16⚜️ Weird Feelings
Ein experimentierfreudiger Donnerstagabend ; 2018
Charlotte
⚜️
️
„- Was sagst du Chic?"
Das Ganze ist eine absurde Aktion an sich. Alles hieran ist komisch. Ist es dann ein Problem, wenn ich sage, was ich denke?
„Das ist vielleicht nicht die konventionellste Frage aber können wir einen Zwischenstopp einlegen?"
Es dauert keine Sekunde, sie antwortet wie aus der Pistole geschossen. „Also ich habe heute nichts mehr vor, auf geht's."
Bevor wir die Einfahrt entlang laufen halte ich Lorey am Arm zurück, zücke mein Handy und schreibe ihm, ich wäre da. Allerdings plus Begleitung.
Das Haus und auch beinahe die gesamte Nachbarschaft sind dunkel, niemand scheint mehr wach zu sein und so ist es kein Wunder, dass Lorey mich derart verwirrt ansieht.
Im kahl-weißen Vorstadthäuschen sehe ich einen kleinen, nicht sonderlich hellen Lichtkegel hin und herschwenken. Meine Antwort folgt über die Handytaschenlampe.
Man muss es Lorey wirklich hoch anrechnen, dass sie noch nicht schreiend davon gelaufen ist. Stattdessen steht sie hinter mir, die Hände in den Taschen der schwarzen Lederjacke vergraben und wartend was passieren wird. Ich gebe es nicht gerne zu aber das hier ist das erste Date, für das ich Luisa weder steinigen noch eigenhändig erwürgen möchte. Glaube ich. Immerhin soll man ja den Tag nicht vor dem Abend loben. Oder in diesem Fall den Abend vor der Nacht.
„Chic?" flüstert es plötzlich recht leise und ich erschrecke mich. Nicht, weil ich mitten in der Dunkelheit stehe und plötzlich eine tiefe, raue Stimme auftaucht –okay vielleicht auch ein bisschen deshalb. Allen voran bin ich zusammengezuckt, weil ich mich bereits fest darauf eingestellt habe, Lorey erklären zu müssen, weshalb mich dieser riesige, für sie fremde Mann ‚Pookie' nennt.
„He-" Ich kann das Wort nicht zu Ende sprechen, schon fällt er mir um den Hals. Zwei, drei Schritte strauchle ich, schließlich ist er nicht gerade klein und ein klitzekleines bisschen schwerer als ich. „Was ist denn los? Weinst du?" Mir rutscht das Herz in die Hose. In den 15 Jahren, in denen wir uns kennen habe ich ihn genau zwei Mal weinen sehen. Und in beiden Fällen ging es um die Geburt von Kindern. Nicht, dass es für mich ein Problem gewesen wäre, ihn öfter weinen zu sehen. Ich bin einfach nur heillos überfordert. „Andy?" frage ich nochmal leise, lasse ihn keine Sekunde aus meinen Armen, streichle über seinen Rücken und drücke ihm in regelmäßigen Abständen kleine Küsse auf die Schläfe.
Mordpläne schmieden scheint zu meinem neuen Hobby zu werden und wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, dann werde ich darin verdammt gut und Himmel nochmal, es macht höllischen Spaß!
Dummerweise muss ich mir aber leider auch eingestehen, dass Luisa - zumindest dieses Mal - keinen schlechten Geschmack bewiesen hat, denn Lorey ist kein uninteressanter Mensch. Allen voran muss ich ihr wohl am Höchsten anrechnen, dass sie mir nicht schreiend davon gelaufen ist, als mir mein bester Freund mitten in der Nacht weinend um den Hals gefallen ist. Verarbeitet habe ich es noch nicht, realisiert auf keinen Fall. Eine Lösung fällt mir nicht ein und mein Kopf fährt Achterbahn.
Unsagbar gerne wäre ich einfach zusammen mit Andy im Haus verschwunden, hätte heiße Schokolade geschlürft und ihn davon abgehalten aufs Dach zu klettern um unterm Sternenhimmel zu schlafen. Doch das wäre wohl aus mehreren Gründen nicht die beste Idee gewesen. Somit ist es wohl auch kein Wunder, dass er mich einfach weggeschickt hat.
Lorey ließ das Ganze bis dato unkommentiert und irgendwie war ich ihr dankbar dafür. Ein Blick in meine Richtung hatte ihr gereicht, um das Thema zu begraben. Völlig selbstverständlich hakte sie sich bei mir unter und führte mich durch eine ruhige Stadt. Solange bis wir in einer Ecke Londons ankamen, die ich schon ewig nicht mehr besucht hatte.
Das »Sunny Side Up Diner« ist ein Traum für jeden Film -und Serienfreak. Schon beim Betreten der Location fühlte ich mich geborgen und dieses Gefühl ändert sich auch nicht, als ich zwei Stunden später meinen dritten Milchshake vorgesetzt bekomme. Ebenso standhaft blieb leider auch der schreckliche 'You're the one that I want'-Ohrwurm.
„Sag mal, willst du mich mästen?" frage ich lachend und schaue auf die Kalorienbombe in quietschpink. Es ist der zweite seiner Art, denn die schokoladene Ausführung, die Lorey sich genehmigte, sagt mir gar nichts zu. Statt mir zu antworten, nimmt sie genüsslich einen ordentlichen Löffel Sahne in den Mund und grinst mich frech an. Erst, nachdem sie genießerisch die Miene verzogen hat, antwortet sie keck: „Naja, sagen wir's doch mal so: Je fetter du bist, umso schlanker sehe ich aus."
Eigentlich habe ich wirklich große Lust, ihr den Puderzucker meiner Waffel empört ins Gesicht zu pusten, aber irgendetwas hält mich davon ab. Vielleicht sind es meine Manieren, vielleicht die Angst aus diesem heimeligen Diner raus geworfen zu werden und so meinen persönlichen Film verlassen zu müssen, der meinen rasenden Kopf für einige Momente zum Stillstand gebracht hat. Oder vielleicht sind es auch doch nur die Hemmungen und der seltsame Gedanke, in meinem Hinterkopf. Von meinem flauen Gefühl in der Magengegend ganz zu schweigen.
Meine plötzliche Anspannung kann ich ihr gegenüber leider nicht verbergen, so sehr es mich auch ärgert, und so wundert es mich nicht, dass sie mich direkt auf meine geistige Abwesenheit anspricht. Generell erscheint sie mir ein sehr offener und direkter Mensch zu sein, der allerdings nicht aus irgendeiner Böshaftigkeit heraus, immer gerade heraus sagt, was sie denkt. Abgesehen von der Andy-Thematik vielleicht.
Kurz überlege ich, was ich auf ihre Frage antworten soll. Ob es schon Zeit ist, den großen Date-Killer auszuplaudern? Über die Jahre habe ich mehr oder minder schmunzelnd festgestellt, dass es kein besseres Verhütungsmittel gibt, als meinen Sohn. Sobald seine Existenz in Konversationen aufkommt, hat sich alles absolut erledigt. Ich muss mir keine Gedanken um Verhütung machen, da es gar nicht erst soweit kommt. Abgesehen davon wäre das bei Lorey ohnehin überflüssig. Zumindest, wenn man konventionell denkt.
Trotz meiner bestehenden Zweifel, beschließe ich tief durch zu atmen und einfach zu sagen, was mir tatsächlich im Kopf herumgeistert: „Ich habe nur darüber nachgedacht, dass ich vergessen habe meinen Sohn zu fragen, wann wir den Termin bei seinem Klassenlehrer haben."
Gespannt erwarte ich eine Reaktion, welche kann ich nicht einmal wirklich sagen, denn Lorey ist nicht leicht zu durchschauen.
Mit ihrer tatsächlichen Antwort habe ich aber nicht gerechnet. Sie lehnt sich entspannt lächelnd zurück, nimmt einen Schluck ihres Shakes und sagt lässig: „Im Zweifelsfall morgen zwischen 14 und 19 Uhr. Mr. Clarke ist ja nicht unbedingt ein Fan von Überstunden."
Völlig verwirrt sehe ich sie an und man sollte der Meinung sein, mein Blick spräche Bände. Allerdings rührt sich Lorey erst, als ich ein bisschen zu hektisch aus meiner bequemen Position nach vorne schnelle und sie eindringlich ansehe.
„Ich schätze wir sollten den Small Talk auf eine neue Ebene bringen, huh?" „Aber Hallo!" Meine Neugier ist nun nicht mehr zu bremsen, denn ich weiß immer noch nicht, ob ich von Luisas Hintergrundarbeit beeindruckt oder zutiefst genervt sein soll. Diesen blöden Marathon musste sie schon lange, lange geplant haben. Anders lässt sich das doch gar nicht bewerkstelligen. Abgesehen davon finde ich es faszinierend, welche Fäden sie im Hintergrund zieht, welche flüchtigen Kontakte und klitzekleinen Zufälle sie verknüpft. Jedes meiner bisherigen Dates - von dem K.O. Tropfen Flop einmal abgesehen - kannte ich aus irgendeinem Bereich meines Lebens. Mehr oder minder.
„Also, dann fangen wir mal an. Ich heiße Lorey Pitchford. Dies ist mein Mädchenname. Mit 18 habe ich einen hirnrissigen Vollidioten geheiratet, nachdem unser Sohn Lenox drei Tage vor meinem Geburtstag auf die Welt kam. Die ersten sechs Jahre ging das auch gut. Dann hat mein Ex-Mann die Firma seines Vaters übernehmen müssen und zack: Mein Leben wandelte sich in ein Klischee. Seit zwei Jahren leben wir in Scheidung, weil er nicht damit klar kam, dass ich mich genau so auch zu Frauen hingezogen fühle. Nebenbei hatte er eine Geliebte, die er nun geheiratet hat und die nebenbei Lenox völlig verzieht und vermutlich betrügt er dieses dumme Blondchen genau so, wie mich. Aber das wird sie nicht großartig interessieren, denn der Idiot scheffelt ja ordentlich Kohle, um ihr den Arsch zu Pudern." Der Ton, mit dem Lorey mir ihre Lebensgeschichte einfach so präsentiert, hat unglaubliche viele Facetten. Ihre Worte offenbaren mir viel. Die Betonung dieser noch viel mehr und so erfahre ich, dass sie ihren Ex-Mann verabscheut, seine neue Frau bemittleidet und ihren Sohn über alles liebt.
Eigentlich möchte ich gar nicht weiter fragen und doch tue ich es, denn ich denke erst im Nachhinein darüber nach: „Vermisst du Lenox?"
Nachdenklich rührt sie in ihrem mittlerweile schon geschmolzenen Milchshake herum, nimmt sich Zeit für ihre Antwort. „Ich vermisse das Kind, das ich geboren habe. Jetzt, wo er bei seinem Vater aufwächst, erkenne ich ihn kaum wieder." Kurz unterbricht sie sich selber, bevor sie endlich von ihrem Glas wieder aufsieht. „Verstehst du was ich meine?"
Zuerst nicke ich nur. Ihr aber nur eine wortlose Geste zu geben, halte ich für unfair, also lege auch ich alle Karten auf den Tisch: „Nur zu gut. Ich war unheimlich verliebt in Aidens Vater und so war es für mich überhaupt keine Frage. Ich wollte Aiden unbedingt. Alexander war zunächst nicht so ein Fan dieser Idee. Er warf mir Egoismus vor und wir stritten. Zumindest solange, bis er zu einem Ultraschall mitkam und Aidens Herzschlag hörte. Long Story Short: Er gewöhnte sich an den Gedanken und als mein Sohn dann schließlich geboren war, ging das Theater von vorne los. Er fühlte sich vernachlässigt, ließ mich sitzen und heiratet nächsten Monat seine neue Trulla, die ihm - nur so nebenbei - auch schon ein Kind geschenkt hat. Als Aiden einmal sagte, sein Vater sei gestorben für ihn, war ich sowohl unglaublich stolz, als auch unfassbar sauer."
„Und weißt du, was wir jetzt tun, Chic?" „Schnaps trinken?" frage ich direkt und bin unfassbar erleichtert, dass sie lacht. Es ist ein schönes Gefühl ehrlich sein zu können, ohne schräg von der Seite angeschaut zu werden und das schönste an diesem Abend ist: Lorey hat keinen Haken.
„Das auch. Aber ich denke, wir sollten ein Stückchen spazieren gehen. Die Kalorien fressen sich schon in meinen neuen Leggings", feixt sie, bevor sie aufsteht und mir die Hand reicht. „Richtiger Gentleman"- setze ich an und möchte mich am liebsten selbst ohrfeigen, doch sie nimmt es mir nicht übel. Im Gegenteil: „Ich bin immer ein Gentleman, Mylady. Und deshalb werde ich jetzt auch unsere Rechnung begleichen, ob du das willst, oder nicht."
Ich wollte es tatsächlich nicht, aber sie ließ sich nicht davon abhalten. Immerhin war ich einige Minuten später schnell genug, um die kleinen Schnapsflaschen zu zahlen. Dieser Absacker hatten wir uns verdient und auch, wenn ich in der Stimmung gewesen wäre, ein größeres Fläschen in eine Plastiktüte zu wickeln, hielt mich meine Begleitung davon ab.
Stattdessen schlendern wir Wardour Street entlang, weil sie mir unbedingt etwas zeigen möchte. Allen voran umgehen wir so ein wenig, die Feierwütigen, die sich an diesem Abend in einer der zahlreichen Bars der Berwick Street betrinken möchten. Während wir also an zahlreichen Cafés und Waffelhäusern vorbeigehen, fummelt Lorey Kopfhörer aus ihrer Tasche.
„Ich finde jetzt ist Zeit für eine kleine Quickfire-Runde, bevor wir dem jeweils anderen wieder eine tiefgründige Frage stellen." Wirklich Zeit, um über mögliche Fragen nachzudenken, bekomme ich leider nicht und so lässt der erste Fauxpas nicht lange auf sich warten.
Nachdem wir bereits herausgefunden haben, dass wir Mystery-Serien irgendwelchem Kitsch vorziehen, Gossip Girl jedoch zu unseren Guilty-Pleasures zählt und wir Nicholas Sparks-Kram nicht ausstehen können, schaut Lorey mich erwartungsvoll an: „So, jetzt liegt meine ganze Hoffnung auf dieser Frage. Chic, bist du bereit?" Mit großen, hoffnungsvollen Augen sieht sie mich an, hält meine Hände fest in ihren und fragt: „Welcher ist dein absoluter Lieblingssong?"
Erleichtert atme ich auf, denn ich habe mit einer unlösbaren Aufgabe gerechnet. „Puh, eigentlich höre ich vieles gerne. Ich lege mich da nicht fest."
Plötzlich wird ihr Blick ernster und ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. „Okay, Sweetie, letzte Chance: Lieblings-Genre?"
„Eigentlich alles, was so im Radio läuft. Ich bin da echt nicht so schwierig."
„Falsche Antwort." Mit einem Male lässt sie meine Hände los und geht einige, für ihre recht zierliche Größe, verdammt große Schritte nach vorne. „Wie kannst du sowas sagen? Wow, du hast echt Glück, dass du so schön bist. Normalerweise muss ich solche dummen, unwürdigen Menschen nämlich erdolchen, weißt du."
„Du verarschst mich oder?"
Das tut sie nicht. In diesem Moment finde ich heraus, dass es fast nichts gibt, was ihr wichtiger ist. Musik ist ein täglicher Bestandteil ihres Lebens und sie schwört, wäre es möglich, würde sie Sauerstoff gegen Melodien austauschen und schon im nächsten Moment, erkenne ich auch warum, denn wir haben unser Ziel erreicht.
Als sie mich bittet aufzusehen, erkenne ich nicht nur, wo wir uns eigentlich befinden. Ich lerne nebenbei, wie attraktiv Leidenschaft sein kann.
Loreys Augen beginnen zu strahlen, als sie mir davon erzählt, wie viele Musicals sie bereits gesehen hat. Die Geschichte des Queen's Theatre's kann sie mir im Schlaf herunterbeten und anstatt das Plakat des Erfolgsstücks Les Misérables zu bewundern, schaue ich auf ihr seliges Lächeln, die weichen, rosigen Lippen, umrahmt von tiefen Lachfältchen sind eben so schön, wie die sanften Falten um ihre tiefbraunen Augen. Wenn sie ehrlich lächelt, dann mit dem ganzen Gesicht.
„Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel Zeit ich schon in den verschiedensten Theatern dieser Stadt verbracht habe. Momentan spare ich auf eine Woche New York hin. Glaube mir, ein Hotel brauche ich nicht. Ich verbringe die Zeit einfach am Broadway."
Obwohl ich dieser Art von Musik einfach nichts abgewinnen kann, höre ich ihr gerne zu und vor allem lasse ich mir die verschiedensten Auszüge zeigen. Wir teilen uns ihre Kopfhörer, stehen eng aneinander und ich weiß nicht wie lange.
„Das hier ist mein Favorit. Bei keinem Stück habe ich so sehr geweint, wie hier."
Und dann beginnt ein junger Mann zu singen. Seine weiche Stimme nimmt mich sofort ein und ich schließe genießerisch die Augen, während ich ihm aufmerksam lausche, wie er mich in eine völlig fremde Welt entführt: »Have you ever felt like nobody was there? Have you ever felt forgotten in the middle of nowhere? Have you ever felt like you could disappear? Like you could fall, and no one would hear?«
Eine Gänsehaut rieselt plötzlich über meinen Rücken, alles kribbelt und ich möchte Lorey unbedingt mitteilen, dass dies ein Musical ist, welches ich mir unbedingt ansehen möchte.
Doch ich komme nicht dazu, denn noch bevor ich meinen Mund öffnen kann, liegen weiche Lippen auf meinen.
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