21. 𝔎𝔞𝔭𝔦𝔱𝔢𝔩
Aus den Chroniken der Geschichte der Werwölfe, Band 1
*Kathlyn*
„Also, was ist zwischen euch vorgefallen?" Josi ließ mir nicht einmal Zeit, das Buffet genauer zu betrachten. Sie schob sich einen Pinguin in den Mund und sah mich abwartend an.
„Sei nicht so neugierig!", tadelte Emmely halbherzig, aber es war ihr anzusehen, dass sie ebenfalls auf eine Antwort brannte. Ich überlegte kurz, ob ich sie ihnen geben sollte. Andererseits hätten sie vielleicht auch ein paar Antworten für mich.
„Jace hat mich in seinem Arbeitszimmer erwischt.", gab ich schließlich kleinlaut zu. Ich verstand immer noch nicht, weshalb er es überhaupt abschloss. Da gab es rein gar nichts, zumindest auf den ersten Blick. Es war komplett anders, als das Arbeitszimmer meines Vaters.
An der rechten Wandseite stand ein riesiges Bücherregal mit Büchern die aussahen, als würden sie jeden Moment auseinanderfallen. Uralt waren die. Dann der große Tisch in der Mitte, mit zig Stühlen drum herum. Was wollte er damit? Sich jeden Tag woanders hinsetzen? An den Wänden hingen überall Karten, als wäre ich in einer Schiffskajüte gelandet. Und es gab noch einige andere Regale und Schränke, deren Inhalte ich aber leider nicht mehr inspizieren konnte. Nicht zuletzt weil ich die Zeitung auf dem Tisch gesehen hatte, was mich von meinem Vorhaben abgelenkt hatte. Wieso las Jace die Ilargia News?
„Du warst in seinem Arbeitszimmer? Wieso das?" Josi sah mich fassungslos an und Emmely schlug sich eine Hand vor den Mund. Offenbar hatte ich ein größeres Staatsverbrechen begangen, als ich zunächst angenommen hatte. Ich seufzte.
„Ich habe nach einem Telefon gesucht. Oder einem Computer. Nach irgendetwas, was einem eine Verbindung zur Außenwelt erlaubt." Ihre Augen wurden nur umso runder und schockierter. Als hätte ich zugegeben, eine Bombe unter Jace' Schreibtisch deponiert zu haben.
„Ich habe mich von meinen Eltern nicht verabschieden können. Ich wollte ihnen lediglich eine Nachricht zukommen lassen!", keifte ich nun wütend werdend.
„Kathe, solche Geräte funktionieren hier gar nicht." Emmely sagte das, als wäre es das vollkommen Logischste auf der Welt.
„Was? Wieso?"
„Wegen dem Bannkreis."
„Könntest du bitte noch kryptischer sprechen? Ich frage so gerne nach."
Josi lachte herzhaft auf. „Das ist eigentlich gar nicht so kompliziert. Um die Wolfshöhle herum wurde ein Bannkreis gezogen. Das schützt uns vor Jägern."
„Bannkreis? Jäger?", wiederholte ich und zog die Stirn kraus. Nein, das klang wirklich gar nicht kompliziert.
„Ein Bannkreis ist eine geschützte Zone, die mithilfe von Magie gezogen wurde. Die Wolfshöhle hat genau zwei. Eine davon verläuft einige Meilen rund um die Wolfshöhle und verhindert, dass diese von Menschen aufgespürt werden kann."
„Und die andere?" Mir brannten etliche Fragen auf der Zunge. Magie? Gab es Hexen?
Emmely schüttelte nachdrücklich mit dem Kopf, doch Josi winkte ab. „Die andere bietet einen zusätzlichen Schutz für unseren Alpha. Wenn du mehr darüber wissen möchtest, musst du ihn selbst fragen."
„Was meinst du mit Jägern?" Bei diesem Thema verfinsterten sich schlagartig die Gesichter um mich herum.
„Die Jäger, die wir fürchten, sind nicht dieselben die du kennst Kathe. Ich meine keine bewaffneten Menschen, die ab und zu auf der Lauer liegen um einen Werwolf zu erlegen. Von unseren Jägern gibt es genau zwei Sorten: Es gibt die Venandi. Sie sind gnadenlose, eiskalte Killer. Menschen deren einziges Bestreben, deren Lebenssinn darin liegt, jeden einzelnen von uns zu töten. Und es gibt die Rimor. Diese Menschen sind die Schlimmsten. Für sie sind wir Laborratten."
„Na ja, ihr seid auch recht furchteinflößend, mit euren Kräften. Das macht vielen Menschen Angst. Und eure Selbstheilungskräfte sind für die Wissenschaft natürlich interessant.", erwiderte ich vorsichtig.
„Wir sind einfach anders als ihr.", widersprach Josi. „Aber gibt euch das das Recht, uns zu jagen? Uns zu foltern? Gibt es euch das Recht, uns in Käfige zu sperren? Experimente an uns durchzuführen? Uns aufzuschneiden wie Vieh? Weißt du, was eure sogenannten 'Wissenschaftler' schon alles angerichtet haben?"
„Du musst wissen Kathe, dass es diesen Konflikt schon seit Beginn der ersten Werwölfe gibt: Venandi, die versuchen uns auszulöschen und Rimor, die versuchen uns für ihre Zwecke zu missbrauchen. Vor allem unsere Kräfte und deren Einsatzmöglichkeiten sind für sie von großem Interesse. Dadurch ist bereits schon sehr viel Schaden entstanden. Das zieht sich sogar durch eure Geschichtsbücher, nur ist dort von Kreuzzügen, Hexenverfolgung oder Rassenkriegen die Rede. Ein Teil der Wahrheit, unsere Existenz, wurde von euren Regierungen verschleiert.", erklärte Emmely leise.
„Alles, was die Menschen nicht verstehen können, müssen sie beherrschen. Und was sie nicht beherrschen können, müssen sie vernichten – sei es nun buchstäblich, oder aus euren Köpfen. Denn etwas, dass nicht existiert, hat auch keine Rechte." Josi lächelte grimmig.
„Es gab damals ein Abkommen unter den Regierungen.", widersprach Emmely. „Sie haben erkannt, welche Gefahren das Wissen um unsere Existenz mit sich bringt. Dass es immer Krieg geben würde. Sie dachten, wenn wir stattdessen zu einem Mythos werden würden, wäre ein friedliches Zusammenleben möglich. Also wurden wir ins Reich der Mythen und Legenden verbannt."
„Aber die Menschen in Ilargia wissen, dass es euch gibt.", wandte ich ein.
„Es gibt etliche Menschen, die davon wissen – nicht zuletzt unsere Jäger. Sie haben nie aufgegeben, selbst wenn sie uns nicht mehr so offensichtlich jagen können. Und da wir offiziell nur ein Mythos sind, können wir von euren Regierungen auch keine Hilfe mehr erwarten. Es ist allein unser Kampf.", erläuterte Josi.
„Das Abkommen mit Ilargia ist etwas Besonderes. Man hilft und unterstützt sich gegenseitig, respektiert und achtet einander. Eure Stadt beweist, dass ein harmonisches Zusammenleben zwischen Menschen und Wölfen möglich ist. Und dadurch ist sie vielen ein Dorn im Auge.", fuhr Emmely fort.
„Glaubt ihr, dass es in Ilargia Jäger gibt?"
„Ich glaube, dass jetzt Jace deine Aufmerksamkeit will." Josi lächelte verschmitzt und ich folgte ihrem Blick und bemerkte, wie er auf uns zukam. Gleichzeitig gingen freudige Rufe durch das Lager und eine Traube aus Rudelmitgliedern begrüßte zwei Neuankömmlinge. Ein paar Sekunden später konnte ich einen Blick auf sie erhaschen und mir stockte der Atem.
„Hallo Kathlyn.", begrüßte mich Beth. Ich starrte mit offenem Mund zurück. Wie kamen die Arbeitskollegin Schrägstrich Freundin meiner Mutter, und ihr Ehemann, hier her?
„So sprachlos habe ich sie noch nie gesehen.", grinste Martin und fuchtelte mit einer Hand vor meinem Gesicht herum. „Hallo? Jemand zu Hause?"
„Die Ausgangssperre?", war das geistreichste, was mir in diesem Moment einfiel.
„Die macht es uns – der Mondgöttin sei Dank – erst möglich, ungesehen und unauffällig hier her zu kommen!" Beth sah sich sehnsüchtig um und winkte ein paar Rudelmitgliedern zu.
„Aber wieso?" Ich war eindeutig überfordert mit all den neuen Informationen. Wollte ich wirklich noch mehr wissen?
„Weil sie zu uns gehören.", erwiderte Jace und gab den beiden die Hand. Ich hatte offenbar meine Manieren vergessen.
„Was soll das heißen, sie gehören zu euch?"
„Wir sind Werwölfe, Kathlyn." Beth schenkte mir ein zögerndes Lächeln. „Das hier ist unser wahres zu Hause. Unsere Familie."
„Und da ihr nicht so oft hier sein könnt, solltet ihr es genießen."
Ich spürte kaum, wie Jace meine Hand nahm und mich mit sich zog, so geschockt war ich. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich Beth und Martin schon kannte. Eines Tages stand sie plötzlich bei uns in der Küche und trank mit meiner Mutter Kaffee, als ich aus der Schule kam. Dann luden sie uns zum Abendessen ein. So fing alles an. Ich hätte nie gedacht, dass sie ...
„Aber sie wohnen doch in Ilargia!" Ich verstand die Welt nicht mehr.
„Ja und?" Jace hatte mich zurück zur Feuerstelle gebracht und zog mich nun in seine Arme. Ich war so in meine Gedanken vertieft, dass ich das prasseln des Feuers und den Gesang, begleitet von einer Gitarre, nur am Rand mitbekam. Oder wie er uns beide zum Takt der Musik bewegte.
„Wieso?"
Ich hörte ihn entnervt seufzen. Dann beugte er sich plötzlich zu mir und ich spürte seine Lippen an meinem Ohr: „Wollen wir nicht lieber das Mondfest genießen, und du durchlöcherst mich nachher mit deinen Fragen? Oder was muss ich tun, um deine Aufmerksamkeit zu bekommen?"
Sein Mund streifte meine Wange. Ganz leicht zwar, aber sämtliche anderen Gedanken waren mit einem Mal weggeblasen. Schlagartig wurde mir bewusst, dass wir recht eng umschlungen tanzten. Und noch während ich das feststellte, stolperte ich natürlich über meine Beine und trat ihm anschließend auf den Fuß.
Jace tat, als hätte er nichts bemerkt. Er schob mich in seinen Armen über die Lichtung, als wären wir hier die einzigen. Emmely hatte recht gehabt: Er war ein sehr guter Tänzer. Alle anderen Paare machten uns sofort Platz und das war gut so, denn Jace wandte nicht ein einziges Mal den Blick von mir ab. Das war faszinierend und beängstigend zugleich. Was tat ich hier eigentlich?
„Ich bin froh, dass du mitgekommen bist.", gestand er leise.
„Ich auch.", gab ich ebenso leise zurück. „In der Stadt haben sie immer behauptet, ihr hättet zu Vollmond keine Kontrolle über euch und würdet alles und jeden angreifen. Deshalb hätten wir – zu unserer Sicherheit – Ausgangssperre."
„Wenn es dich beruhigt: Der Einzige der dich anknabbern darf bin ich."
„Nein, das beruhigt mich nicht." Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen, zuckte aber gleich darauf zusammen, als es ganz in unserer Nähe laut aufheulte. Jace hatte mich vorgewarnt, dass sich die meisten Wölfe heute verwandeln und in Wolfsgestalt durch den Wald streifen würden, im See badeten und den Mond anheulten. Das gehörte für sie an diesem besonderen Tag einfach dazu und es wurde Zeit, dass ich lernte damit umzugehen. Dass ich die andere, die tierische Seite der Wölfe kennenlernte.
Dennoch war mir nicht wohl dabei. Ich hörte sie durch das Unterholz preschen, sah große Schatten am Rand der Lichtung entlang flitzen, hörte sie miteinander balgen und sich gegenseitig jagen. Aber ich konnte sie nicht sehen. Sie waren zu schnell und der Wald war zu dunkel. Ich hätte keine Ahnung, von wo die Gefahr käme. Und selbst wenn, so könnte ich mich nicht schützen.
„Sie werden dir nichts tun Kathe." Jace zog mich näher an sich und ich fühlte mich tatsächlich sicherer.
„Wirst du dich auch verwandeln?"
„Nein. Ich werde heute nicht mehr von deiner Seite weichen." Sein Blick war mehr als eindringlich, doch ich konnte den Blickkontakt nicht unterbrechen. In meinem Magen zog sich alles zusammen. Ich hatte immer noch keine Ahnung, was dieser Mann eigentlich an mir fand. Geschweige denn wie ich damit umgehen sollte, und ob es mir gefiel oder mir Angst machte. Es war wohl ein Bisschen von beidem.
Eine große Gestalt am Rande meines Blickfeldes erregte meine Aufmerksamkeit. Ein riesiger, majestätischer Werwolf kam zwischen den Bäumen hervor. Es war das erste Mal, dass ich einen zu Gesicht bekam und obwohl mir ein ehrfürchtiger Schauer über den Körper lief, war dieses Tier einfach faszinierend und wunderschön.
Er sah genauso aus, nur wesentlich größer, wie ein normaler Wolf. Ich schätzte ihn ein wenig kleiner, als einen ausgewachsenen Bären. Seine Bewegungen waren anmutig und bedacht, sein Kopf stolz empor gereckt, die Ohren waren nach vorn gerichtet. Das rötliche, lange Fell war vollkommen durchnässt. Wasser tropfte auf den Boden, während er sich gemächlich dem Feuer näherte, das er anvisiert hatte. Der See musste eiskalt gewesen sein, doch der Wolf hatte es nicht eilig. Er lief direkt an uns vorbei, sodass ich das nasse Fell glänzen sehen und sogar riechen konnte. Zu meiner Verwunderung roch es irgendwie blumig.
Und dann blieb er stehen, wandte den Kopf in meine Richtung und sah mich mit seinen haselnussbraunen Augen direkt an. Ich empfand keine Angst. Das Tier machte nicht den Eindruck, als wolle es mich bedrohen. Außerdem kamen mir diese Augen seltsam bekannt vor. Aber woher?
Ich hörte Jace einen Fluch ausstoßen und spürte, wie er mich packte. Im gleichen Moment, in dem er mich hinter sich schob, begann der Wolf sich ausgiebig zu schütteln.
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Eine kleine Anmerkung: Dieses Kapitel soll KEINESFALLS eine Verharmlosung oder ein "ins lächerliche ziehen" von irgendeinem Krieg o.ä. sein! Ich hoffe das ist selbstredend.
Keine Sorge, falls jetzt jemand Kathes Begegnung mit Jace' Erzfeind vermisst. Die wird noch kommen. Momentan liegt der Schwerpunkt der Geschichte jedoch (wie ihr sicher schon gemerkt habt) auf etwas anderem.
PS: Kennt sich jemand von euch zufällig mit Kartenzeichnungen aus? 😟
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