4. 𝔎𝔞𝔭𝔦𝔱𝔢𝔩

Aus dem Lehrbuch für Mystische Geschöpfe

*Jace*

Ohne nachzudenken rannte er weiter, in seinem innersten brodelte es. Angst und Wut wechselten sich gleichermaßen ab, und dann sah er sie: Kathe lag auf dem Boden, den Blutsauger über sich.

Er kam zu spät. Wütend und verzweifelt brüllte er auf und lenkte so die Aufmerksamkeit des Vampires auf sich. Dieser legte den Kopf schief und betrachtete den sich nähernden Jace, als wäre er der Nachtisch.

„Was tust du da?", fragte Josi panisch. Es war abgemacht, dass sie nicht allein gegen den Vampir kämpfen würden. Je fortgeschrittener die Mutation war, desto gefährlicher und stärker wäre er. Doch Jace ignorierte sie und rannte weiter auf das Ungeheuer zu, das ihn nun ekelhaft angrinste.

Erneut gab Jace eine bedrohliche Mischung aus brüllen und knurren von sich, ehe er sich auf ihn stürzen wollte. Der Vampir schien das zu ahnen, denn plötzlich sprang er etliche Meter in die Luft. Jace, der nicht mehr reagieren konnte, sprang über Kathe hinweg und donnerte gegen eine Hauswand. Ein Loch im Putz war die Folge, doch das beachtete er nicht weiter und drehte sich blitzschnell wieder dem Vampir zu. Der war ein ganzes Stück weiter hinten gelandet, grinste erneut und schien zu überlegen, ob er den Kampf gewinnen könnte. Da kamen die anderen aus dem Rudel dazu und versperrten ihm sämtliche Fluchtwege. Er saß in der Falle.

„Er gehört mir!", befahl Jace, die Hände zu Fäusten geballt. Blut rauschte in seinen Ohren, Adrenalin pumpte durch seine Venen, Wut durchströmte seinen ganzen Körper. Er würde erst Ruhe geben, wenn er diesem Parasiten das Herz eigenhändig herausgerissen hätte.

„Warte!" Josi sprang vom Dach in die Gasse und lief auf ihn zu. „Hörst du das nicht?"

Sie kniete sich neben Kathe und er zwang sich, ebenfalls hinzusehen. Ihr hellblondes Haar lag wie ein Fächer um ihren Kopf. An ihrer Schläfe lief Blut herab. Sie war bleich, ihre Augen waren geschlossen, ihre Lippen leicht geöffnet. Doch ihr Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig.

„Sie lebt!" Josi drehte vorsichtig ihren Kopf hin und her. „Er hat sie nicht gebissen. Sie hat sich nur den Kopf aufgeschlagen."

Jace konnte die beiden nur ungläubig anstarren. Die Wut flachte schlagartig ab und nun konnte auch er hören, dass ihr Herz kräftig schlug. In seiner Rage hatte er das gar nicht mitbekommen.

„Bring sie hier weg!" Der Kampf würde hässlich werden. Der Vampir hatte inzwischen begriffen, dass er umzingelt war. An beiden Enden der Gasse standen je zwei Werwölfe, plus ihn und Josi.

Kathe gab plötzlich ein leises Stöhnen von sich und setzte sich benommen auf. Vorsichtig betastete sie ihren Kopf und blickte verwirrt auf das Blut, das ihre Fingerspitzen bedeckte. Jace warf dem Vampir einen prüfenden Blick zu. Ihr Blutduft musste für ihn unerträglich sein. Das Ungeheuer hielt den Blick starr auf sie gerichtet und bleckte verlangend die Fänge. Im nächsten Moment hetzte er auch schon auf sie zu.

„Achtung Jace!" Josi zog Kathlyn in einer schnellen Bewegung auf die Beine und stieß sie in seine Arme, ehe der Vampir die beiden erreicht hatte. Der gab wütende Zischlaute von sich und versuchte Josi mit seinen rasiermesserscharfen Fingernägeln zu erwischen, doch sie wich ihm mühelos aus. Und nun kamen auch die anderen, um ihr zu helfen.

Da ein Mensch anwesend war konnten sie sich nicht verwandeln, was es ein wenig erschwerte. Doch der Vampir, wenn auch zweifellos ein Fortgeschrittener, war ausgehungert und nicht bei vollen Kräften. Jace hätte ihn zu gern selbst erledigt, doch das wäre das reinste Blutbad geworden und diesmal würde er auf Kathe aufpassen.

Sie regte sich und gab eine Mischung aus wimmern und keuchen von sich. Ihre Augen waren vor Schreck weit geöffnet, während sie versuchte die Situation zu realisieren. Das alles musste ihr vorkommen, wie ein böser Traum.

Er strich ihr vorsichtig eine Haarsträhne aus der Wunde, und sie zuckte zusammen und sah zu ihm auf. Ihre Lippen formten sich zu einem überraschten „Oh", ehe sie bewusstlos in seinen Armen zusammensank. Jace hob sie mühelos hoch und betrachtete sie fasziniert. So nah war er ihr noch nie gewesen. In der Ohnmacht waren alle Ängste weggewischt. Sie wirkte beinahe, als würde sie schlafen. Friedlich und wunderschön.

„Jetzt!", hörte er Alec rufen, was ihn dazu bewog sich wieder dem Kampf zuzuwenden. Der war schon so gut wie vorbei. Sie hatten den Vampir an den Armen gepackt und Josi holte den Holzpflock aus ihrer Tasche. Emotionslos sah er zu, wie der Holzpflock das Herz ihres Feindes durchbohrte und dieser keinen Zuck mehr tat. Sie ließen ihn los und er plumpste leblos zu Boden.

„Das ging schneller als gedacht!" Die Kämpfer klatschten sich erfreut untereinander ab und er lächelte stolz. Das war saubere Arbeit. Das war sein Rudel.

„Habt ihr diese ekelhaften Fingernägel gesehen? Er hätte echt eine Maniküre nötig gehabt.", echauffierte sich Josi und die anderen lachten.

Er betrachtete wieder Kathes hübsches Gesicht. Ihr Duft ließ ihn kaum klar denken. Ihre roten Lippen luden ihn geradezu ein, sie einfach zu kosten. Wie oft hatte er sich das bereits vorgestellt? Wie oft hatten ihn diese Lippen schon abgelenkt? Er wandte den Blick ab, ehe er seinem Verlangen noch nachgab, und musterte stattdessen die Wunde an ihrer Schläfe. Blut tropfte in einem stetigen Rinnsal herab. Die Wunde musste dringend versorgt werden.

Ein lauter Schuss durchbrach die Nacht, Alec schrie auf und wurde herumgerissen. Das Rudel sprang alarmiert auseinander und Jace wandte den Kopf in die Richtung, aus der der Schuss gekommen war.

„Silber!", warnte Alec noch, dann war er nicht mehr zu verstehen. Blut sickerte aus einer Wunde in seinem rechten Arm. Der Rest des Rudels positionierte sich schützend um ihn, während sie angespannt den Schritten lauschten die sich näherten. Der Mann lud nach. Jace konnte ihn sehen und wusste, dass er zum Rat gehörte. Den Lauf der Waffe hatte er inzwischen auf Jace gerichtet. Der Typ hatte Glück, dass er Kathe auf dem Arm hatte, sonst wäre er jetzt tot.

„Nicht!", befahl er Josi und den anderen, bevor sie auf die Idee kamen sich dazwischen zu stellen.

„Wenn du noch einmal auf uns schießt, werden wir dich töten!", drohte Josi wutentbrannt. Die Schritte wurden unsicherer, langsamer.

„Was habt ihr mit dem Mädchen gemacht?"

„Gar nichts." Josi war nach vorn getreten. Sie war diejenige, die in seinem Namen mit dem Rat sprach. Der Mann kannte sie also.

„Ihr lügt!" Der Lauf der Waffe zuckte bedrohlich. „Vielleicht könnt ihr alle anderen täuschen, aber ich bin nicht so leichtgläubig! Ich wusste, dass ihr das Abkommen brechen würdet!"

„Was ist hier los?" Jace hatte die Bürgermeisterin bereits gehört und gewittert, bevor sie panisch angehetzt kam. Er konnte diese Frau nicht ausstehen. Sie blieb neben dem Mann mit der Waffe stehen und betrachtete das Bild, das sich ihr bot. „Was ist passiert?"

„Er hat auf uns geschossen. Und er hat einen von uns verletzt!" Alec war vor Schmerz inzwischen auf die Knie gesunken und Jace hätte ihn zu gern nach Hause gelassen, damit sie die Kugel entfernen konnten. Doch das konnten sie sich gerade nicht leisten.

„Ich hatte Sie gewarnt! Ich wusste, dass diese Bestien irgendetwas planen! Und nun haben sie die Tochter von Lunes angegriffen." Die beiden Menschen betrachteten Kathe, die noch immer reglos in seinen Armen lag.

„Möchten Sie wissen, welche Bestie das Mädchen wirklich angegriffen hat?", schnaubte Josi. Die anderen traten beiseite und gaben so den Blick auf den toten Vampir frei.

„Marius!" Die Bürgermeisterin riss die Augen auf, als ihr die volle Tragweite dieses verhängnisvollen Abends bewusst wurde. „Was haben Sie getan?"

Ja Marius., dachte er grimmig. Was hast du getan?

Das ganze Rudel war in Aufruhr. Nur mit Mühe konnte er sie davon abhalten, in die Stadt zu marschieren und Rache zu nehmen.

Sie hatten Alec zurück zur Wolfshöhle gebracht. Zwei Männer waren nötig gewesen, um ihn zu stützen. Das Silber vergiftete seinen Geist und der Schmerz betäubte seine Muskeln. Er hatte stark halluziniert und war kaum noch bei Bewusstsein. Das war, auch für Silber, sehr ungewöhnlich. Inzwischen hatten sie die Kugel entfernt, Mike würde sie später untersuchen.

Alec lag im Bett, bleich wie nie zuvor und mit tiefen Augenringen gezeichnet. Sein rechter Arm und seine Schulter waren verbunden, er zuckte bei jeder Bewegung zusammen. Das würde eine Weile brauchen.

„Du siehst aus, als würdest du jemanden umbringen wollen.", stellte Alec leise fest und stöhnte bei der nächsten Bewegung schmerzerfüllt auf.

„Da bin ich nicht der Einzige, glaub mir. Das ganze Rudel will Rache."

„Wie geht es der Kleinen?"

„Carola lässt ihre Wunde versorgen. Wenn sie Glück hat, wird sie sich an nichts erinnern."

„Glück? Du rettest sie vor dem Blutsauger, trägst sie auf Händen, und dann soll sie sich nicht daran erinnern? Das nennst du Glück?" Alec schwieg einen vorwurfsvollen Moment lang, doch Jace reagierte nicht. „Und was hast du jetzt vor? Sie haben das Abkommen gebrochen."

„Ich weiß es nicht." Er lehnte sich seufzend ans Fenster. Draußen herrschte tiefste Dunkelheit, es war mitten in der Nacht. „Ich will erst mehr über die Kugel wissen."

„Und was erhoffst du dir davon?" Der Vorsatz lag auf der Hand, das war allen bewusst und machte es nur umso schwieriger.

„Zeit." Das war es, was Jace vor allem brauchte: Zeit, sich etwas zu überlegen.

„Mach es nicht so kompliziert. Du willst keinen Krieg, niemand aus Ilargia wird den wollen. Sie werden also alles tun, was du von ihnen verlangst."

„Und?"

„Und? Du solltest endlich mal an dich denken! Daran, was du brauchst. Fällt dir da wirklich nichts ein?" Alec fixierte ihn wissend und Jace verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust. Er konnte den Blick seines Freundes nicht deuten, aber offenbar war der noch nicht bei klarem Verstand. Was sein Vorschlag dann auch deutlich bestätigte.

Das Gespräch war hitzig verlaufen und schließlich war Jace einfach gegangen. Alec konnte ihm sowieso nicht folgen, was ihm nun ganz gelegen kam. Allerdings verfolgten ihn seine Worte auf Schritt und Tritt. Hin- und hergerissen versuchte er sie abzuschütteln, doch die Idee hatte sich in ihm eingenistet und wenn er ehrlich war, gefiel sie ihm.

Ihre Wahl würde über alles entscheiden: Krieg und Frieden, Leben und Tod.

Schließlich gab er es auf und nahm mit Tobias, der die Grenze inzwischen passiert hatte, Kontakt auf. Er hatte Ilargia eine Botschaft zu überbringen.

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