30. 𝔎𝔞𝔭𝔦𝔱𝔢𝔩
Achtung! In diesem Kapitel kommt Gewalt vor!
Für selina3969
Ich vermisse deine 😍!
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Aus dem Lehrbuch für Mystische Geschöpfe
*Kathlyn*
„Mit einer Silberklinge ist es ein Kinderspiel – wie du selbst gesehen hast. Sie frisst sich buchstäblich durch unser Fleisch.", fuhr er fort, als wäre das alles schon beschlossene Sache. „Ein Stich mitten ins Herz dürfte genügen. Das Hauptproblem wird für dich darin liegen, nicht zu zögern und fest genug zuzustoßen. Deshalb werde ich dir eine besondere Waffe anvertrauen."
Der Mann zog etwas aus seinem schlammverschmierten Mantel und warf es neben mir auf den Boden. Ich konnte grünschimmernden samtenen Stoff erkennen, der um etwas gewickelt war. Zögernd hob ich es auf und wickelte den Stoff ab. In den Händen hielt ich einen Dolch, in einer schwarzen Scheide.
„Der Dolch besteht aus purem, reinstem Silber. Die Klinge ist zweischneidig und äußerst scharf. Mit ihrer Hilfe solltest du keine Schwierigkeiten haben, deinen Auftrag auszuführen."
Angewidert ließ ich den Dolch fallen. „Warum sollte ich das tun?"
„Jace steht zwischen dir und deiner Freiheit. Um sie zurück zu erhalten gibt es nur einen Weg: Der Alpha des Rudels, mit dem der Pakt geschlossen wurde, muss dich freigeben. Natürlich kannst du darauf hoffen, dass Jace irgendwann nachgibt. Davon scheinst du jedoch nicht auszugehen, sonst wärst du wohl kaum hier. Eine andere Möglichkeit wäre ein Alphawechsel. Der neue Alpha hätte das Recht dich freizugeben. Natürlich kannst du darauf hoffen, dass es jemand wagt Jace herauszufordern und ihn auch noch besiegt. Und falls das der Fall wäre, dass derjenige dir so wohlgesonnen ist, dass er dir deinen Wunsch erfüllt. Die Hoffnung stirbt zuletzt, sagt ihr doch so schön. Was sind also ein paar Jahre warten und hoffen?"
Darüber hatte ich bisher nichts gelesen, doch ich glaubte ihm. Er war viel zu selbstsicher, viel zu arrogant, als dass er lügen würde. Wenn das wirklich meine einzigen Möglichkeiten waren, sah es nicht besonders rosig für mich aus.
„Was würde sich durch Jace' Tod für mich ändern? Außer, dass das Rudel mich töten würde?"
„Das Rudel kann dir nichts anhaben, wenn du ihn auf der Alphaetage tötest."
„Und wieso nicht?"
„Hast du dich nie gefragt, weshalb ihr eine ganze Etage bewohnt?" Er betrachtete mich amüsiert. Mir war diese Frage tatsächlich schon im Kopf herumgeschwirrt. Erst recht, seit ich die ‚Wohnungen' von Josi und Emmely gesehen hatte. (Josi bewohnte lediglich ein Schlafzimmer mit angrenzendem Bad, wie in einem Hotel. Emmely und Mike hatten schon ein wenig mehr Luxus: Sie hatten genau drei Zimmer – Schlafzimmer, Kinderzimmer und ein kleines Wohnzimmer – und ein Bad.)
Ich hatte irgendwie angenommen, Jace hätte diesen Platz aufgrund seines Status. Brauchen tat er ihn nämlich eindeutig nicht – die Küche benutzte er ja nicht einmal! Offensichtlich lag ich damit jedoch falsch, dem Gesichtsausdruck meines Gegenübers nach zu urteilen.
„Die Etage wird von einem Bannkreis geschützt. Niemand kann sie betreten, außer der Alpha erlaubt es. Außer, du erlaubst es. Wenn du Jace dort tötest kann niemand eintreten, außer du bittest sie darum. Sie können dir nichts tun."
Ich schnaubte ungläubig auf und wollte ihm gerade an den Kopf werfen, wie absurd diese Geschichte war, als mir Josis Worte wieder in den Sinn kamen: „Ein Bannkreis ist eine geschützte Zone, die mithilfe von Magie gezogen wurde. Die Wolfshöhle hat genau zwei. Eine davon verläuft einige Meilen rund um die Wolfshöhle und verhindert, dass diese von Menschen aufgespürt werden kann. Die andere bietet einen zusätzlichen Schutz für unseren Alpha."
„Nun verstehst du sicher, wie vorteilhaft deine Situation für uns ist. Niemand kommt so leicht an Jace heran wie du.", fuhr der Unbekannte fort, während er mich aufmerksam beobachtete.
„Was ist daran vorteilhaft, auf dieser Etage eingesperrt zu sein – zusammen mit einer Leiche?", fragte ich nun mutiger. Sie brauchten mich, also würden sie mir nichts tun. Hoffte ich.
„Dein Ton!", knurrte Nero, doch der Unbekannte winkte beschwichtigend ab.
„Du wirst nicht lange eingesperrt sein. Zeichne mit Jace' Blut ein Kreuz auf die Außenseite eurer Tür. Ich werde davon erfahren. Ich werde kommen und das Rudel übernehmen und als neuer Alpha werde ich dir deine Freiheit zurückgeben." Sein Blick glitt zu Nero, kurz darauf zeichnete sich ein breites Lächeln auf seinem Gesicht ab. „Ah, er hat unseren Trick durchschaut. Ich wusste, dass wir ihn nicht unterschätzen dürfen. Sie werden bald hier sein."
„Toll, dann könnt ihr euch ja selbst um ihn kümmern.", schlug ich vor und bereute es sofort. Nero packte mich erneut an den Haaren, diesmal riss er meinen Kopf nach hinten. Der Schmerz war so heftig, dass mir Tränen in die Augen schossen. Und zu meinem großen Schreck starrte ich in die Augen von irgendeinem Tier, das genau über mir baumelte. Ich unterdrückte einen Aufschrei.
„Willst du so enden wie diese Hirschkuh? Du bist nur am Leben, weil du uns etwas nutzt. Wenn du dich weigerst, wirst du für uns nutzlos.", zischte Nero leise.
„Du solltest gut nachdenken, bevor du mein Angebot ablehnst. Jeder hat seinen Preis, Mädchen. Bedeutet dir deine Freiheit gar nichts? Oder dein Leben? Wie sieht es mit dem Leben deiner Eltern aus? Oder den Menschen aus Ilargia?", wollte der Unbekannte wissen und Nero ließ mich los.
„Du bist weder die Erste, noch die Letzte, die ein Angebot von mir erhält. Jace wird sterben – mit oder ohne deine Hilfe – und ich werde das Rudel übernehmen. Solltest du mir dabei behilflich sein, werde ich das nicht vergessen. Als neuer Alpha werde ich entscheiden müssen, was mit dir und Ilargia passiert. Du hingegen solltest dich schnell entscheiden, wen du beschützen willst: Die Menschen Ilargias, deine Familie – oder einen Werwolf?"
Fassungslos starrte ich ihn an, während sein kalter Blick ruhig und emotionslos auf mir lag. Ich konnte es nicht fassen, dass ich schon wieder vor diese Wahl gestellt wurde – mit dem feinen Unterschied, dass es diesmal nicht um mein eigenes Leben ging. Ich sollte ein Leben nehmen.
„Nimm den Dolch Kathlyn!", befahl der Unbekannte nun ungeduldig. Wie in Trance griff ich nach dem Samttuch und wickelte es wieder um das Mordinstrument, das mir anvertraut worden war. Ich hasste mich dafür, dass ich so erpressbar war. So schwach.
„Steck ihn in deinen Stiefel.", ergänzte Nero und ich tat, was er verlangte. Der kleine Gegenstand fühlte sich falsch und fehl am Platz an.
„Nachdem ich das Rudel übernommen habe, wirst du ihn mir sofort zurückgeben.", befahl der andere. „Genau wie du mir nun die Karte zurückgeben wirst."
Perplex sah ich auf, doch Nero kam mir zuvor: „Die Karte ist wurde zerstört. Ihr Freund hat sie mit seinem Blut durchtränkt. Sie ist nutzlos."
Mein geschocktes Gesicht schien Bände zu sprechen, denn der Unbekannte lächelte vielsagend. „Ich wollte mir ein eigenes Bild von dir machen, nachdem ich schon so viel von dir gehört habe. Leider gab es nicht viele Möglichkeiten, dich unter Jace' wachsamen Blick zu erwischen. Wir waren auf deine Mithilfe angewiesen. Ich wusste, wenn der Anreiz groß genug wäre, würdest du dir schon etwas einfallen lassen. Betrachte es als eine Art Test. Und du hast mich nicht enttäuscht."
„Die Zeit ist um.", stellte Nero fest und zog mich auf die Beine. Er steckte mir den Knebel wieder in den Mund und fesselte meine Handgelenke mit einem Seil, diesmal vor meinem Körper.
„Das wird nun ein wenig unangenehm, aber wir müssen unser kleines Treffen schließlich rechtfertigen, damit Jace nicht misstrauisch wird. Richte ihm aus, dass er das nächste Mal nicht so viel Glück haben wird. Richte ihm aus, dass ich ihm immer überlegen sein werde. Und denk gut darüber nach Mädchen, was du tun wirst.", riet mir der Unbekannte.
Nero warf das Ende des Seils über einen Ast und zog so fest daran, dass meine Arme mit einem Ruck nach oben gerissen wurden und ich auf den Zehenspitzen balancieren musste, um nicht völlig in der Luft zu hängen. Genau über mir baumelte die Hirschkuh. Sie war mit den Hinterläufen an einem höheren Ast gebunden, ob sie noch lebte konnte ich nicht sagen. Doch wenn der Ast brach, oder das Seil nachgab, würde sie genau auf mir landen.
Nero trat so dicht an mich heran, dass ich mit dem Gesicht seine Brust berührte. Ich konnte durch meine Position aber auch nicht von ihm abrücken. Er streckte sich und tat irgendetwas. Im nächsten Moment spürte ich eine warme, klebrige Flüssigkeit, die mir über den Kopf lief und quiekte auf.
„An deiner Stelle würde ich den Mund geschlossen halten.", grinste er und riss meinen Kopf zurück. Er hatte der Hirschkuh die Halsschlagader durchtrennt. Blut lief mir ins Gesicht, rann mir in den Kragen und bahnte sich einen Weg unter meiner Kleidung entlang. Tränkte meinen Knebel.
„Wir sehen uns wieder, kleines aufmüpfiges Menschenmädchen." Er ließ mich los und ich würgte und versuchte den blutigen Knebel auszuspucken, erfolglos. Versuchte tänzelnd dem Blutstrom auszuweichen, erfolglos. Wischte das Blut aus meinem Gesicht an meinen Armen ab, nur damit es mir im nächsten Moment erneut über das Gesicht lief.
In einem stetigen, nicht enden wollenden Strom floss es auf mich hinab. Über meinen Kopf, in meine Kleidung, auf meine Haut. Warm, dickflüssig, klebrig. Der metallene Geruch hüllte mich ein, lag auf meiner Zunge, biss sich in meiner Nase fest. Ich war bewegungsunfähig, blind und hilflos, während die Hirschkuh auf mir ausblutete.
Verzweifelt schrie ich in den Knebel, versuchte meine Hände zu befreien, rutschte ab und hing als nächstes komplett in der Luft, hin- und her schwingend. Mein Körper schrie auf vor Schmerz, meine Handgelenke brannten und mir rannen Tränen über die Wange. Panisch versuchte ich mich wieder auf meine Zehenspitzen zu stellen, doch es gelang mir nicht.
„Ganz ruhig.", raunte eine Stimme und jemand packte mich und hob mich an. Ich wusste sofort, wer es war. Kurz darauf waren meine Hände frei und der Blutstrom hörte auf, als Jace mich wegtrug. Ich war so erleichtert, dass er da war, dass ich mich automatisch in seinen Pullover krallte und haltlos losschluchzte.
„Oh mein Gott!", sagte eine Stimme, die wie Josi klang. Jace stellte mich vorsichtig ab, doch ich ließ ihn nicht los vor lauter Panik, er könnte mich allein lassen.
„Lass die Augen zu." Behutsam wischte er mir das Blut aus dem Gesicht, bevor er den Knebel löste. „Bist du verletzt?"
Ich schüttelte den Kopf, noch immer schluchzend, und wurde im nächsten Moment an seine muskulöse Brust gepresst, als er mich fest umarmte. Ich vergrub meine Nase in seinem Pullover, atmete seinem würzigen Duft ein, konzentrierte mich auf das stetige Heben und Senken seines Oberkörpers und versuchte alles andere auszublenden.
„Das nenne ich mal eine Botschaft.", stellte Caleb fest. „Verstehst du jetzt, was ich vorhin gemeint habe?"
Obwohl sich Jace spürbar versteifte, antwortete er nicht. Stattdessen drückte er mich noch näher an sich. Blinzelnd öffnete ich die Augen und sah sofort, wie ich seinen Pullover verfärbt hatte. Meine Hände waren rot und blutverschmiert, als hätte man mir die Haut abgezogen. Nun spürte ich es auch überall, roch es, schmeckte es.
Blitzschnell stieß ich Jace von mir, drehte mich zur Seite und übergab mich. Meine Beine gaben nach und ich sank auf den Waldboden, gleichzeitig schluchzend und zitternd.
„Denkst du, wir holen ihn noch ein?", wollte Caleb wissen und Jace schnaubte.
„Nein. Er ist weg." Er strich mir sanft über den Rücken. „Ihr könnt ihm folgen, wenn ihr wollt. Ich werde Kathe zurückbringen."
Vorsichtig grub er seine Hände unter meine Oberschenkel und hob mich hoch. Jetzt konnte ich das ganze Ausmaß sehen. Ich war über und über mit Blut beschmiert, als hätte ich darin gebadet. An einigen Stellen begann es bereits zu trocknen und verfärbte sich braun. Mir wurde schlecht.
„Lehn dich an mich und lass die Augen geschlossen." Jace schien der Anblick nicht so sehr zu schockieren wie mich. Er blieb ruhig und gefasst. Ein Teil seiner Ruhe übertrug sich auch auf mich, während er sich mit mir im Arm in Bewegung setzte. Schweigend liefen wir durch den Wald. Die schaukelnde Bewegung beruhigte mich immer mehr und ich fühlte mich mit einem Mal nur noch erschöpft.
Um diesem Gefühl nicht nachzugeben, öffnete ich meine Augen und sah zu ihm auf. Jace hatte den Kiefer fest aufeinander gepresst. Seine Gesichtszüge waren hart und voller Zorn. Seine blauen Augen tobten förmlich. Doch als er meinen Blick bemerkte, änderte sich seine Mimik augenblicklich. Besorgt sah er zu mir herunter und ich begriff, dass sein Zorn nicht mir galt, sondern sich selbst.
Das schlechte Gewissen bohrte sich wie ein Messer in meine Brust. Zu gern hätte ich ihm gesagt, dass nichts davon seine Schuld war. Dass ich blindlings in eine Falle gelaufen war. Dass das Blut der Hirschkuh nicht das einzige war, das an meinen Händen klebte.
Und das es nicht das Letzte sein würde, wollte ich meine Eltern schützen.
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