9⚜️ Moving Along





Ein fast - völlig - in - Ordnung - Dienstag; 2018

Charlotte

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Als mein Wecker am nächsten Morgen klingelt, möchte ich ihn am liebsten vor die Wand werfen. Grummelnd vergrabe ich mein Gesicht in den Kissen, denn am heutigen Tage wird das Unvermeidliche eintreffen.

Um eine Konfrontation mit Tommy werde ich nicht herumkommen, denn noch am gestrigen Abend habe ich alle notwendigen Schritte in die Wege geleitet, um unseren gemeinsamen Fall abgeben zu können. Es widerspricht mir zutiefst ihn an den Schleimer und absoluten Arschkriecher der Kanzlei, Maximilian Van Acker, weiterreichen zu müssen aber unter diesen Umständen werde ich sicherlich nicht mehr arbeiten. Nur zu gerne hätte ich den Fall an Andy gegeben, doch er hatte nicht nur im Job alle Hände voll zu tun. So viel las ich zumindest aus seiner blöden Antwort auf meine nächtliche Nachricht. »Alles gut, keine Ahnung woher Lu das hat. Kennst doch die kleine Tratschtante ;)« Alles gut? Am Arsch.

Ganz abgesehen davon, dass sich seit meiner gestrigen Unterhaltung mit Niall ein Gedanke in meinem Hirn tummelt, auf den ich schon viel früher hätte kommen sollen: Ohne diesen beschissenen Job ginge es meiner Familie unter dem Strich wesentlich besser. Diesen Fakt werde ich allerdings erst einmal mit Aiden besprechen und allen voran noch einmal gründlich überdenken. Solch einen riesigen Schritt gehe ich sicherlich nicht aus einer Laune heraus und schon gar nicht nur, weil ein Typ den Sinn einer Affäre nicht verstehen will. Also bitte, so schwer ist das nun wirklich nicht. 

„Mum?" Vorsichtig klopft es, Aiden streckt seinen Kopf durch die Tür und sieht mich fragend an, während ich mich umständlich aufzurichten versuche. „Kann es sein, dass du gestern vergessen hast Toast mitzubringen? Wir haben auch kein Müsli."

Jap. Habe ich. Und wie sich später herausstellte, war es nicht das einzige, was ich vergessen habe. „Ach Mist", murmele ich und falle seufzend erneut in die Kissen. „Soll ich schnell Brötchen holen?" Kurz sehe ich auf meinen Wecker. Ein gemeinsames Frühstück würden wir nicht mehr schaffen, zumindest nicht, wenn er vorher noch zu der kleinen Bäckerei in der Dawning Road, gleich um die Ecke, lief.

„Ne. Aber wenn wir noch einmal ganz, ganz kurz so tun könnten, als wärest du vier, dann lade ich dich auf einen großen Kakao ein."

Verwirrt sieht er mich an, runzelt die Stirn. Mir genügt es. Grinsend ziehe ich ihn ins Bett, bevor er auch nur irgendwie reagieren kann. Früher, immer, wenn er nicht schlafen konnte, dann kam er zu mir ins Bett gekrochen, kuschelte sich an mich und ließ Geschichten von 'ultra coolen' Rittern erzählen. 'Ultra coole' Ritter, wie ich in solchen Nächten einer war und irgendwie vermisste ich diese Momente. „Mama, du bist ultra peinlich", grummelt er, während ich ihn an mich drücke und über seinen Kopf streichle. „Ich weiß. Aber auch so junge, hippe Mums, wie ich, dürfen schwache Tage haben." Dass er etwas grummelt, was klingt, wie 'weder jung, noch hipp' ignoriere ich. Mit meinen 27 Jahren fühle ich mich auf jedem Elternabend, als habe ich mich verlaufen und wäre versehentlich im Altenheim gelandet. Dadurch, dass die Klassenkameraden meines Sohns entweder Sandwich-Kinder oder jüngere Geschwister sind, findet sich kein Elternpaar unter 45 und dieser Fakt nervt mich tierisch. Pseudo-gute Ratschläge und Erziehungstipps gehen mir auf die Nerven. Von den Blicken der Väter ganz zu schweigen.

Aiden ist um einiges selbstständiger, als all die verweichlichten, in Watte gepackten Jeremys und Arthurs. Und darauf bin ich stolz! Auch wenn es keine erzieherische Leistung ist, sondern einfach nur eine notgedrungene Entwicklung.

„Okay, genug gekuschelt, ich habe Hunger", spricht Aiden schließlich und stiehlt sich aus meinem Klammergriff. Einen klitzekleinen Kuss auf den Haaransatz bekomme ich trotzdem. Darüber geredet wird selbstverständlich nicht, das wäre uncool. „Vielleicht hat Tante Luisa recht und du brauchst einen Mann. Dann muss ich nicht mehr herhalten", grinst er frech und läuft aus dem Schlafzimmer, bevor mein Hausschuh ihn am Bein treffen kann. Naja, Hausschuh klingt etwas hart für rutschfeste Kuschelsocken aber gut.

Ich kann nicht glauben, dass Luisa sich mit meinem Kind darüber unterhält. Was fällt ihr bitte ein?

„Wir müssen dringend an deinem Umgangston arbeiten, junger Mann", feixe ich und klaue ein bisschen Sahne von seinem Kakao, als wir wenig später beim »Helgas« in der Dawning Road sitzen. Und an dem deiner Tante gleich mit, denke ich. „Ach was. Ich bin bloß in einer kritischen Phase der Selbstfindung", antwortet Aiden völlig selbstbewusst und sieht mir seelenruhig dabei zu, wie ich beinahe an dem Löffel mit der Sahne ersticke. Prustend und hustend sitze ich da und spucke ihn beinahe an. Er jedoch, nippt einfach am Kakao und stopft sich das belegte Brötchen in den Schulranzen. „Wo hast du das denn her?" bringe ich nach einigen Anläufen des ordentlichen Sprechens schließlich hervor. „Keine Ahnung was ich da eigentlich gesagt habe, Mrs. Bentley hat das im Sachkunde-Unterricht gemurmelt, als Jeffrey sich nicht benehmen wollte." Immerhin ist er ehrlich und bringt mich damit zum Lachen, auch wenn ich immer noch der Überzeugung bin, dass dieser Tag für die Tonne ist, bevor er richtig angefangen.

Auf dem Weg hierher, erreichte mich eine Nachricht mit allerhand Details zu meinem heutigen Date.

»Heute Abend, 8 pm. Dein Date holt dich ab. Dresscode: Klassisch & schick, vorzugsweise dein teures, kleines schwarzes mit dezentem Make Up. Binde dir doch die Haare mal schön zusammen. Und Chic? Benimm' dich dieses Mal, ok?« schrieb Luisa und machte mir damit nicht wirklich Hoffnung. Alleine der Dresscode lässt mich schon die Augen verdrehen. ‚Klassisch und schick'- oder anders gesagt: Konservativ und unbequem. Dieses Mal kann ich bestimmt keine Turnschuhe in die Tasche schmuggeln, falls mir die High Heels auf den Keks gehen, so wie ich es auf Arbeit immer wieder mache.

„Habe ich eigentlich irgendetwas Wichtiges verpasst? Irgendetwas Schulmäßiges, was ich wissen muss?" Eröffne ich nach einiger Zeit der Stille eine neue Konversation und schon anhand von Aidens Blick weiß ich, dass er mir wieder irgendeine Klausur verschwiegen und sie dementsprechend vermutlich richtig schön in den Sand gesetzt hat. „Welche Note?" frage ich deshalb gerade heraus und treffe genau ins Schwarze. „Es war echt nicht meine Schuld!" beginnt er sofort sich zu verteidigen und erzählt mir irgendetwas von Aufgaben, die man abfragte, ohne sie vorher in der Klasse besprochen, geschweige denn erklärt zu haben. Oder anders gesagt: Er versucht mir genau jene Ausreden aufzutischen, die ich damals selbst - erfolglos, wohlgemerkt - bei meinen Großeltern probiert habe anzuwenden.

Alles klar. Ihn zu tadeln, vor allem in der Öffentlichkeit, wird absolut nichts bringen. Also probiere ich die Masche, die auch mir als kleines Kind immer das Herzchen brach: Ich reagierte ruhig und enttäuscht. Und damit gelingt es mir ihn zu brechen. „Tut mir leid, Mum. Ich haue das mit der mündlichen Beteiligung wieder raus, versprochen. Und wenn ich Mathe nicht verstehe, komme ich zu dir, okay?"

Das ist es, denn mehr verlange ich nicht von ihm. Ich möchte nicht, dass er sich Nachmittag um Nachmittag um die Ohren schlägt und paukt, wie ein Weltmeister. Nur möchte ich, dass er nicht faul in der Ecke sitzt, dass er sein Bestes gibt und nicht zu stolz sich Hilfe zu holen, wenn er glaubt, sie zu benötigen. Diesen Fehler begehen schon viel zu viele Menschen, täglich sehe ich es in meinem Beruf. Auch der aktuelle Scheidungsfall hätte nicht auf meinem Schreibtisch landen müssen, wenn sich die Klienten ein bisschen früher bequemt hätten offen miteinander zu reden. Aber mehr, als das mich dieser Gedanke an die Arbeit erinnert, die ich schleunigst aufsuchen sollte, bringt es nicht.

Wie immer fahre ich Aiden zuerst zur Schule, bevor ich mich losmache. An diesem Morgen ringt er sich sogar, trotz seiner neu errungenen Coolness dazu durch, mich mit einer Umarmung zu verabschieden. Sogar einen Kuss darf ich ihm auf ihn den Scheitel drücken, ohne dass er mich als peinliche Trulla abstempelt. Er muss ein mörderisch schlechtes Gewissen haben und ein Teil von mir möchte diesen Zustand schamlos ausnutzen, bevor er abflaut.

Der andere Teil drängt mich an meinen Arbeitsplatz, den ich nichtsdestotrotz lieber gemieden hätte.

Vorsichtig luge ich eine viertel Stunde später aus dem Fahrstuhl und laufe zunächst in den Personalraum, um mir eine Tasse heißen Kaffee zu holen, den ich kurz nachdem das flüssige Gold in meiner weißen Queen-Fan Tasse verschwunden ist, beinahe über Tommi kippe.

„Kannst du mir mal erklären, was das sollte?" schießt er direkt los. Mein Herz setzt einen Moment aus, er steht mir eindeutig zu nahe vor meinem Gesicht und reflexartig trete ich einen Schritt zurück. Erst einmal tief durchatmen, denke ich, bevor mein Hirn in eine Art Dämmerzustand verschwindet, bloß, weil ich sein After Shave ein bisschen zu tief einatme.

„Ich rede mit dir, Charlotte?" spricht er nun mit deutlich mehr Druck in der sonst so anziehenden Stimme. Jetzt klingt er nur noch verzweifelt und bettelnd und ist damit alles, aber nicht mehr sexy. Immerhin ist das hier eine finale Bestätigung, die ich eigentlich gar nicht gebraucht hätte.

„Mein Gott, Tommi. Wie alt bist du denn?" ist das Erste, was meinen Mund verlässt. Es ist deutlich ausbaufähig, bietet mir aber immer eine Grundlage, mit der man arbeiten kann. „Ich habe einfach keine Lust, dass du dich derart in mein Leben einmischst, okay? Und wer meinen Sohn so angeht, ist schon gleich zehn Mal mehr gestorben für mich. Guten Tag."

Und damit lasse ich ihn in der Küche stehen, betend, er lässt mich in Ruhe.

Zu meiner völligen Überraschung, tut er es tatsächlich. Ich habe meinen Frieden und schaffe es ihm weitestgehend aus dem Weg zu gehen. Zumindest bis circa zehn vor sechs.

„Ms. Ashford, Mr. Reilly, kommen Sie doch bitte mal in mein Büro?" ruft Frank einmal quer durch das große Zimmer mit den vielen Schreibtischen und in meinem Hirn herrscht auf einmal eine Dauerschleife: Fuck, Fuck, Fuck, Fuck, Fuck!

Nervös trotte ich hinter Tommy her, meine Hände sind schweißig, dabei weiß ich eigentlich schon, was unser Chef von mir will.

„Sie können sich sicher denken, warum ich Sie kurz vor Feierabend noch einmal sprechen will." - Ob Tommy weiß, dass ich den Fall abgegeben habe? Alleine an seiner Reaktion, dem fassungslosen Blick, der mit einer Spur Enttäuschung und einer Prise Wut gewürzt ist, erkenne ich die Antwort auf meine unausgesprochene Frage: Nein, er weiß es nicht. Bis jetzt.

„Können Sie mir erklären, warum Sie so plötzlich um einen neuen Auftrag bitten, Ms. Ashford? Anhand Ihrer Berichte und Ihrer Unterlagen bin ich eigentlich davon ausgegangen, Sie sind kurz vor Schluss, kurz vor Klärung des Falles?"

Tja, wie sagt man seinem Chef, dass man seinen Angestellten flachgelegt hat und erst ziemlich spät durch den Urwald der Hormone festgestellt hat, dass er ein Vollidiot ist, ohne das einzige Einkommen der Familie zu gefährden?

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