43. 𝔎𝔞𝔭𝔦𝔱𝔢𝔩
Aus den Chroniken der Geschichte der Werwölfe
*Jace*
Josi sah ungläubig von ihm zu Caleb. Calebs Hose war zerrissen und voller Dreck. Sein Bein blutete, doch er hatte sich noch nicht darum gekümmert. Jace hingegen hatte sich sein zerfetztes Shirt ausgezogen und es ein paar Mal grob auf die Wunde gedrückt, bevor er aufgab. Er hatte gerade andere Sorgen.
„Ich verstehe gar nichts. Was genau ist jetzt passiert?", verlangte Josi ein zweites Mal zu wissen. Auch Alec sah ihn gespannt an und beugte sich auf seinem Stuhl nach vorn. Also begann Jace zu erzählen:
„Anna, Tobias und Colin waren im Rathaus, Caleb und ich im Café. Es lief eigentlich wie immer. Carola hat die neusten Entwicklungen in der Stadt erörtert und dann in umständlicher Weise auf Frumos Forderung hingearbeitet. Wie wir erwartet hatten, wollte sie mit uns über eine Lösung sprechen, um die Bürger zu beruhigen und Frumos den Wind aus den Segeln zu nehmen. Soweit kam es allerdings nicht, denn da ist Tobias verrückt geworden."
„Er hat angefangen die Ratsmitglieder anzuknurren.", fuhr Caleb fort, der das Ganze immer noch nicht fassen konnte. „Anfangs hielten das alle für einen dummen Scherz, bis er auf Colin losging und sich ohne Vorwarnung verwandelte. Bei dem Versuch ihn aufzuhalten hat er Anna gegen die Wand geschleudert. Als wir kamen, wollte er ihr gerade die Kehle durchbeißen."
„Das konnten wir verhindern, aber sie ist immer noch bewusstlos. Colin wollte seine Wunden versorgen lassen, inzwischen schläft er."
„Er schläft?", wiederholte Josi ungläubig und Jace nickte.
„Er hatte enorme Schwierigkeiten, seinen Körper zu kontrollieren und zu koordinieren. Was auch immer der Auslöser für Tobias' Verhalten ist, ist auch an den anderen nicht spurlos vorüber gegangen."
„Habt ihr irgendetwas bemerkt?"
„Dafür war zu viel los. Wir mussten die Ratsmitglieder evakuieren, Tobias in Schach halten und Anna aus der Gefahrenzone holen.", antwortete Caleb. „Colin war dabei keine Hilfe."
„Wurde ein Mensch verletzt?", wollte Alec wissen.
„Nicht durch uns. Einige Ratsmitglieder sind aus dem Fenster gesprungen. Doch so wie sie danach gerannt sind, schien es ihnen ganz gut zu gehen." Caleb zuckte die Schultern.
„Das Abkommen wurde nicht gebrochen, aber es hat nicht viel gefehlt. Noch dazu konnten wir Tobias nicht ungesehen aus der Stadt bringen, auch wenn sofort Alarm geschlagen wurde und sich jeder Bürger in ein Gebäude begeben musste. Wir waren nicht zu übersehen und zu überhören."
„Ich hatte noch nie so viele Zuschauer bei einem Kampf, Liebes. Sie haben buchstäblich an ihren Fenstern geklebt. Einigen stand sogar der Mund offen."
„Bist du deshalb verletzt? Weil du lieber von irgendwelchen Menschen bewundert werden wolltest, statt dich auf Tobias zu konzentrieren?" Josi schnaubte abfällig auf. „Vielleicht solltest du die Wunde mal reinigen."
„Das klingt beinahe, als würdest du dir Sorgen um mich machen."
„Ich bin diejenige, die sich dein Gejammer anhören darf, wenn das Ganze nicht ordentlich heilt. Und das wird es nicht, wenn du dich nicht bald darum kümmerst. Genau wie deine Wunde Jace! Ihr wisst nicht, ob Tobias euch mit irgendetwas infiziert hat. Weil nämlich niemand weiß, was mit ihm los ist."
„Und genau das ist die Frage. Was ist mit ihm passiert? Und was löst dieser Vorfall in der Stadt aus?", hakte er ein.
„Was soll er schon auslösen? Niemand von ihnen wird sich jemals freiwillig mit uns anlegen, selbst wenn sie mit dem Gedanken gespielt haben. Das dürfte ihnen heute eine Lehre gewesen sein."
„Nein Caleb, im Gegenteil. Was heute passiert ist stützt Frumos Vorwürfe. Es sieht so aus, als hätten wir das Ganze inszeniert, damit sie nicht nach Kathlyn fragen. Frumos wird diesen Vorfall zu seinen Gunsten nutzen. Er wird uns als Bestien hinstellen, die sich nicht unter Kontrolle haben. Als Gefahr für die Stadt."
„Leider müssen wir uns eingestehen, dass es heute genau so war. Habt ihr Tobias' Pupillen gesehen?", wandte Alec ein. „Sie waren unnatürlich geweitet. Als stünde er –"
„Unter Eisenhut.", ergänzte Jace. „Daran habe ich auch schon gedacht, aber so ganz passt es nicht zusammen. Er ist im Blutrausch, ohne jegliche Kontrolle über sich und seine Kräfte. Wir hatten alle Hände voll zu tun, ihn zurück zur Wolfshöhle zu bringen. Im Moment ist er nur eine Gefahr für sich selbst und für andere. Mike behält ihn im Auge und dokumentiert seinen Zustand. Ich hoffe, Karin kann uns mehr dazu sagen."
„Sie dürfte bald hier sein. Sie wollte sich sowieso bereithalten, wegen Emmely. Aber Jace, falls es wirklich Eisenhut ist kann sie auch nicht viel tun. Dann können wir nur abwarten, bis sein Körper das Gift ausgeschieden hat."
„Ich weiß Josi."
Plötzlich klopfte es wild an der Tür zur Suite und die vier Freunde sahen sich alarmiert an. Jace öffnete einem kreidebleichen Brian die Tür, der panisch von einem zum anderen sah: „Tobias verletzt sich selbst! Mike hat die Sprinkleranlage eingeschaltet, aber es hilft nicht."
Tobias' Brüllen war zu hören, sobald sie die Tür zum Kellergewölbe öffneten. Jace verlor keine Zeit und stürmte die Treppe hinunter, bis hin zur vorletzten Zelle, in die sie Tobias gesperrt hatten. Mike stand vor der offenen Zellentür und sah besorgt hinein.
Auch ihm verschlug es die Sprache, als er in die Zelle hineinsah: Die Sprinkleranlage lief, doch das kümmerte den tobenden Werwolf darin nicht. Das komplette Inventar hatte er bereits zerlegt. Nun zerrte er an der Kette der Schelle, die sie ihm knapp über dem Sprunggelenk des rechten Hinterbeines angelegt hatten. Die Schelle gab nicht nach, ebenso wenig wie die Kette. Also hatte Tobias begonnen, sich das eigene Bein abzubeißen. Seine Schnauze war blutverschmiert, sein Bein hatte bereits tiefe Wunden. Er schien den Schmerz nicht einmal zu bemerken.
„Er hat beim Randalieren ein Ventil beschädigt. Ich kann die Anlage nicht mehr abdrehen.", erklärte Mike bestürzt und Josi sog scharf Luft ein. Das bedeutete, dass sie die Zelle nicht lange betreten konnten, wollten sie bei Verstand bleiben. Und das durften sie nicht riskieren. Dies hier war nicht mehr Tobias. Es war ein wildes, gefährliches Tier, das sie erbarmungslos töten würde.
Schon im Wald hatte er alles getan, um sie zu verletzen und zu fliehen. Er agierte dabei weder sinnvoll, noch rational. Er biss und schlug einfach um sich. Gerade diese Unberechenbarkeit hatte es so schwer gemacht, Herr der Lage zu werden. Noch dazu war der Wald weitläufig und das unebene Gelände erschwerte ihre Bemühungen zusätzlich. Und sie waren nur zu zweit gewesen, denn Colin konnte ihnen nur helfen, indem er Anna trug.
Hier hingegen waren die enge Zelle, sowie das Gemisch aus der Anlage die Hauptprobleme. Dennoch zögerte Jace nicht. Auch er war nicht immun – selbst wenn es bei ihm länger dauerte, bis die Wirkung einsetzte, diese nicht ganz so heftig ausfiel und nicht so lange anhielt, wie bei anderen. Er würde sich beeilen müssen, und er würde dabei nicht viel Handlungsspielraum haben.
Kurzentschlossen trat er ein und der Wolf ließ augenblicklich von seinem Bein ab, fletschte die Zähne und ging in Angriffsstellung. Jace ließ ihn nicht aus den Augen, ignorierte Josis Proteste und machte einen weiteren, berechnenden Schritt auf ihn zu. Da machte der Wolf einen Satz nach vorn. Jace wich geschickt zur Seite aus, die Kette tat ihr übriges und riss Tobias zurück, sodass er auf dem Bauch landete.
Darauf hatte Jace gehofft. Er nutzte den Moment und sprang auf Tobias' Rücken, umfasste mit einem Arm seinen Hals und fixierte mit dem anderen Arm seinen Kopf. Dann drückte er zu und schnürte ihm die Luft ab.
Tobias richtete sich auf und versuchte tobend Jace abzuwerfen. Wütend warf er sie gegen die Wand und Jace hatte Mühe, sich auf ihm zu halten. Sein Bein wurde eingeklemmt, seine Muskeln zitterten vor Anstrengung, doch er hielt Tobias weiter fest umklammert. Auch der Druck seiner Arme ließ nicht nach, als der Wolf verzweifelt versuchte seinen Kopf zu befreien. Jace musste nur aufpassen, nicht zu viel Druck auszuüben. Sonst könnte er ihm das Genick brechen, oder ihm den Kehlkopf zerquetschen. Und das würde er sich nie verzeihen.
Als Tobias bemerkte, dass er ihn nicht abschütteln konnte, warf er sich auf den Boden, drehte sich auf den Rücken und begann sich zu wälzen. Sein ganzes Gewicht lag auf Jace, der noch dazu im Eisenhutgemisch lag, und presste ihm die Luft aus den Lungen. Obendrein ließ das Wasser seine Wunde brennen wie Feuer.
Der Wolf reckte den Kopf, versuchte erneut Jace' Griff zu lockern und nach ihm zu schnappen, doch dieser gab immer noch nicht nach. Stattdessen verlagerte er die Umklammerung von Tobias' Mitte auf dessen Leiste, sodass er die Hinterbeine nicht mehr bewegen konnte.
Nun wurde der Wolf panisch. Erneut wälzte er sich auf dem Boden und Jace spürte, wie seine ohnehin schon geschundene Haut nachgab und die Wunden sofort von der Mixtur getränkt wurden. Sein Rücken brannte höllisch. Er spürte den Eisenhut in seiner Blutbahn und wusste, dass dessen Wirkung nur noch eine Frage der Zeit wäre.
Tobias versuchte verzweifelt sich wieder umzudrehen, doch ohne Hinterbeine gelang es ihm nicht. Jace erlaubte es nicht und hielt ihn eisern an Ort und Stelle. Hier ging es um das Leben eines Freundes. Und er würde nicht noch einen Freund verlieren!
Schließlich wurden Tobias' Bewegungen schwächer, bis seine Muskeln endlich erschlafften und er das Bewusstsein verlor. Jace wartete noch einige Sekunden, dann ließ er ihn los, streckte alle viere von sich und atmete erleichtert durch.
„Bist du wahnsinnig?", fauchte Josi und er hörte es patschen, als sie die Zelle betraten. Zu zweit hoben sie Tobias von ihm runter und trugen ihn hinaus.
„Bringt ihn nach nebenan und versorgt sein Bein. Mike, die Anlage.", befahl Jace, immer noch im Wasser liegend. Er war sowieso pitschnass.
„Das war eine reife Leistung, mein Freund!" Caleb lachte und reichte ihm eine Hand.
„Eine reife Leistung? Spinnt ihr eigentlich beide? Jace ist nicht unverwundbar! Und wir hätten ihm nicht einmal helfen können!" Josi hatte sich vor dem Eingang aufgebaut, die Hände in die Hüften gestemmt, und sah sie wütend an.
„Könntest du mir helfen?", wandte sich Mike an Caleb und zeigte auf ein verbogenes Stück Rohr. Jace ließ sie arbeiten und verließ die Feuchtkammer. Inzwischen schmerzte ihn jeder Schritt.
„Wie geht es ihm?", erkundigte er sich bei Alec. Tobias lag auf der trockenen Pritsche der Nachbarzelle. Alec verband sein Bein so gut es ging, doch der Verband sog sich sofort mit Blut voll.
„Er atmet regelmäßig, aber Karin muss sich das unbedingt ansehen. Die Wunden sind tief. Ich denke das muss schnellstmöglich genäht werden."
„Kannst du dich darum kümmern?" Jace bezweifelte, dass Mike später noch dazu in der Lage wäre. Doch Alec nickte bereits.
„Wenn wir ihn nicht sichern, wird er sich wieder aufbeißen.", gab Josi zu bedenken.
„Wir nehmen einen Maulkorb." Die beiden sahen ihn ungläubig an. Ein Maulkorb war sinnlos, sobald der Betroffene seine menschliche Gestalt annahm. Dann fiel er nämlich einfach ab.
„Seht ihn euch an. Er kann sich nicht verwandeln, nicht in seinem Zustand! Befestige die Schelle um das andere Hinterbein und leg ihm einen Maulkorb um."
Er beobachtete noch eine Weile, wie sich Alec eifrig um Tobias kümmerte, bis er Josis Hand an seinem Arm spürte: „Du solltest dringend duschen und deine Wunden versorgen lassen Jace. Du siehst gar nicht gut aus."
„Dafür bist du umso hübscher." Caleb trat aus der Feuchtkammer und grinste bis über beide Ohren. „Du glitzerst sogar!"
„Die Anlage ist aus!" Mike fuchtelte lachend mit irgendeinem Werkzeug herum. „Und repariert. Das bringe ich meinem Jungen auch bei. Ich bekomme nämlich einen Jungen, wisst ihr? Wo kommen die bunten Lichter her?"
„Oh weh." Josi sah Jace hilfesuchend an, bevor sie von Caleb in eine Umarmung gezogen wurde.
„Wie eine kleine Glitzerfee.", murmelte er glücklich und presste seinen durchnässten Körper gegen ihren.
„Lass los, oder du siehst gleich auch noch Sterne!", fauchte sie, doch Caleb lachte bloß und rieb sein Gesicht an ihrem Nacken.
„Meine Sternenfee. Willst du mit mir duschen?"
„Ich helfe Mike nach oben und erkläre Emmely, was mit ihm los ist." Alec schloss die Zellentür hinter sich und sah Josi an. „Aber ich werde nicht mit Caleb duschen gehen. Der ist jetzt dein Problem."
„Denkst du, ja?" Ihre Augen glitzerten tatsächlich gefährlich und verhießen nichts Gutes.
„Brauchst du auch Hilfe?", wandte sich sein Beta an ihn und Jace schüttelte den Kopf. Er spürte, wie das Gemisch durch seine Blutbahn rauschte. Denn das war es: Ein einziger Rausch. Selbst sein Körper spürte keinen Schmerz mehr. Er würde den Weg nach oben und unter die Dusche schon allein schaffen.
Die Einzige die Hilfe bräuchte wäre Kathlyn, sollte sie ihm jetzt über den Weg laufen.
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