Da waren nur sie, ihre weichen Lippen, ihr heißer Atem, ihr leises stöhnen, ihr warmer Körper unter ihm. Falls sie protestieren wollte, bemerkte er es nicht. Er ließ sie kaum Luft holen.

Seine rechte Hand umschloss ihre Brust und drückte sachte zu. Oh ja, sie war fest und prall und lag perfekt in seiner Hand. Da war nur zu viel Stoff. Doch das konnte man ändern.

„Nicht!" Ihre Worte kamen gedämpft bei ihm an, als wäre er unter Wasser. Erst als sie ihm auf die Schulter schlug, nahm er ihre Gegenwehr wahr. Sah die Angst in ihren Augen. Mit aller Macht kämpfte er gegen die Wirkung des Eisenhuts an. Es war kein Traum, egal was ihn die Droge glauben machen wollte. Es kostete Jace etliches an Kraft, von ihr abzulassen und nach hinten zu treten.

„Geh!", forderte er sie auf und verkrampfte die Hände zu Fäusten, damit er Kathe nicht wieder packte. Sie rutschte vom Tisch und verließ sein Arbeitszimmer. Er hörte eine Tür und trat wütend gegen einen Stuhl, der scheppernd gegen das Bücherregal flog und etliche Bücher herausfallen ließ.

Er hatte sich nicht im Griff! Schon wieder! In ihrer Nähe fiel es ihm sowieso schon schwer, doch der Eisenhut machte es schier unmöglich.

Jace stützte sich mit den Händen am Tisch ab und atmete tief durch. Er musste sich dringend beruhigen und etwas schlafen. Er spürte bereits, wie die Wirkung des Eisenhuts in das Gegenteil umschlug. Auf jedes Hoch folgte ein Tief.

Eine Bewegung an der Tür ließ ihn herumfahren. Kathe ignorierte ihn, steuerte den Tisch an und breitete etliches Verbandsmaterial, sowie Salben darauf aus.

„War ich eben nicht deutlich genug?", grollte er ungehalten.

„Deine Wunden müssen versorgt werden Jace. Je früher desto besser."

„Du provozierst mich schon wieder, kleiner Mondstrahl!", hauchte er ihr in den Nacken und schob ihr Haar beiseite. Gänsehaut überzog ihre Haut.

„Das ist nicht meine Absicht. Ich will dir nur helfen." Ihre Stimme zitterte leicht und er verabscheute sich dafür. Gleichzeitig konnte er sich einfach nicht von ihr wegbewegen. Am liebsten hätte er die Medikamente vom Tisch gefegt und sie wieder darauf platziert.

„Du solltest Angst vor mir haben, statt dich um mich zu sorgen."

„Nein. Ich weiß, dass du mir nichts tun wirst."

„Du weißt nichts über mich." Seine Lippen streiften ihren bloßgelegten Hals. Ihr leuchtendes Haar kitzelte seine Nase, ihr Duft benebelte ihn. Er war kurz davor, sich wieder zu vergessen.

„Ich weiß was ich sehe." Nun drehte sie sich um. „Und ich habe gesehen, wie du mit den anderen umgehst und dich um sie kümmerst. Ich habe gesehen, wie du sie beschützt. Wie du mich beschützt. Ich sehe wie du gegen den Rausch ankämpfst. Und ich sehe, dass du Hilfe brauchst."

Er hielt inne. Ihre himmelblauen Augen sahen ihn voller Entschlossenheit an. Er konnte keine Zweifel, keine Angst entdecken. Doch vielleicht lag das auch am Eisenhut. Vielleicht wollte er einfach nur glauben, dass da nichts war.

„Ich werde nicht gehen." Eine Hand legte sich auf seine Wange und holte ihn aus seinem Gedankennebel. Ihr Daumen streichelte ihn sanft. Er genoss ihre Berührung, obwohl er wusste wie falsch es war. Er hatte kein Anrecht darauf. „Und jetzt lass mich dir helfen Jace."

„Mir zu vertrauen ist der schlimmste Fehler deines Lebens.", warnte er leise, doch sie lächelte lediglich matt und schob ihn gegen den Tisch.

„Es gibt mindestens eine Sache, die schlimmer wäre. Aber wir machen alle Fehler."

Diesmal schwieg er. Er hatte viele Fehler begangen. Schlimme Fehler, von denen sie nie erfahren durfte. Sie würde ihn hassen. Und sie hätte jedes Recht dazu.

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