10. 𝔎𝔞𝔭𝔦𝔱𝔢𝔩

Aus dem Lehrbuch für Mystische Geschöpfe

*Kathlyn*

Es fühlte sich an, als würden wir nun schon seit Stunden durch den Wald laufen. Mir war kalt, meine Strümpfe – und sicher auch meine Füße – klebten vor Erde und Dreck, meine Beine schmerzten und ich biss allzu oft die Zähne zusammen, wenn ich auf etwas Spitzes trat. Doch das war immer noch besser, als von ihm über der Schulter getragen zu werden, wie ein Sack Kartoffeln. Das hatte er noch ein ganzes Stück getan, dann hielt ich es nicht mehr aus.

Er und sein Freund mit den braunen Augen, der im Wald zu uns gestoßen war, waren meiner Bitte, laufen zu dürfen, nur widerwillig nachgekommen. Da hatte ich nur noch nicht gewusst wie weit es war.

„Wenn wir den Wald sowieso nicht betreten dürfen, wieso ist euer Lager dann so weit weg?", motzte ich frustriert. Der Wald war ein Labyrinth aus Bäumen. Ich hatte gar keine Ahnung mehr, in welche Richtung wir eigentlich liefen. Den Weg zurück würde ich jedenfalls nicht so einfach finden, wenn überhaupt. Womit sich auch ein weiterer Fluchtplan in Luft aufgelöst hatte. Elender Mist!

„Das ist es gar nicht. Wenn wir rennen würden, wären wir längst da.", gab Braunauge zurück.

„Oh bitte, tut euch keinen Zwang an! Rennt nur!" Sie in die eine Richtung, ich in die andere.

Ein scharfer Schmerz schoss durch meinen Fuß und ich schrie auf. Einbeinig hopste ich weiter, ließ mich schließlich auf den Boden plumpsen und zog meinen Strumpf aus. Ein Dornenzweig hing daran.

„Das ist nur deine schuld!", fauchte ich Alpha Blauauge an. „Ich durfte mir nicht einmal Schuhe anziehen!"

„Du wolltest laufen.", erinnerte er mich ungerührt.

„Natürlich wollte ich das! Denkst du es macht Spaß durchgeschüttelt zu werden, deine Schulter im Bauch zu haben, oder kopfüber zu hängen wie eine Fledermaus?" Von seinen Händen an meinen Beinen ganz zu schweigen. Oder die Aussicht auf seinen Hintern.

„Wenn es weiter nichts ist." Er bückte sich zu mir und ich zuckte zurück, doch das ignorierte er und hob mich vom Boden hoch. Nun trug er mich in seinen Armen. Ihm auf diese Art nahe zu sein war auch nicht besser, aber mein Fuß tat immer noch höllisch weh, also protestierte ich nicht.

Mit einem kurzen, prüfenden Blick auf mich setzte er sich wieder in Bewegung. Kurz darauf rannten sie mit enormer Geschwindigkeit durch den Wald, ohne auch nur ansatzweise außer Atem zu kommen. Diese Ausdauer und Kraft war definitiv nicht menschlich, und sollte ich noch Zweifel gehabt haben, wurden sie nun endgültig ausgeräumt.

„Dafür, dass du angeschossen wurdest, geht es dir erstaunlich gut." Von wegen, er wäre ‚schwer verletzt' worden! Hatte der Rat Tomaten auf den Augen?

Seinem Blick zufolge hatte ich das ein wenig überspitzt geäußert. „Wäre es dir lieber, wenn es anders wäre?"

Ich schwieg lieber, denn das war eindeutig eine Fangfrage. Die Wärme, die sein Körper abstrahlte, begann mich langsam einzulullen –genau wie sein Geruch. Er roch viel zu gut.

„Ich wurde nicht angeschossen.", erklärte er schließlich und nickte zu Braunauge rüber. „Alec hat die Kugel abbekommen."

„Oh." Na gut, dass der Alpha angeschossen wurde, war auch nur eine Vermutung gewesen. Und ich konnte nicht behaupten, dass es mir für Alec (alias Braunauge) leid tat, auch wenn ich nun einen Verband um seine rechte Schulter erahnen konnte. Er machte trotzdem einen ganz fitten Eindruck. Mir tat meine Platzwunde immer noch weh, wenn ich ungünstig dran kam, obwohl sie schon gut verheilte. Aber eine Schusswunde ...

Nein, sie waren ganz und gar nicht menschlich.

Blauauges Mundwinkel zuckte nach oben und zog meinen Blick auf sich. Ich konnte immer noch nicht fassen, was da vorhin passiert war und mir war mulmig bei dem Gedanken, was noch passieren könnte. Sein fordernder Kuss hatte mir Angst gemacht. Doch darüber sollte ich jetzt lieber nicht nachdenken!

Um mich abzulenken betrachtete ich seine blauen Augen, die aufmerksam nach vorn gerichtet waren. Irgendwie erinnerten sie mich an ein eisblaues Meer, über das ein stürmischer Wind peitschte. Gefährlich, geheimnisvoll, entschlossen, unberechenbar, unzähmbar. Und doch, wenn man in das Innere dieses Sturmes vordringen könnte ...

Er bemerkte meinen Blick und erwiderte ihn, sodass ich beschämt beiseite sah. Was dachte ich da eigentlich? Ich sollte lieber an meinem Fluchtplan feilen!

Nach einer Weile wurden wir langsamer und ich hob den Kopf und sah mich um. In der Ferne konnte ich Stimmen hören, Gelächter, aber ich verstand nichts.

„Lass mich bitte runter. Den Rest schaffe ich allein." Ich hatte nicht vor, den anderen in seinen Armen gegenüberzutreten! Auch wenn der Impuls, mich hinter ihm zu verstecken, durchaus vorhanden war. Oder mich allgemein zu verstecken.

Als wir schließlich zwischen den Bäumen hervortraten, stockte mir der Atem. Als die Zwei von der Wolfshöhle gesprochen hatten, hatte ich mir irgendeine Höhle oder sonst etwas Primitives vorgestellt. Das hier war definitiv nichts dergleichen. Es war viel eher ein kleines Schloss, eine Festung.

Das riesige, mehrstöckige Gebäude war nicht sehr hoch – etliche Bäume waren größer – doch es war atemberaubend schön und offenbar schon älter, denn es bestand aus massivem Stein. Ich war wider Willen beeindruckt. So etwas hatte ich ihnen nicht zugetraut. Gleichzeitig war ich erleichtert, denn in Gedanken hatte ich mir schon ausgemalt, auf einem kalten, harten Boden schlafen zu müssen.

Dann wurde ich mir schlagartig der vielen neugierigen Blicke bewusst, die mich ungeniert musterten. Vor der Festung war eine kleine Lichtung, auf der Baumstämme vor einer Feuerstelle als Sitzgelegenheit dienten. Und dort saßen etliche von ihnen.

Hatte sich meine Nervosität bis dato noch in Grenzen gehalten, so stieg sie nun ins unermessliche. Wir starrten uns gegenseitig an. Auf den ersten Blick hätte man sie glatt für Menschen halten können, nur eben außergewöhnlich hübsch und muskulös. (Ähnlich wie die Fitness-Models, von denen Thea immer schwärmte.)

Dafür wurde ich mir meines Aussehens umso bewusster. Nicht nur, dass ich dreckige Schlabberklamotten trug, ich hatte auch noch ein Vogelnest auf dem Kopf und nur einen Strumpf an. Ich sah aus wie eine verwahrloste Landstreicherin, auf der Suche nach dem nächsten Schlafplatz.

Schamesröte stieg mir in die Wangen. Ich fixierte den Boden und wünschte mir verzweifelt, er würde sich auftun.

„Willkommen im Werwolfrudel Iluna.", stand Alpha Blauauge plötzlich neben mir und ich verfluchte ihn still. Hätte er mir vorhin nicht wenigstens 5 Minuten geben können, um mich umzuziehen? Anstatt mich zu küssen zum Beispiel?

„Das ist Kathlyn. Sie gehört ab heute zu uns. Wie ihr wisst, ist sie ein Mensch. Bis sie sich eingelebt hat werdet ihr euch deshalb nicht in ihrer Nähe verwandeln, oder euch in Wolfsgestalt in ihrer Nähe aufhalten.", fuhr er an die anderen gewandt fort. Sofort ertönte unzufriedenes Gemurmel und ich spürte ihre Blicke erneut auf mir. Nicht alle davon waren freundlich.

„Ihr habt unseren Alpha gehört!" Eine der Frauen erhob sich und sah die anderen warnend an, woraufhin es augenblicklich still wurde. „Es ist nur vorübergehend, das werden wir schon schaffen. Und der Wald ist groß genug, meint ihr nicht?"

Als niemand antwortete kam sie auf uns zu. Sie war groß und wahnsinnig hübsch, mit langem hellbraunem Haar und warmen, grün leuchtenden Augen, ähnlich einer saftigen Sommerwiese. Ihr Lächeln war freundlich und aufrichtig und ich erwiderte es zaghaft. Sie wirkte, anders als Blau- und Braunauge, absolut nicht einschüchternd. Oder es war momentan einfach nicht ihre Absicht.

„Hallo Kathlyn, ich bin Josi. Komm, ich führe dich etwas herum und zeige dir alles."

Als Blauauge keinen Einspruch erhob folgte ich ihr. Er blieb bei den anderen, offensichtlich gab es noch Klärungsbedarf und ich war nicht böse darum, nicht dabei sein zu müssen.

Wir betraten die Eingangshalle, die sich in der Mitte des Gebäudes befand. In alle Richtungen gingen Gänge ab und vor uns erstreckte sich eine große, breite Steintreppe, die nach oben führte. Selbst der Boden war aus Stein.

„Keine Sorge, du wirst dich hier schnell zurechtfinden. Eigentlich ist es auch gar nicht kompliziert: In der unteren Etage sind die Küche, der Speisesaal, der Besprechungsraum, der Gemeinschaftsraum und ein paar andere Räume. Und ab der ersten Etage beginnen die Schlafräume."

Josi erzählte munter weiter – wie alt das Gemäuer schon wäre und wie sie es in Schuss hielten –, während wir durch verschiedene Gänge liefen und sie mir den ein oder anderen Raum zeigte. Ich hörte nur mit einem halben Ohr zu und versuchte mir den Hauptweg einzuprägen. Genauer gesagt: Den Weg zum Ausgang.

„Wir sind wie eine große Familie, mit allen Vor- und Nachteilen.", erklärte sie, als wir die Treppe erklommen. „Ab hier beginnen die Schlafräume, sodass man auch seine Privatsphäre hat. Die komplette dritte Etage gehört übrigens euch."

Euch?' Schlagartig blieb ich stehen und starrte geschockt ihren Rücken an. Meinte sie ... mir und ... ihm? ALLEIN?

„Ich würde vorschlagen, dass du dich erst einmal frisch machst. Ich werde mich so lange um etwas Essbares kümmern. Bist du eigentlich Vegetarierin?" Josi bemerkte endlich, dass ich ihr nicht mehr folgte, und drehte sich stirnrunzelnd um. „Alles okay?"

Äh, nein! Wahrscheinlich sah ich aus wie ein verschrecktes Reh, dem man gerade mitgeteilt hatte, dass man es dem Wolf in wenigen Stunden zum Fraß vorwerfen würde. Genau so fühlte ich mich übrigens auch.

„Ich weiß, dein erster Eindruck von uns wird nicht gerade der Beste sein.", meinte sie seufzend und kam die Stufen wieder nach unten. Ihr Blick scannte mich kurz ab und sie verzog missbilligend den Mund. „Ich kann es dir nicht einmal verübeln. Aber ich verspreche dir: Niemand von uns wird dir etwas tun."

Oh, dazu würden sie auch keine Gelegenheit mehr bekommen!

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top