41. 𝔎𝔞𝔭𝔦𝔱𝔢𝔩

*Kathlyn*

Nach dem Ritual hatten wir noch zusammen an einem der Lagerfeuer auf der Lichtung gesessen. Einige brieten Würstchen oder Stockbrot über den Flammen, andere bedienten sich am Buffet. Es wurde geredet, gegessen und gelacht. Ich war ganz dankbar dafür gewesen, dass sich die bedrückende Stimmung aufgelockert hatte. Zumindest bei fast allen.

Jace war den ganzen Abend über still und abwesend, als wäre er in seinen Gedanken gefangen. Er ignorierte sämtliche Versuche, ihn in ein Gespräch zu verwickeln und irgendwann gaben wir es auf.

Ich verstand ihn irgendwie. In den letzten drei Tagen war so viel passiert, dass ich es selbst kaum fassen konnte: Erst musste ich erfahren, dass sich Jace seit Jahren in mein Leben einmischte. Dann wurde Leo vor meinen Augen ermordet. Ich wurde entführt, erpresst und erhielt den Auftrag Jace zu töten. Nicht von irgendjemanden, nein, von seinem Onkel höchstpersönlich. Einem Alpha, der dabei war das größte Rudel aller Zeiten aufzubauen und der Menschen abgrundtief hasste. Und dann diese Information über die Beziehung zwischen Ilargia und Iluna, die zerbrochen war.

So viele Informationen. So viele Rätsel. So viele offenen Fragen, die mir niemand beantworten wollte. Mal ganz abgesehen von all den anderen Sachen, die noch passiert waren. Alles war kompliziert genug, doch natürlich musste ich es noch komplizierter machen:

Ich hatte in seinen Armen geschlafen. Mehrfach.

Ich hatte ihn geküsst, ohne auch nur eine Sekunde lang darüber nachzudenken. Ich war bereit meinen Teil der Abmachung zu erfüllen, ohne mich zu vergewissern ob ich tatsächlich verloren hatte. Das wäre mir vor einer Woche niemals passiert!

Mein Blick glitt zu seiner leeren Betthälfte. Er war nicht mit nach oben gekommen und ich war froh darüber. Ich brauchte unbedingt Abstand zu ihm! Nur so konnte ich wieder einen klaren Kopf bekommen. Nur so konnte ich planen, wie es weiter ging.

Ich hatte Beth einen Brief an meine Eltern zugesteckt. Ich hatte gehofft, dass sie und Martin kämen und war vorbereitet gewesen. Jace hatte nichts mitbekommen. Hätte er diesen Brief gelesen, hätte er einige Antworten von mir verlangt.

Ich hatte geschrieben, dass es mir gut ging. Dass ich alles hatte, was ich brauchte. Und dass ich wollte, dass sie so schnell wie möglich die Stadt verließen.

Natürlich konnte ich ihnen schlecht die Gründe dafür schreiben. Und ob ich sie ihnen in naher Zukunft persönlich erklären konnte, wusste ich nicht. Genauso wenig wie ich wusste, ob sie auf mich hören würden. Ich hoffte es, denn einen Plan B hatte ich nicht. Ich hatte mich einfach zu sehr auf die Wette konzentriert, naiv wie ich war.

Verdrossen drehte ich mich auf die Seite und schaltete die Nachttischlampe aus. Die Versuchung sie anzulassen war groß. Doch ich wollte nicht, dass sich Jace wieder etwas darauf einbildete.

Eine ganze Zeit lang drehte ich mich ruhelos hin- und her und versuchte einzuschlafen. Wieso war das nur plötzlich so ein Problem? Weil ich allein war? Weil ich mein Gedankenkarussell ohne ihn nicht ausstellen konnte? Weil er mich nicht in seinem Arm hielt?

Seit wann hatte dieser Mann so eine Macht über mich? Das war nicht nur beunruhigend und gefährlich, das war auch äußerst dumm. Jace und ich waren keine Freunde. Ich kannte ihn nicht einmal. Also ja, ich wusste inzwischen mit ihm umzugehen. Aber von seiner Vergangenheit, von seinem Leben, hatte ich keine Ahnung. Und er hatte auch kein Interesse daran, dass ich ihn näher kennenlernte. Wieso also vertraute ich ihm? Weil mir seine Nähe das Gefühl von Sicherheit, von Geborgenheit gab? Weil er mich faszinierte?

Ein komisches Wort, in Verbindung mit diesem Werwolf. Doch genau so war es: Er faszinierte mich. Sein autoritäres Auftreten, wie er das Rudel leitete, wie selbstsicher er war. Seine ganze Art. Dass er genau wusste, was er wollte. Dass er in allen Situationen ruhig und gefasst blieb. Sogar seine herrische, selbst seine verschlossene Seite. Alles was mich an diesem Mann stören sollte, was ihn so gefährlich machte, gefiel mir an ihm.

Genau hier lag das Problem.

Mein Körper begann schon auf ihn zu reagieren – nach nicht einmal zwei Wochen. Wenn ich noch mehr Zeit mit ihm verbrachte, ihm noch näherkam, würde auch mein Herz beginnen ihm zu verfallen.

Ich brauchte dringend Abstand.

Wie auch immer ich das anstellen sollte, wenn ich nicht einmal mehr ohne ihn einschlafen konnte.

„Du siehst aus, als hättest du schlecht geschlafen.", stellte Josi fest. Ich sah von meinem Frühstücksteller auf, auf dem ich herumgestochert hatte, und zuckte die Schultern. Jace war die ganze Nacht über weggeblieben und auch heute hatte ich ihn noch nicht gesehen. Langsam machte ich mir Sorgen. Es war lächerlich. Ich war lächerlich.

„Gut, dann rede eben nicht darüber." Sie setzte sich zu mir und Emmely, die mich bisher zum Glück in Ruhe gelassen hatte.

„Wann werdet ihr gehen?", fragte sie nun. Wahrscheinlich war sie froh, endlich jemanden zum Reden zu haben.

„Ich weiß es nicht. Caleb wollte abwarten, was die Ratssitzung ergibt. Doch selbst wenn wir noch ein paar Tage bleiben, wird er darauf bestehen, dass ich zu ihm ins Gästezimmer ziehe." Sie seufzte theatralisch auf. „Ich werde die Ruhe und Einsamkeit meines Zimmers vermissen!"

„Sind sie schon in der Stadt?", wollte ich halbherzig wissen. Josi nickte und ich unterdrückte einen Anflug von Verärgerung. Er hätte ja wenigstens Bescheid sagen können! Der Hunger war mir jedenfalls vollends vergangen. Missgelaunt schob ich meinen Stuhl zurück und stand auf. Ich würde mir jetzt eine Tasse Kaffee mit nach oben nehmen und alleine vor mich hin grübeln.

Es tat mir schon ein wenig leid, Brian mit der ganzen Arbeit allein zu lassen. Aber offiziell war das nicht mein Aufgabenbereich. Abgesehen davon versuchte auch er herauszufinden, wie ich die Wette gewonnen hatte. Alle aus dem Rudel wollten das wissen. Doch für seine Fragen hatte ich gerade absolut keine Nerven, wo ich selbst Antworten brauchte.

„Bis nachher.", verabschiedete ich mich von den beiden und wandte mich den Thermoskannen zu. Zu spät bemerkte ich, dass dort bereits jemand stand.

„Oh nein, diesmal nicht!", zischte Cindy und sprang beiseite, als hätte ich vor sie zu verbrühen. Schön, so weit hergeholt war das nicht.

Ich ignorierte sie demonstrativ und schenkte mir Kaffee ein. Sie ließ mich dabei nicht aus den Augen. Ich hatte mich nach meinem Fluchtversuch nie bei ihr entschuldigt.

„Ich weiß, was alle denken.", raunte sie mir nun zu und vergewisserte sich, dass die Aufmerksamkeit von Josi und Emmely nicht auf uns lag. „Doch so hilflos wie alle glauben bist du nicht. Vielleicht kannst du Jace und die anderen um den Finger wickeln, aber nicht mich!"

„Was willst du Cindy?", fragte ich frei heraus und begegnete ihrem Blick unbeeindruckt. Sie machte mir keine Angst. Schon gar nicht jetzt.

„Das du endlich verschwindest! Du bringst hier alles durcheinander!"

„Und wie soll ich das anstellen? Soll ich mich in Luft auflösen?" Einen Moment lang lieferten wir uns ein Blickduell, bis wir durch Josis schneidende Stimme unterbrochen wurden.

„Gibt es ein Problem, Cindy?"

„Ich sagte Kathlyn gerade nur, wie sehr ich dich vermissen werde. Wann geht ihr nochmal?"

„Noch bin ich hier." Jeder konnte die unterschwellige Warnung in ihren Worten erkennen. Cindy warf mir einen letzten, abfälligen Blick zu, bevor sie den Raum hoch erhobenen Hauptes verließ. Sie konnte mich wirklich nicht ausstehen, aber das beruhte auf Gegenseitigkeit.

Ich versicherte Josi und Emmely, dass alles in Ordnung war und machte mich auf den Weg nach oben. Wenn ich ehrlich war, hatte Cindy Recht und wir beide verfolgten dasselbe Ziel. Trotzdem war sie die Letzte, die ich um Hilfe bitten würde.

Gerade wollte ich die Tür zur Suite öffnen, als mir ein Zettel auffiel, der halb unter der Tür steckte. Vorsichtig hob ich ihn auf und achtete darauf, dass ich meinen Kaffee nicht verschüttete.

Die Mühe hätte ich mir jedoch sparen können, denn sobald ich ihn auseinanderfaltete und las, schwappte der halbe Kaffee auf den Boden.

„3 Tage, Mädchen", stand dort, in blutigem Rot. Nur diese drei Wörter. Doch es war eine eindeutige Botschaft: Ich hatte noch drei Tage, um mich zu entscheiden. Drei Tage, um Jace zu töten.

Alle meine Vorsätze und Pläne hatten sich in Rauch aufgelöst. Ich war so aufgewühlt, dass ich nur ruhelos durch die Suite lief. Am liebsten hätte ich diesen Zettel jemanden gezeigt.

Josi fiel mir natürlich ein. Doch sie würde es mit großer Sicherheit Jace erzählen und dann käme ich in Erklärungsnot. Und selbst wenn nicht, so würde sie das Rudel bald verlassen und ich wäre sowieso wieder auf mich gestellt. Und Emmely wollte ich nicht damit belasten. Nicht in ihrem Zustand. Abgesehen davon würde auch sie Jace davon erzählen.

Ich wollte nicht, dass er es erfuhr. Noch nicht. Nicht jetzt, nachdem er gestern erst zwei Rudelmitglieder beerdigen musste und wo es ihm offensichtlich nicht gut ging. Und ich hatte Angst, dass Claus' Spitzel davon erfahren könnte.

Claus hatte mir deutlich gesagt, dass ich weder die Erste, noch die Letzte war, die ein Angebot von ihm erhielt. Es würde mich auch nicht wundern, wenn er mehrere Rudelmitglieder in der Hand hatte. Anders konnte ich mir nämlich nicht erklären, weshalb jemand für diesen Mann arbeiten sollte. (Mit Ausnahme von Sadisten wie Nero natürlich.)

Allerdings war er handlungstechnisch gerade sehr eingeschränkt: An meine Eltern kam er nicht so einfach heran, da Beth und Martin ein Auge auf sie hatten. Und auch Ilargia war, mit zwei Alphas und damit auch zwei Rudeln vor Ort, sicher vor einem Angriff.

Was also würde er tun, wenn ich mich weigerte? Würde einer seiner Handlanger die Sache in die Hand nehmen? Würde er Jace hinterrücks erstechen, wie sie es mit Leo getan hatten?

Beunruhigt holte ich den Dolch aus seinem Versteck hervor. Zum zweiten Mal wickelte ich das grüne Samttuch ab, und zum ersten Mal zog ich den Dolch aus seiner schwarzen Scheide.

Die zweischneidige Klinge glänzte unschuldig und silbern. Licht tänzelte über die feinen, geschwungenen Linien, die darauf eingraviert waren, und reflektierte an der Decke. Er war hübsch anzusehen und wog einiges in der Hand. Claus hatte gesagt, dieser Dolch wäre eine besondere Waffe. Er bestünde aus purem, reinstem Silber. Er wollte ihn sogar zurück.

Hätte er ausgerechnet mir so eine Waffe gegeben, wenn er geglaubt hätte, man könne Jace auch mit einem ‚normalen' Silbermesser töten? Oder wollte er nur sichergehen, dass ich nicht versagte?

Noch während ich darüber nachdachte, hörte ich draußen Stimmen. Eilig packte ich die Waffe zurück an ihren Platz und ging der Ursache für den Aufruhr auf den Grund.

Als ich die Tür öffnete wurden die Rufe lauter, doch ich verstand nichts. Einige Rudelmitglieder rannten eilig die Treppe hinunter. So hatte ich sie bisher nur erlebt, wenn etwas passiert war. Alarmiert folgte ich ihnen.

Ich kam bis zur Mitte der letzten Treppe, da öffnete sich die Tür zur Festung und Jace trat ein. Er trug eine bewusstlose junge Frau im Arm.

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Könnt ihr Kathes Gedanken nachvollziehen?

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