9.
Ich saß seit einer halben Stunde auf dem kalten Boden und lauschte dem leisen Schluchzen, das aus dem Wohnzimmer kam. Cassy war, ohne zu zögern in mein Zimmer gegangen als ich ihr gesagt hatte, dass sie dort auf mich warten soll. Sie schien über das was sie gesehen hatte schockiert zu sein. Aber wer wäre das nicht? Cassy kannte Will seit mehr als fünf Jahren und er war in ihrem Beisein immer der fröhliche, hilfsbereite Vater gewesen. Es muss schrecklich sein von jemandem den man glaubt zu kennen plötzlich eine komplett andere Seite zu sehen. Schon als ich Dad gesehen hatte wusste ich was passiert war. Seine Worte bestätigten meine Vermutung. Er hatte aufgehört zu weinen und redete leise mit Papà. Es lief genauso ab wie jedes Mal. >>...Adam White...er war erst dreizehn... Lungenkrebs...<< hörte ich leise gefolgt von einem Schluchzen. Danach schaltete ich ab. Ich wollte nicht wissen, wie er gewesen war, nicht wissen wie seine Eltern meinen Vater beschimpft hatten, weil ihr Sohn tot war. Nicht wissen ob der Junge Freunde hatte, die ihn vermissen, ob er Pläne gehabt hatte, Träume. Ich wusste nur das Will morgen Abend neue, schwarze Buchstaben auf dem Arm haben würde, wenn er nach Hause kam. Ich wusste es mit derselben Gewissheit, mit der ich sagen konnte, dass Nico morgen mit einem Verband am Arm aus dem Haus gehen würde. Weil er es nicht ertragen konnte Dad so zu sehen. So war es jedes Mal. Stetig kamen neue Initialen in Tinte dazu, stetig feine weiße Narben. Für alles stehend was sie verloren hatten. Mit den Jahren waren es viele geworden. Zu viele, aber es würden immer mehr werden. In solchen Momenten wurde mir immer bewusst, dass meine Eltern gebrochen waren. Egal wie gut sie es verstecken konnten, egal wie viel Gutes die Zukunft noch für sie bereithalten sollte. Vergangenheit konnte man nicht ändern, genauso wenig wie das Schicksal. Sie hatten verschiedene Arten mit dem Schmerz umzugehen, aber letztendlich versuchten sie nur nicht zu vergessen. Ich wischte mir eine Träne von der Wange und hörte wieder zu. >>...Jedes Mal, wenn ich ins Zimmer gekommen bin hat er von seinem Buch aufgeschaut und mich hoffnungsvoll angesehen. Ich konnte ihm nie sagen das er gesund werden würde... << Die leise Stimme wurde wieder zu einem Schluchzen und ich stand vorsichtig auf. Mein Rücken tat weh, aber ich achtete nicht darauf. Ich ging langsam den Gang entlang und die Treppe hinauf. Tränen tropften auf den Boden und legten eine Spur bis zu meinem Zimmer. Cassy saß auf dem Schreibtischstuhl und sprang auf als sie mich sah. Vermutlich platzte sie gerade vor Neugier, aber sie fragte nicht sondern nahm mich in den Arm.
Erst als ich aufhörte zu weinen fragte sie. >>Was ist passiert? << Ihre Stimme war leise, als wollte sie mich nicht aufschrecken. >>Er hat es nicht geschafft jemanden zu retten. << Sie nickte. Ich wischte mir eine letzte Träne von der Wange und ließ mich auf mein Bett fallen. >>Es ist schrecklich ihn so zu sehen. << sagte meine beste Freundin leise. >>Ja, ich weiß, es ist immer schrecklich. << flüsterte ich zurück. Ich wusste nicht mal, warum ich flüsterte. Es kam mir einfach richtig vor.
>>passiert das öfters? << Ich bemerkte in ihrer Stimme, dass sie Angst hatte zu viel gefragt zu haben, aber ich brauchte dringend jemanden zum Reden. >>Ja, manchmal mehr manchmal weniger. Manchmal nur eine Person im Monat und wenn es ganz schlimm kommt gleich fünf an einem Tag. << Ich erwähnte die Kriege nicht, in denen mehr als hundert Halbblute gestorben waren, Dad gab sich für mindestens die Hälfte davon die Schuld. Jedes Mal, wenn ich daran dachte wurde ich unendlich traurig. Darüber das so viel tot waren und darüber das Dad nie aufhören wird sich schuldig zu fühlen. >>Jedes Mal kommt ein Name dazu. << sagte ich in Gedanken. >>Ich habe eigentlich noch nie darüber nachgedacht was die Buchstaben bedeuten. Jetzt verstehe ich es. Es sind die Namen von allen die er nicht retten konnte. << flüsterte Cassy die sich neben mich gelegt hatte. Wir starrten beide an die Decke. Sie war schwarz mit weißen Sternen, eine Himmelskarte. >>Und über die Narben habe ich auch noch nie nachgedacht. Wie konnte ich all die Sachen übersehen? Immer wenn ich dachte, dass ihre Augen zerbrochen aussehen, habe ich gedacht, dass ich es mir nur einbilde. << fuhr Cassy leise fort. Ich sagte nichts darauf. Was hätte ich auch sagen sollen. Cassy wusste, dass sie recht hatte.
Wir lagen lange da und starrten einfach auf die Sterne. >>Es tut mir leid! << Cassy sah verdutzt zu mir. >>Was? << Ich sah wieder hinauf. >>Dass ich dich da mit reingezogen habe. Unsere Welt ist meistens schrecklich. << Cassy setzte sich neben mir auf und starrte mir durchdringend in die Augen. >>Es war richtig, dass du es mir erzählt hast. Merkst du nicht, dass du jemanden brauchst, um mal Luft holen zu können? Mir ist klar, dass dieses Leben manchmal schrecklich ist, aber ich helfe dir liebend gerne damit klarzukommen. Also entschuldige dich nicht dafür nicht alles allein schaffen zu können. Das kann niemand, auch keine Göttin. << Es war erstaunlich wie schnell sie mich wenigstens ein wenig aufheitern konnte. Ich setzte mich ebenfalls auf und stand dann auf. Vermutlich waren meine Augen rot, aber es war mir gerade vollkommen egal. Ich öffnete die Tür und lief hinunter. Cassy folgte mir langsamer. Ich ging zum Wohnzimmer. Meine Eltern lagen auf dem Sofa. Dad lag halb auf Papà und hatte die Augen geschlossen, aber ich merkte, dass er nicht schlief. Cassy blieb hinter mir im Türrahmen stehen als ich zu ihnen ging. Vorsichtig legte ich meine Hand auf Dads blonde Haare und ließ meine Kräfte spielen. Meine Finger begannen zu leuchten und sein Atem wurde ruhiger. Mehr konnte ich nicht für ihn tun. So gerne ich es auch würde. Papà sah traurig zu mir auf. >>Ich habe eine wundervolle Tochter. << sagte er leise, vermutlich mehr zu sich selbst als zu mir. Seine Augen waren trüb und ich drückte ihm einen Kuss auf die Wange. >>Und ich habe wundervolle Eltern. << flüsterte ich ihm zu bevor ich auch ihm die Hand auf den Kopf legte und er einschlief. Hoffentlich bekam er keine Albträume. Ich drehte mich zu Cassy um, die immer noch im Türrahmen stand. >>Sie sehen süß aus. << bemerkte meine beste Freundin. Ich sah nochmal zurück, sie hatte Recht. Wie so oft. Ich schaltete den Lichtschalter aus und folgte Cassy in mein Zimmer. Es war toll jemanden wie sie zu haben. Cassy ließ sich auf meinem Schreibtischstuhl nieder und grinste mich an. Es konnte zwar nicht über den nachdenklichen Ausdruck in ihren Augen hinwegtäuschen, aber ich war ihr dankbar für den Versuch. >>Wir brauchen dringend Ablenkung! << erklärte sie und zog eine der Schreibtischschubladen auf. Sie wühlte darin herum bis sie triumphierend eine DVD-Hülle in die Höhe hielt. >>Nicht dein Ernst? << fragte ich entsetzt. Eigentlich war die Frage überflüssig. Sie meinte es todernst. Diese Annahme bestätigte sich als sie sich meinen Laptop schnappte und den Film einlegte. Sie setzte sich grinsend neben mich und schien sich sichtlich über meine Reaktion zu amüsieren. >>Es wird dich auf andere Gedanken bringen! << erwiderte Cassy bestimmt auf meinen unausgesprochenen Wiederspruch. >>Ja, auf den Gedanken mich von einer verdammten Klippe zu stürzen damit ich mir das nicht antun muss.<< murmelte ich, aber Cassy drückte auf Play und der Vorspann von "Herkules" flimmerte über den Bildschirm. Für Leute, die einen solchen Film entwickeln, sollte Hades eine besondere Strafe einrichten! Aber mit einem hatte Cassy Recht, auf andere Gedanken würde ich damit definitiv kommen.
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