6. Vertrauen basiert auf Vertrauen
Playlist:
"Eraser"
- Ed Sheeran
Vertrauen:
"In jemanden oder etwas sein Vertrauen setzen; auf jemanden oder etwas bauen; sicher sein, dass man sich auf jemanden oder etwas verlasen kann."
Touya
Konnte man eine Migräne davon bekommen, zu lange auf ein weißes Blatt Papier zu starren?
Wenn nicht, dann fühlten sich seine imaginären Kopfschmerzen schon ziemlich real an.
Der Kugelschreiber lag kalt und leblos in seiner Hand, die Miene war noch nicht mal ausgefahren. Verzweiflung verwandelte sich in Wut, dann wieder in Verzweiflung und wieder in Wut. Die Zeit auf dem Display seines Handys verspottete ihn. Er saß bereits seit gut einer Stunde vor seinem Schreibtisch und starrte auf das weiße Papier seines eigentlichen Arbeitsblattes.
"Was ist Glück?"
Am liebsten hätte er Aizawa Senseis Zettelchen zu einem festen Ball zusammengeknüllt. Irgendwas, nur das die schwarz gedruckten Buchstaben ihn nicht weiterhin in stiller Kritik verhöhnen würden.
Ihr Philosophie-Thema hatte er über das Blatt gelegt, welches er vor einer Stunde für Ideen und grobe Skizzen vorgesehen hatte. Vermutlich hatte er schon genug erwähnt, dass besagtes Blatt noch immer eine eisige Leere aufwies.
Normalerweise lobte er sich selbst damit, eine kreative und einfallsreiche Person zu sein. Nicht so abgestumpft wie der graue Rest der Welt. In diesem Moment fühlte er sich selbst grau. Grau wie ein alter Greis, dessen Verstand in einer Endlosschleife der selben frustrierenden Gedanken feststeckte und nicht in der Lage dazu war, etwas neues zu produzieren.
Diese Monotonie seiner Gedanken deprimierte ihn nicht nur, es handelte sich um eine wahre Blamage. Er war für heute mit Tomura Shigaraki verabredet. Dem einzigen Jungen an ihrer verhassten Schule, dessen Meinung ihm aus unerklärlichen Gründen noch etwas bedeutete. Vielleicht lag es daran, dass sie beide Projektpartner waren und er sich vor dem Anderen beweisen wollte. Tomura sollte sehen, dass er nicht nur der introvertierte, vernarbte Freak an ihrer Schule war!
Er war mehr als seine Narben!
Mehr als die dumme Witzfigur, über die sich alle lustig machten!
Am liebsten hätte er geschrien. Laut und mit dem all dem angestauten Zorn in seinem Inneren, doch seine Geschwister saßen im Wohnzimmer, nur wenige Wände von ihm getrennt. Da er seine Tür nicht ganz geschlossen, sondern nur angelehnt hatte, konnte er ihr lautes Lachen zu ihm herüberdröhnen hören. Sie spielten irgendein Brettspiel mit einer Glocke, welche immer wieder lautstark klingelte und seine Gedankengänge unterbrach.
Ding, Ding, Ding!
Es war eh nicht so, als könnte er irgendeine seiner Ideen richtig greifen und für seine Arbeit verwenden. Die meisten waren viel zu ... emotional. Er hatte auf die harte Tour gelernt, dass Überleben bedeutete, seine wahren Gefühle zu verstecken und eine Rolle zu spielen, welche den Anderen gefiel. Allen Anderen, nur nicht ihm selbst.
Glück war ein Preis, welchen das Leben ihm verwehrte. Niemand wollte ihn freudig, lächelnd und vollkommen erfüllt sehen. Die Welt schmetterte ihn zu Boden, verbrannte ihn zu einem unbedeutenden Häufchen Staub und ließ ihn leiden. So viele Jahre schon. Alles zum Entertainment dieser namenlosen Menschen, welche sich sonst einen Scheißdreck für ihn und sein Leben interessierten. Er war nicht wichtig, außer wenn er mal wieder die Witzfigur für alle spielte.
Wie zur verdammten Hölle also sollte er sich vor eine gefüllte Schulklasse stellen und darüber philosophieren, was Glück bedeutete?
Wie sollte er es anstellen, Tomura irgendeine passende Antwort zu liefern, ohne dabei vollkommen erbärmlich zu wirken?
Es war zum Haareraufen! Wortwörtlich, wenn er von der verzweifelten Art ausging, mit der sich seine Finger in seiner schwarzen Mähne vergruben und frustriert an den dicken Strähnen zogen.
Erneut fiel sein Blick auf die Uhrzeit. Die Minuten rannten ihm davon, während er selbst an dem selben kalten und trostlosen Ort saß und es nicht weiter schaffte. Ein lautes und genervtes Stöhnen rutschte über seine Lippen und er klatschte die flache Hand auf die Tischfläche.
Das Papier knisterte und knirschte trotzig, während er es zwischen den Fingern zerknüllte. Der unförmige Ball landete in dem Papierkorb zu seinen Füßen und blieb dort liegen.
Er hatte genug! Genug von der Welt und all ihrem Spott und Hass!
Er wollte nur einmal das Gefühl haben, sich nicht vor der gesamten Menschheit bloßstellen zu müssen. Nur ein einziges Mal! Mit nur einer einzigen Person!
Fuck! Was für ein dämlicher, unmöglicher Scheißwunsch!
°
Er war hier definitiv falsch.
Ein schwerer Stein lag in seinem Magen, während er die kerzengeraden Straßen und hübsch angelegten Gässchen passierte. Sein schwarzer Stoffrucksack lag wie ein Kilo Zement auf seinem Rücken und sein Blick lag auf der Adresse in seinem Handy.
Er hatte sich nicht viel dabei gedacht, als Tomura ihm die Straße und Hausnummer geschickt hatte. Ihm war klar gewesen, dass der Junge vermutlich irgendeiner fetten Millionen-Erben-Familie angehörte, immerhin wurde der Kerl am hellichten Tag von seinem Hausbutler in ihrem dicken Tesla herumgefahren.
Es war ihm egal gewesen. ... Naja, vielleicht nicht "egal", doch er hatte sich keine extremen Gedanken darüber gemacht. Dieses Blatt hatte sich schlagartig gewendet, als sein Weg ihn hierher geführt hatte.
Er kam nicht oft in diese Gegend der Stadt. Mit "nicht oft" meinte er dabei so viel wie "nie". Das vergleichsweise kleine Wohnviertel lag eine kurze Autofahrt entfernt vom Zentrum mit all seinen lauten Geschäften und bunten Billboards. Die Anwohner hier wollten ihr Leben in ruhiger Idylle genießen und zahlten dafür vermutlich mehr als den Monatslohn seiner Mutter.
Er musste hervorheben, dass er selbst aus keiner schlechten Gegend kam und in einer geräumigen Wohnung mit großen Zimmern und genug Platz für 5 Personen lebte. Dennoch stand er nun hier. Mit einem alten Stoffrucksack und Ripped Jeans in einem Viertel, in dem selbst die Häuser Anzug und Krawatte zu tragen schienen.
Jedes Gebäude war perfekt symmetrisch zu seinem Nachbarsgrundstück angelegt und von einem schwarzen oder goldenen Zäunchen umrahmt, welches meist in einem gigantischen mit Kameras bewachten Tor mündete. Daneben befand sich entweder eine ebenso riesige Einfahrt mit privater Tiefgarage oder ein hübsch angelegtes Vorgärtchen mit blühender Pfingstrose und zarten Mandelbäumchen. Es gab dutzende Solarpanele auf schimmernden Dächern, langgezogene Steinpools und gläserne Balkone, von denen aus der Sonnenaufgang wie in einem romantischen Kinofilm wirken musste.
Die Farben waren kühl und nüchtern. Ein steriles weiß oder edles schwarz. Da war kein grelles blau oder intensives rot, welches aus der Masse stach und die Seriosität dieses Ortes anzweifeln ließ. Eigentlich gab es alles. Eine monströse Villa und gleich daneben ein modernes Penthouse. Unendlich viele Zimmer mit mindestens doppelt so vielen Fenstern. Prunk und Luxus im Überfluss. Das einzige, das man nicht fand, waren Menschen.
Alles war so kühl und erhaben und doch irgendwie ... leer. Die allseitige Stille machte ihn nur noch mehr darauf aufmerksam, dass er nicht hierher gehörte. Seine Schritten unterbrachen die seriöse Ruhe, welche so allmächtig über allem lag und enttarnten ihn als Eindringling und Betrüger.
Du solltest nicht hier sein, Touya!
Tief atmete er durch und konzentrierte sich darauf, wie die Luft durch seine Lunge strömte. Er musste einfach das Gefühl ignorieren, hier vollkommen unerwünscht zu sein. Sein Blick wanderte flüchtig umher und glitt durch eine der monströsen Glastüren. Sie gab freie Sicht auf ein nobel gestaltetes Wohnzimmer mit dunklem Ledersofa, rundem Holztisch und einer kunstvollen Reihe schwarzweißer Bilder.
Noch in der selben Sekunde drehte er den Kopf weg und ohrfeigte sich innerlich. All diese reichen Krawattenträger standen sicher schon ab dem Moment seiner Ankunft vor ihren Kamerasystemen und überwachten jeden seiner Schritte. In dieser Siedlung auffällig zu werden, war ein direktes Ticket vor den Richterstuhl.
Seine Brust hob und senkte sich schneller als sie es eben noch getan hatte und seine Hände, welche die Träger seines Rucksacks festhielten, wurden warm und schwitzig. Jeder Schritt wurde schwerer, als sich die Hausnummern langsam immer mehr der Adresse in seinem Handy anpassten.
Dann stand er plötzlich davor.
Es sollte keine Überraschung darstellen, immerhin hatte er die Gebäude aus diesem Viertel gesehen, doch meine Fresse war das Haus riesig! Das prunkvolle Steinwerk musste wohl etwas älter sein. Nostalgisch statt Futuristisch. Eher Villa als modernes Penthouse. Die Fassade war in einem klassischen weiß gehalten mit schwarz gerahmten Fenstern und Dach. Über einen gewölbten, weiß gepflasterten Anstieg gelangte man in eine private Tiefgarage, in welcher sich sicherlich der schwarze Tesla befinden musste.
Eine Kamera war in der oberen Ecke des breiten Eingangstores angebracht und verspottete ihn in stiller Kritik. Er schluckte schwer und starrte auf die runde Klingel, nur wenige Zentimeter von seiner Hand entfernt.
SHIGARAKI, stand in Großbuchstaben darunter.
Verdammmter Mist!
Er hatte geglaubt, es wäre einfacher, das Projekt mit Tomura machen zu müssen, als Shuichi oder Atsuhiro. Ja, er hatte sich fast ein bisschen gefreut. Jetzt war er sich da nicht mehr so sicher ...
Er konnte nicht anders, als nervös die Finger zu kneten, während das elektronische Läuten durch das Gebäude schallte und auch noch alle diejenigen auf ihn aufmerksam machte, die ihn noch nicht bemerkt hatten.
Bitte lass es Tomura sein! Bitte, bitte, bitte ...
>>Oboro Shirakumo hier. Guten Tag.<<
Fuck. Das war defintiv die männliche Stimme des Butlers aus dem Tesla. Kurogiri ... richtig? Hmm, musste sicher eine Art schräger Spitzname sein. Er öffnete gerade den Mund, um zu einer Antwort anzusetzen, als sich im Hintergrund eine weitere Stimme dazu gesellte.
>>Kuro, lass mich mal durch! Das ist für mich.<<
Oh, das musste dann wohl sein Retter in glänzender Rüstung sein ...
>>Tomura, ich darf doch bitten. Dein Vater hatte dich dazu ermahnt, die online Bestellungen einzustellen, solange es sich um keine lebensnotwendigen Güter handelt.<<
Die Stimme des Butlers hatte eine strenge und ermahnende Note angenommen. Fast wie ein Vater, der seinen Sohn belehrte. Zugleich waren seine Worte seltsam förmlich und höflich. Er hatte nicht geglaubt, dass beides zur selben Zeit existieren konnte. Andererseits zählte seine Meinung über eine normale Vater-Sohn-Beziehung wohl nicht, wenn er eben diese nie selbst erlebt hatte.
>>Das ist kein Paketbote! Ich weiß selbst, was Vater gesagt hat, danke. Das ist meine Verabredung.<<
Meine Verabredung ...
Hatte Tomura ihn tatsächlich gerade vor dem Hausbutler seine "Verabredung" genannt?
Verdächtiges Gemurmel tönte durch die Lautsprecher zu ihm herüber. Nervös fuhr er sich durch sein Haar, unsicher darüber, ob er eingreifen und etwas sagen sollte. Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als das Gespräch verstummte und eine einzelne Stimme zu ihm drang.
>>Hey, Touya!<<
Okay, das war Tomura. Halbwegs sicheres Gelände.
>>Äh, hi.<<
Es war ein seltsames Gefühl, vor dem riesigen Tor zu stehen und durch einen Lautsprecher zu reden, während er dabei durch eine Kamera beobachtet wurde. Konnte ihm jemand sagen, dass das normal war?
>>Tut mir Leid für die kleine Verzögerung! Ich mach dir das Tor auf, dann kannst du rein.<<
>>Okay.<<
Tomuras Stimme verschwand und ließ ihn allein zurück. Kurz darauf ertönte ein statisches Summen und das schwarze Tor fuhr zur Seite zurück. Huh. Er hätte ahnen müssen, dass alles hier elektronisch betrieben war.
Er wartete noch einen Moment ab, bevor er schließlich zögerlich eintrat. Die Einfahrt war von ebenen, weißen Pflastersteinen gesäumt. An den Rändern erstreckte sich ein frischer, grüner Rasen, welcher bis auf die Millimeter genau getrimmt zu sein schien und in einem riesigen Garten hinter dem Haus münden musste.
Oh Gott.
Er konnte nicht glauben, dass er mit einem Stoffrucksack und Ripped Jeans über ein Millionen Grundstück lief!
Die schwere, ebenfalls schwarze Haustür öffnete sich kurz bevor er an ihr ankam. Ein weißer Haarschopf und eine freudige Stimme begrüßten ihn.
>>Na, gut angekommen?<<
Es beruhigte ihn etwas, dass Tomura noch genau so wirkte, wie er diesen aus der Schule kannte. Freundlich und offen. In dem gleichen schwarzen übergroßen Shirt, dunklen Jogginghosen und mit dem selben verschmitzten Grinsen aus seiner Erinnerung. Alles beinahe wie in der Schule.
Er lief die letzten Meter über die Einfahrt und blieb kurz vor der Tür stehen, in welcher der Andere auf ihn wartete.
>>Ja. Du wohnst in ... einer schicken Gegend hier.<<, antwortete er.
Smalltalk war nie seine Stärke gewesen und er war immer etwas ratlos darin, den besten Weg zu finden, um ein Gespräch zu starten. Es war immerhin nicht so, als würden sich viele Leute freiwillig zu ihm gesellen und mit dem Loser schlechthin plaudern.
Sein Gastgeber dagegen lächelte nur freundlich und lehnte sich ein Stück im Türrahmen an. Er konnte sagen, dass Tomura sein Bestes gab, um die fremdartige Situation nicht so unangenehm für ihn zu machen und versuchte, ihm ein gewisses vertrautes und heimisches Gefühl zu vermitteln. Er schätzte dessen Bemühungen, trotz das die Nervösität ihn immer noch in ihren eisigen Fingern hatte.
>>Oh ja, du bist nicht der Erste, der das sagt. Ich lebe schon zu lange hier, also kann ich es nicht mehr wirklich objektiv bewerten. Aber ... naja, es ist schon schick hier. Das Leben der High Society, schätze ich.<<
Er nickte und beobachtete, wie der Blick seines Gastgebers in die Ferne schweifte. Über die Häuser und Gärten hinweg, als würde er all das plötzlich zum ersten Mal sehen. Die Vorstellung fühlte sich seltsam an, dass Tomura hier lebte. Dass er jeden Tag nach der Schule hierher kam und all der Prunk und Protz längst Normalität für ihn waren. Schließlich landeten die roten Augen wieder auf ihm und schimmerten ihm sanft entgegen.
>>Okay, komm rein. Ich will dich ja nicht ewig hier draußen stehen lassen.<<
Mit den Worten wich der Weißhaarige von der Tür und verschwand ein Stück im Inneren des Gebäudes, um Platz für Touya zu schaffen. Sollte er eintreten? Jetzt gerade bestand noch die Chance zu einer Flucht. Er musste sich nur herumdrehen, die Beine in die Hand nehmen und schon -
Okay, Touya! Schluss mit den Ausreden!
Du bist tough und robust.
Tomura ist ein ganz normaler Junge, mit dem du schon im Unterricht gequatscht hast. Halb so wild!
Auf Puddingbeinen nahm er schließlich seine letzten, verhängissvollen Schritte und betrat die Villa. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss und besiegelte sein Schicksal. Tomura und er. Kein Zurück mehr.
>>Du bist früh dran. Ich bin eher der Typ, der die meiste Zeit zu spät kommt. Egal wie früh ich losfahre, irgendwas kommt immer dazwischen.<<, scherzte sein Gegenüber. Keine Frage, um das Eis zu brechen und die verlegene Stille zwischen ihnen zu überwinden.
Er fühlte sich ein wenig schlecht dafür, Tomura schon zum dritten Mal die Initiative ergreifen zu lassen. Diese Aufgabe ihm selbst zu überlassen, wäre jedoch in jeglicher Hinsicht die schlechtere Wahl gewesen. Er hatte keinen blassen Schimmer von Smalltalk und sprach lieber nach Aufforderung statt aus eigenem Mut heraus.
Ein kurzes, seltsam charmantes Lachen rutschte nach Tomuras Aussage über dessen helle Lippen. Es war kein lautes und extrovertiertes Lachen, wie man es in einer wirklich witzigen Situation gefunden hätte, doch es brachte dessen Gesicht für einen kurzen Moment zum Erweichen und dessen Augen zum Leuchten.
Sein Körper verband mit dem Laut irgendeinen magischen Entspannungs-Bann, denn beinahe automatisch sackten seine steifen Schultern nach unten und er stimmte in das Lachen ein. Der Laut verließ einfach seine Kehle, ohne dass er ihn fälschen oder erzwingen musste.
Huh. Dabei war die Aussage nicht einmal so witzig gewesen.
Vielleicht liegt es weniger an der Aussage selbst, sondern an der Art, wie sie Tomuras Gesicht erhellt hat.
Er verbannte diesen Gedanken so schnell wie er gekommen war. Besser das Gepräch weiter voranzubringen, statt darüber nachzudenken, wie scharf Tomuras Wangenknochen herausstachen oder wie geschmeidig dessen weißes Haar sein Gesicht umrahmte ...
Nein, darüber sollte er definitiv nicht nachdenken!
>>Ich komme eigentlich immer zu früh. Als Kind hatte ich Probleme damit, mir die Zeit richtig einzuteilen, deswegen habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, so früh wie möglich loszulaufen.<<, erklärte er schnell. So musste er nicht weiter über Tomuras Gesicht und dessen hübsche rote Augen nachdenken.
Hübsche rote Augen ... Gott, was war gerade los mit ihm?
Unmerklich kniff er sich in den Arm, um wieder in die Realität zurückzufinden und einen klaren Verstand zu behalten. Der Weißhaarige starrte ihn schweigend und verblüfft an. Vermutlich war dieser vollkommen erstaunt von der - für Touya Verhältnisse - langen Antwort. Wenn er ehrlich war, dann hatte er sich damit selbst überrascht. Im positiven Sinne.
Normalerweise redete er mit seinen Mitmenschen nur das Nötigste. Es war ein automatischer Schutzmechanismus, um Niemandem die persönliche Seite an ihm zeigen zu müssen, welche schon so oft in seinem Leben missbraucht und verletzt wurden war. Alle Menschen, welche nicht zu seiner Familie gehörten, waren verdächtig und gaben ihm ein ungutes Gefühl.
Bei Tomura schien die ganze Sache etwas anders zu funktionieren.
Der Junge war ruhig und geduldig und wirkte nicht wie ein Schwätzer. In dessen Anwesenheit hatte er keine Probleme damit, den Mund aufzumachen und seine Gedanken auszusprechen. Der Andere vermittelte ihm ein Gefühl der Sicherheit, wie er es noch nie zuvor mit Jemandem aus seinem Alter gehabt hatte.
>>Wirklich? In den meisten Fällen, wenn ein Kind Angst davor hat zu spät zu kommen, liegt es daran, dass die Lehrer zu streng und hart reagiert haben.<<, grübelte sein Gegenüber und legte sich nachdenklich eine Hand ans Kinn.
>>Kann sein. Meine Lehrer waren eigentlich in Ordnung, also keine Ahnung.<<, antwortete er, obwohl er sehr wohl eine Ahnung hatte.
Tomura hatte nicht Unrecht, doch in diesem Fall lag er falsch. Es waren nicht die Lehrer gewesen, welche streng und hart reagiert hatten, sobald er einen Fehler gemacht hatte. Es war sein Vater gewesen.
Ein Schauer überlief ihn bei der Erinnerung an eine tiefe, dröhnende Stimme und zornige, blaue Augen. Manchmal packten ihn diese Erinnerungen ganz spontan und unvorhersehbar. Dann schnürten sie seinen ganzen Körper ein und ließen sie ihn nicht mehr los, bis er keine Luft mehr bekam. Besser er steckte diese Gedanken also in die Kiste zurück, aus der sie gekommen waren. Er brauchte sie nicht. Nicht jetzt.
Die erneute Stille, welche sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte, war diesmal schlimmer. Sie drückte und bettelte darum, gefüllt zu werden, also entschloss er sich dazu, seinen Fokus auf das Gebäude zu lenken, in dem er sich befand.
Die Villa war bereits von Außen prachtvolll gewesen, von Innen war sie es nun eben so. Die Fliesen unter seinen Füßen waren aus weiß-grauem Marmor. Kunstvolle Gemälde mit schweren, glänzenden Rahmen reihten sich an der Wand des breiten Gangs auf. Von der überwältigend hohen Decke im Eingangsbereich baumelte ein verschnörkelter, goldener Kronleuchter herab und ganz am Ende des Flures entdeckte er einen alten Sekretär aus dunklem, sicherlich unbezahlbaren Holz.
Er hielt nicht viel von Prunk und Protz. Es war nur schöner Schein vor einer leeren Fassade. Beeindruckend anzusehen war es dennoch - verdammt beeindruckend!
Erneut kam der unvorstellbare Gedanke in ihm auf, dass Tomura hier lebte. Dass dieser Nachmittags von der Schule zurückkam und hinter diesen luxuriösen Wänden seine Hausaufgaben erledigte und nachts in seinem Königsbett schlief.
Die Vorstellung war ... absolut unpassend. Das gesamte Anwesen wirkte mehr wie ein Museum statt eines Zuhauses. Steril und von unschätzbarem Wert. Eine Berührung mit der Hand fühlte sich bereits nach einer Straftat an.
Als hätte der Andere seine Gedanken gelesen, folgte er seinem Blick. Ein kurzes, leicht spöttisches Lachen drang aus dessen Kehle, bevor er den Kopf schüttelte.
>>Ziemlich imposant, ich weiß. Ich hoffe, all das verschreckt dich nicht und du denkst, ich wäre so ein verwöhntes Einzelkind aus gutem Haus mit dem alleinigen Lebenssinn darin, noch mehr Geld zu bekommen.<<<
Hinter den Worten lag eine gewisse zynische Note. Er wusste nicht, ob Tomura sie bewusst verwendet hatte oder ob es dessen ehrliche Emotionen waren, welche im Hintergrund die Oberhand gewannen. Als sein Blick auf den Jungen fiel, lag ein Schatten über dessen Gesicht und er erkannte einen Ausdruck in den roten Augen, welchen er dort noch nicht gesehen hatte.
Scham.
Es war unhöflich und nicht seine Art, doch er konnte sich nicht davon abhalten, einen Moment lang zu starren. Der Ausdruck wirkte so ganz und gar falsch auf Tomuras sonst so selbsticherem Gesicht.
>>Nein. Das denke ich nicht.<<, antwortete er schließlich.
Er sagte es nicht nur, um seinem Gegenüber ein besseres Gefühl zu geben. Es war die Wahrheit. Allein der Fakt, dass er sich mit dem Weißhaarigen sicher genug fühlte, um normale Unterhaltungen zu führen und diesen in seinem Zuhause zu besuchen, war Beweis genug.
Tomura war nicht nur ein reiches Einzelkind mit zu viel Geld im Portemonnaie. Er war intelligent und aufmerksam und schenkte auch den uncoolen Dingen Beachtung.
Überrascht huschten die roten Augen zu ihm und verweilten einen Moment lang auf seinem Gesicht. Der Andere wirkte abschätzig, so als hätte er ein Argument wie dieses noch nicht oft gehört. Dann stahl sich ein ehrliches Lächeln auf die spröden Lippen und irgendetwas in Touyas Bauch begann zu kribbeln.
Huh Seltsames Gefühl.
>>Ähm ... Wo kann ich ...?<<
Erneut startete er einen Versuch, das Thema zu wechseln, um nicht auf dieses fremdartige und doch postive Gefühl in seiner Magengegend achten zu müssen.
Mit einem Nicken deutete er auf seine Sneaker, mit welchen er ganz sicher nicht über die teuren Marmorfliesen laufen würde. Sein Gegenüber verstand sofort und ein verlegener Ausdruck zeichnete sich auf dessen Gesicht ab.
>>Oh, richtig! Sorry. Stell sie einfach irgendwo neben den anderen Schuhen ab.<<, entgegnete sein Gastgaber hastig, so als hätte er sich erst jetzt wieder daran erinnert, weshalb sie beide überhaupt hier waren.
Er nickte kurz, als Zeichen dafür, dass er verstanden hatte, bevor er sich zu der Stelle drehte, auf die Tomura gezeigt hatte. Eine dunkle Kommode mit offenen Fächern war an der Wand links neben der Tür platziert wurden. Beginnend mit Sandalen von Lacoste, zu schwarzen Lackschuhen eines edlen Heerenaustatters und schließlich den grellen, roten Sneakern, welche Tomura so oft in der Schule trug, war eigentlich alles vertreten.
Er unterdrückte ein Schmunzeln, als er die Reihe an Luxusstücken betrachtete. Irgendwie war es witzig, das Gerücht bestätigt zu bekommen, dass Millionäre einen Fetish für teure Schuhe hatten. Seine eigenen, sehr viel preiswerteren Sneaker stellte er in einem der leeren Fächer ab, wo sie auffielen, wie ein armer bunter Hund in einer Reihe von reichen, weißen Hunden.
Sobald er sich erneut zu Tomura herumdrehte, stand dieser schon einsatzbereit an der Treppe.
>>Komm mit, ich zeig dir mein Zimmer. Dort können wir arbeiten.<<
Wieder nickte er und beobachtete, wie sein Gegenüber die ersten Stufen in die nächste Etage nahm. Während er diesem folgte, versuchte er sich zum wiederholten Male nicht von all dem Luxus hier überwältigen zu lassen.
Bei der Treppe handelte es sich um eine klassisch gewundene Wendeltreppe mit vergoldetem Geländer und den selben marmorierten Stufen wie er sie schon auf den Fliesen entdeckt hatte. Nope. Überhaupt nicht beeindruckend.
Das erste Stockwerk war genau so luxuriös wie das Erdgeschoss, wirkte von der allgemeinen Gestaltung jedoch frischer und moderner. Ein flauschiger, weißer Teppichboden säumte den langen Flur, welcher in mehrere Zimmer führte und schließlich in einer zweiten Wendeltreppe mündete.
>>Wie viele Personen wohnen hier?<<
Die Frage sollte nicht unhöflich klingen, doch er konnte sie sich nicht verkneifen. Als er das Anwesen von Außen betrachtet hatte, hatte er nicht auf die Anzahl an Etagen geachtet, doch es mussten sicher einige sein.
>>Unten sind nur die Standarträume - Küche, Wohnzimmer und soweiter. Diese Etage hier habe ich für mich. Das zweite Stockwerk gehört meinem Vater, dort hat er auch sein privates Büro. Darüber wohnt Kurogiri und es gibt zwei kleinere Gästeschlafzimmer. Ganz oben ist dann nur noch der Dachboden.<<
Der Andere erklärte es ihm ganz trocken und nüchtern, als wäre es völlige Normaliät. Das musste es für diesen auch sein, schätzte er. Besser er stellte keine weiteren Fragen mehr, deren Antwort ihm den Mund offen stehen ließen ...
Ein gigantisches, mit dunklem Holz gerahmtes Bild hing schwer und majestätisch in der Mitte des Gangs. Auf den ersten Blick sah er nur blau. Ein dunkler Blauton, wie die schwarze Meeresoberfläche kurz vor einem Sturm.
Je länger er jedoch hinsah, desto mehr offenbarten sich seinem Auge einzelne Formen und Symbole. Das nächtliche Himmelszelt lag dort in all seiner galaktischen Pracht direkt vor ihm. Einzelne Sterne schimmerten ihm in hellblauen oder goldenen Tupfern entgegen und der Mond stand rund und erhaben über allem.
Es war kein ausgefallenes oder besonders kreatives Motiv. Es war nur der dunkle Sternenhimmel bei Nacht, doch irgendetwas an der Art, wie der Künstler das Bild gefertigt hatte, ließ ihn inne halten. Die Pinselstriche wirkten mühelos, für das bloße Auge beinahe unkenntlich. So als wäre es keine Zeichnung, sondern das Tor zu einer anderen Welt.
>>Gefällt dir das Bild?<<
Er erwartete Belustigung in der Stimme des Anderen. Spott darüber, dass sich ein Junge für Kunst interessierte. Männer sollten sich mit Sport und Handwerk beschäftigen, nicht mit Kunst oder Philosophie. Als er sich jedoch zu seinem Gastgeber herumdrehte, war da bloß unschuldige Neugier. Kein Hohn und keine Verachtung. Nichts.
Es war genau in diesem Moment, dass er das Gefühl hatte, Tomura zum ersten Mal zu sehen.
Sie kannten sich aus der Schule, natürlich, doch hier und jetzt gab es nur sie beide. Niemand anders, der sie voneinander ablenkte und er hatte zum ersten Mal die Chance dazu, wirklich inne zu halten und den Jungen zu betrachten. Tomuras Haar war weiß und fluffig und kräuselte sich an seinem Kinn zu leichten Wellen. Seine Haut war hell, beinahe vampirhaft. Da waren so viele kleine Unebenheiten in dessen Gesicht, die Schürfwunden rund um seine Augen herum und die kleine Narbe an dessen Mundwinkel.
Alles war plötzlich da und er konnte nicht mehr aufhören, es zu sehen. Das, was er jedoch am intensivsten wahrnahm, war die sanfte Wärme, mit welcher sich die roten Augen des Jungen geradwegs durch seine Knochen hindurch in seine Seele bohrten.
>>Es ist ... atemberaubend. So real. Wie eine Fotografie.<<, erwiderte er nach einem langen Moment der Stille.
Seine Kehle war rau, so als hätte er Sandpapier geschluckt und er konnte den Blick nicht von Tomura abwenden. Der Junge war selbst wie ein Kunstwerk. Je länger man hinsah, desto mehr Details offenbarten sich dem Betrachter.
>>Ja, nicht wahr? Ich hatte das Bild vor Jahren in einer Händlerstraße an der Seine entdeckt. Es stammte von keinem namenswerten Künstler und der Preis war geradezu lachhaft. Mein Vater hatte dem ganzen gar keine Beachtung geschenkt, doch ich konnte gar nicht mehr aufhören, es anzusehen. Danach mussten wir Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um das Werk in den Flieger zu bekommen.<<
Die Stimme des Weißhaarigen klang aufgeregt, fast ein wenig hippelig. Falls dieser bemerkte, was für ein seltsam kribbelndes Gefühl er mit jedem seiner Blicke in Touyas Bauch auslöste, dann ließ er es sich nicht anmerken.
Er selbst fand sich ein wenig sprachlos wieder. Er stand hier neben Tomura Shigaraki, dem einzigsten Kind aus dem reichen und edlen Hause Shigaraki, welcher die Welt bereist und ferne Kunstwerke mitgebracht hatte.
Wer war er schon dagegen?
Touya Todoroki. Ein Niemand.
Sein eigenes Leben musste so trostlos und langweilig auf Jemanden wie Tomura wirken und doch stand der Junge hier. Lud ihn in seine teure Villa ein und führte Gespräche mit ihm, als würde es ihn tatsächlich interessieren, was Touya zu sagen hatte.
Er verstand es nicht.
>>Magst du Kunst?<<
Tausend weitere Fragen lagen ihm auf der Zunge. Sie alle waren persönlich und gefährlich. Zu gefährlich dafür, dass sie sich erst seit ein paar Tagen kannten.
>>Kunst ist das einzige auf dieser Welt, dass alle Menschen zusammen bringt. Liebe und Freundschaft kann vergehen, doch Kunst ist etwas, dass für immer erhalten bleibt. Es gibt so viele Arten von Kunst. Malerei, Tanz, Musik. Kunst ist wie eine natürliche Droge zum Glück, verstehst du? Jeder Mensch erfreut sich anders an ihr, doch niemand kann sich ihr entziehen. Um also deine Frage zu beantworten: Ja, ich mag Kunst. Sie bedeutet mir sehr viel.<<
Das war ein weiteres Detail, welches Tomura Shigaraki vom Rest der Welt unterschied und so interessant für Touya machte. Er sah mehr als die Oberfläche. Dessen Augen waren schärfer und sein Blick tiefer. Er kratzte nicht nur die erste Schicht an, sondern riss die ganze Hülle herunter.
Auf einige Leute musste diese philospohische Denkweise sicher abstrus und verschreckend wirken, doch nicht auf ihn. Er ... er mochte es, wenn Menschen auf diese Art dachten. Wenn sie sich die Mühe dazu machten, nicht nur auf die tote Hülle zu sehen. Wenn sie ... denjenigen sahen, der wirklich in dir steckte. Nicht nur die Narben und Freak-Titel.
>>Möchtest du mal einen philosophischen Beruf erlernen?<<
Die Frage platzte spontan und völlig ungefiltert aus ihm heraus. Im ersten Moment biss er die Zähne aufeinander und steinigte sich selbst dazu, seine Gedanken so unbeirrt zu äußern. Nervös krallten sich seine Finger in dem harten Stoff seiner Jeans fest und hinterließen hässliche Falten.
Was hatte es ihm je gebracht, seine wahren Gedanken auszusprechen? Nichts als Spott und Verachtung.
Als er jedoch Tomuras breites Grinsen auf seine Worte erblickte, löste sich der Knoten in seinem Magen in Luft auf. Er wurde durch dieses seltsam, kribbelnde Gefühl in seinem Inneren ersetzt, welches so fremdartig und angenehm zugleich war.
>>Vielleicht. Ich weiß es noch nicht genau. Wieso fragst du?<<, lachte sein Gastgeber, ohne auch nur einen Hauch von Spott.
Die direkte Frage brachte seine Wangen zum Erhitzen und seine Ohren dazu, in einer peinlichen Röte anzulaufen. Er wusste selbst nicht, wieso er die Frage gestellt hatte. Die Worte waren ihm einfach in den Sinn gekommen und so hatte er sie ausgesprochen. Dieser plötzliche, unerwartete Mut überraschte ihn selbst.
>>Keine Ahnung. Es ist einfach ...<<
Es fiel ihm schwer, die passenden Worte zu seinen Gedanken zu finden. Verunsicherung machte sich in ihm breit und nagte an ihm, wie eine Ratte an einem Stück Käse. Die warme und geduldige Art, mit der Tomura ihn betrachtete, gab ihm jedoch Halt.
Okay, Touya. Tief durchatmen, du kannst das!
>>Es wirkt, als wärst du ein Mensch, der sich viele Gedanken um die Welt um ihn herum macht. So als würdest du nicht einfach herumlaufen und alles von der Oberfläche betrachten, sondern ... tiefer greifen. Ich weiß nicht, ob das gerade viel Sinn gemacht hat. Deine Aussage klang einfach sehr philosophisch, deshalb die Frage.<<
Dies musste die längste und ehrlichste Antwort sein, welche er Tomura bisher geliefert hatte. Der Moment der Stille, welcher zwischen ihnen verging, war daher wohl nur angemessen. Sie beide benötigten einen Augenblick, um das Gesagte zu verdauen.
Seine Worte waren persönlich gewesen. Gefährlich persönlich. Würde sich der Andere genau jetzt dafür entscheiden, die Seite zu wechseln und ihn an Muscular zu verfüttern, würde vermutlich nichts mehr von ihm übrig bleiben. Er hätte verloren. Ein für alle Mal.
Nervös betrachtete er, wie sich die Emotionen auf dem Gesicht des Weißhaarigen veränderten. Sie vermischten sich, flossen ineinander über und formten neue Ausdrücke, welche er noch nicht kannte. Erst Überraschung. Dann Ungewissheit. Schließlich ein Lächeln, welches direkt aus dem Inneren zu kommen schien.
Tomura lächelte mit Zähnen und trockenen Lippen. So völlig sorglos und aus purer, aufrichtiger Freude heraus. Seinem Gegenüber war es egal, wie er dabei aussah oder was Touya in diesem Moment über ihn dachte. Er lächelte einfach aus Freude heraus. Er schien zu strahlen.
>>Ich finde, dass es sehr viel Sinn gemacht hat. Und du hast Recht. Ich war noch nie ein oberflächlicher Mensch gewesen. Ich versuche immer, die Komplexität eines Sachverhaltes zu verstehen. Keine Aussage hat nur eine einzige Beudeutung, verstehst du? Jedes Wort gibt uns nicht nur Informationen über ein bestimmtes Thema, sondern auch über die Gefühlslage und Gedanken einer Person. Es gibt immer tiefere Schichten, als die Oberfläche. Man kann es philosophieren nennen. Ich versuche einfach, die Dinge in ihrer wahren Natur zu sehen.<<
Jedes einzelne Wort war ein Schlüssel, welchen der Junge ihm überreichte. Er öffnete das schwere Tor zu Tomuras Seele. In völligem Vertrauen ließ dieser ihn seine Gedanken und Gefühle erkunden. Er offenbarte ihm eine Seite von sich selbst, welche so unfassbar rar und intim war. Ihm. Touya Todoroki. Dem Schulfreak, den er erst seit ein paar Tagen kannte.
>>Tut mir Leid, damit habe ich dich jetzt bestimmt verunsichert.<<, lachte der Weißhaarige und kratzte sich verlegen am Hinterkopf.
>>Nein, hast du nicht. Ich ... Ich verstehe dich.<<
Er hätte so viel mehr antworten können, als das. So viele Worte lagen ihm auf der Zunge, doch sie waren nicht notwendig. Er musste seine Gedanken nicht erklären, denn sie waren gleich.
Sie beide dachten dasselbe. Sie ... fühlten dasselbe.
>>Komm schon, du hast mich auf eine Idee für unser Projekt gebracht! Ich schreibe es am besten gleich auf.<<
Der Andere sprach schnell. Dessen Augen glänzten in Vorfreude und Aufregung. Der Ausdruck erinnerte ihn an einen Künstler, dessen Muse ihm soeben zugeflogen war.
Mit hastigen Schritten lief der Junge auf die letzte Tür im Gang zu und betrat den Raum dahinter. Vermutlich handelte es sich dabei um Tomuras Zimmer. (Eines von vielen.)
Einen Moment lang verweilte er selbst noch in seiner Position und wiederholte im Kopf alles, was soeben passiert war. Schließlich nahm er einen tiefen Atemzug, machte einen Schritt nach vorn und folgte seinem Gastgeber. Das Zimmer des Jungen war groß. Beinahe doppelt so lang und breit wie sein eigenes. Das war zumindest, was ihm als Erstes auffiel.
Die Wände waren in einem hellen Himmelblau gestrichen, welches auf den ersten Blick fast weiß wirkte. Die pastellene Farbe verschaffte dem Raum Licht und machten die sowieso schon großen Ausmaße noch luftiger und geräumiger. Ebenfalls hellblau gestrichene Borten aus Holz bildeten symmetrische Vierecke an der Wand und sorgten für einen rustikalen Charme.
Im starken Kontrast dazu stand Tomuras restliche Raumgestaltung. Von den Streben des schwarzen Metallbettes baumelten unordentlich Ladekabel und Kopfhörer herunter. Die Bettwäsche war dunkel und zerknautscht - vermutlich nur sporadisch zusammengelegt - und zeigte das Motiv eines Online Games.
Der Schreibtisch an der Ecke neben dem Fenster war chaotisch und unaufgeräumt. Ein Kleiderstapel hing leblos über der Lehne des Gamingsessels davor. Eine Videospiel Konsole war vor einem riesigen Flachbildschirm aufgebaut und eine leere Chipstüte verstaubte daneben.
Er konnte nicht anders.
Seine Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen und ein amüsiertes Lachen brach aus ihm heraus. Er hielt sich die Hand vor den Mund, um den Laut zu stoppen, doch es war sinnlos. Dieser Anblick unterschied sich so extrem von dem gepflegten, museumshaften Rest des Anwesens, dass es beinahe ein Kulturschock war. Dieses Zimmer schrie geradezu: "Teenager"!
>>Jaa, ich weiß. Es ist nicht so ordentlich hier drin. Eigentlich wollte ich aufräumen, bevor du kommst, aber ... Naja ... <<, murmelte Tomura schüchtern.
Der Junge war seinem Blick gefolgt und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. Touyas Lachen musste ihn nervös gemacht haben. Es war nicht seine Absicht gewesen, den Anderen zu kritisieren, also sollte er die Dinge wohl wieder gerade rücken.
>>Nein, alles gut. Ich habe schon sehr viel schlimmere Zimmer gesehen, als das hier.<<
Daraufhin zog sein Gegenüber nur ein langes Gesicht und die Erkenntnis breitete sich in ihm aus.
>>Das sollte nicht heißen, dass dein Zimmer schlimm ist! Ich finde es sogar wirklich hübsch. Ich wollte dich nicht auslachen, tut mir Leid. Es ist nur ... ein witziger Unterschied zu dem Rest eures Hauses.<<, stellte er schnell klar, bevor die Situation unangenehm für sie beide werden würde.
Diese Aussage schien schon besser zu funktionieren, denn die Züge des Weißhaarigen entspannten sich. Neugierig musterte dieser ihn aus seinen roten Augen heraus und ein freches Schmunzeln stahl sich auf sein Gesicht.
>>Ja klar. Ich wette, dein Zimmer ist immer perfekt ordentlich.<<
Der Kommentar wäre eigentlich provokant gewesen, hätte Tomura nicht diesen spielerisch, herausfordernden Ton in seiner Stimme. Er neckte ihn und animierte ihn dazu, die Einladung anzunehmen. Ohne, dass sie beide es bemerkt hatten, hatte sich die Stimmung zwischen ihnen verändert. Sie waren an dem Punkt "höfliche Bekannte" gestartet und waren nun irgendwie bei "sich gegenseitig herausfordernden Freunden" gelandet.
Sie konnten sich ärgern und milde übereinander lustig machen, ohne dass es den Anderen tatsächlich verletzte. Diese ganze Stimmung war so ... anders. Erfrischend.
Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal eine Person getroffen hatte, mit welcher er tatsächlich freundschaftlichen Kontakt hätte aufbauen können. Seine Mitmenschen mieden ihn und wenn nicht, dann nur, um ihn zu verspotten oder ihre Aggressionen an ihm auszulassen.
Tomura war so vollkommen anders, dass es ihm fast Angst machte.
>>Nein, eigentlich nicht. Sehe ich etwa so aus wie Jemand, dessen größte Priorität es ist, sein Zimmer sauber zu halten?<<, stimmte er nun doch in das Spiel ein.
Das Schmunzeln auf seinen eigenen Lippen passte perfekt zu dem seines Gegenübers, während sie sich gegenseitig angrinsten.
>>Ich weiß nicht. Sag du es mir.<<
>>Nein, ist es nicht! Mann, was denken alle Leute eigentlich immer über mich?Dass ich irgendein "Mister Sagrotan" bin?<<, lachte er.
>>Ich glaube, die haben noch kein Maskottchen. Wie wär's denn?<<, scherzte Tomura zurück.
Auf die hochgezogene Augenbraue seines Gegenübers prustete er nur ein erneutes Lachen aus und schüttelte den Kopf.
>>Nein, ehrlich nicht. Sowieso, meine Geschwister haben die schlechte Angewohnheit, mit schmutzigen Schuhen durch die ganze Wohnung zu laufen und ihre Spielsachen überall liegen zu lassen. Eine Mister Sagrotan Wohnung würde da nicht lange ordentlich bleiben.<<, erklärte schulterzuckend.
Er glaubte, dass seine Worte unbedeutend wären und nur ihr kleines Spiel weiter voranbrachten. Tomura jedoch hielt inne und verstummte einige Sekunden lang. Dessen weiße Augenbrauen zogen sich nachdenklich zusammen und er betrachtete ihn mit einem rätselhaften Ausdruck.
>>Du hast Geschwister?<<
Im ersten Moment klang die Frage ausgeglichen, neutral. Da war jedoch eine rare und intime Note, welche leise in Tomuras Stimme mitschwang. Dessen rote Augen wirkten dunkler, als noch vor einem Moment, irgendwie trüb.
Das Lächeln auf dessen Lippen war verblasst. Ein Hauch von ... Sorge? Trauer?, spiegelte sich auf dem sonst so optimistsichen Gesicht wieder.
>>Ja, drei. Zwei Brüder und eine Schwester. Ich bin der Älteste.<<, stellte er klar, ohne dabei seine Verwirrung verbergen zu können.
Er dachte einige Minuten zurück und versuchte sich an irgendein Detail zu erinnern, welches den spontanen Gefühlswandel seines Gegenübers hätte bewirken können. Ihm fiel nichts ein. Hatte er etwas faslches gesagt, ohne es zu bemerken? Gerade eben hatten sie noch miteinander gelacht und nun sah der Andere so aus, als hätte man ihm seine Süßigkeiten weggenommen.
>>Tomura?<<
Er konnte nicht anders, als nachzuhaken. Sich zu vergewissern, ob er die erste Situation seit einer langen, langen Zeit, in der er auch nur annähernd so etwas wie Freundschaft empfunden hatte, zerstört hatte.
>>Hmm?<<
>>Du siehst so aus, als hätte ich etwas falsches gesagt.<<
Der Weißhaarige schaute in seine Richtung, doch es war nicht wirklich Touya, den er sah. Dessen Blick schien in der Ferne zu stecken. Verwoben in irgendeiner Erinnerung, welche er nicht kannte.
Als der Andere schließlich den Kopf senkte und zu sprechen begann, klang dessen Stimme belegt. Tief und schwer, als würde es ihm wehtun, seine Gedanken laut zu äußern.
>>Ich hatte auch eine Schwester. Hana-Chan. Sie war älter als ich, die meiste Zeit über hatte man es ihr allerdings nicht angemerkt. Sie war der Sonnenschein der Familie, hat immer gelacht und war immer bereit für einen Spaß. Sie hatte so einigen Blödsinn mit mir zusammen angestellt, für den dann immer mindestens einer von uns bestraft wurde.<<
"Hatte ... "
"War ... "
Tomura benutzte die Vergangenheitsform, wenn er über seine Schwester sprach. Da er die Worte mehrfach verwendet hatte, konnte es sich weder um einen Zufall, noch um ein Versehen handeln.
>>Was ist passiert?<<
Seine Antwort fand zögerlich statt. Er war sich unsicher darüber, ob es die richtige Entscheidung war, nachzufragen. Er wollte den Anderen nicht bedrängen. Gleichzeitig, war es ja dieser gewesen, welcher das Thema aus freiem Willen heraus angesprochen hatte.
>>Sie ist gestorben.<<
Der Weißhaarige sprach die Worte schnell aus, ohne dazwischen eine Pause einzulegen. Wie ein Pflaster, welches man sich in einem Zug von der Haut riss, damit es nicht so wehtat.
Die roten Augen sahen ihn nicht an. Sie waren zu Boden gerichtet und schienen sich vor Touyas schockiertem Blick verstecken zu wollen.
>>Was? Oh Gott, das tut mir Leid! Was ... Wie ist es geschehen?<<
>>Ein Erdbeben. Es hatte den gesamten Ort erfasst, in dem ich früher gelebt hatte. Eine ländliche Gegend, ein paar Stunden von hier entfernt. Die Sicherheitsvorkehrungen waren dort nicht so ausgeprägt wie in der Stadt, dementsprechend sah auch die Verwüstung aus. Vielleicht hast du mal in den Nachrichten davon gehört.<<
Sein Mund hing in Schock und Unglaube ein Stück offen. Ein Erdbeben? Ein Erdbeben hatte Tomuras Schwester getötet?
>>Und ... Was ist aus dem Rest deiner Familie gewurden? Ich meine, konntet ... Konntet ihr euch irgendwie retten?<<
>>Ich konnte mich retten, aber auch nur, weil ich das Wochende bei meinen Großeltern in einem anderen Ort verbracht hatte. Damals war ich fünf Jahre alt gewesen. Mama hatte mich hingebracht und wollte mich am Sonntag wieder abholen. Samstagnacht verwüstete das große Erdbeben die gesamte Gegend. Als ich zurückkam, war mein gesamtes Zuhause ein Trümmerhaufen und meine Familie weg.<<
Er war sprachlos. Sein Mund hing in stummen Schock offen und seine Augen waren so sehr geweitet, dass sie beinahe aus den Höhlen fielen.
Natürlich hatte er gewusst, dass er nicht der einzige Mensch auf diesem Planeten mit einer tragischen Geschichte war, doch das hier ... Es fühlte sich so surreal an. Tomura war so ein netter und offener Junge. Darüber nachzudenken, was diesem wiederfahren war, was er mitansehen musste, war einfach ... falsch.
>>Verdammt ... Was ist danach mit dir passiert?<<
>>Ich durfte drei Jahre lang bei Oma und Opa wohnen, bis entschieden wurde, dass sie zu alt sind, um sich permanent um ein kleines Kind zu kümmern. Danach bin ich ins Heim gekommen. Der Ort war nicht schrecklich, doch er hat sich nie wie ein Zuhause angefühlt. Die Schule und das Leben mit den anderen Kids war tough. Ich war der temperamentvolle und traumatisierte Junge, der von allen Seiten gemieden wurde. Die meiste Zeit lang hatten sich die Anderen über mich lustig gemacht und so. Naja ... <<
Tomuras Stimme lief ins Leere aus. Er wippte leicht auf den Zehenspitzen vor und zurück und knetete den Stoff seines T-Shirts zwischen den Fingern, so als würde es ihn von der eigentlichen Situation ablenken. So als würde er verzweifelt versuchen, diese quälenden Erinnerungen zu verdrängen.
Während Touya all das betrachtete, fühlte er sich voll und ganz nutzlos. Sein Körper war wie ersteinert und seine Zunge lag taub und schwer in seinem Mund. Er war weder in der Lage dazu, sein Gegenüber zu trösten, noch sich selbst zu händeln.
Sein Verstand steckte in einer Endlosschleife der gleichen, schmerzenden Gedanken fest. Tomura als kleiner, unschuldiger Junge, welcher alles verloren hatte, was ihm lieb war und sich dann auch noch gegen die Ignoranz und den Egoismus anderer Menschen verteidigen musste.
Irgendwoher kennst du diese Geschichte, nicht wahr?
Es war grausam. Ein besseres Wort, um all das zu beschreiben, fiel ihm nicht ein. Es waren nur einige Minuten vergangen und doch hatte sich sein gesamtes Bild des Jungen vor ihm von Grund auf geändert.
>>Tomura, ich - ... Es tut mir Leid, dass dir das passiert ist. Ich wünschte, ich könnte es irgendwie besser machen. Du warst noch so jung und ... Du hast es nicht verdient, so etwas erleben zu müssen.<<
Jede Silbe verließ seinen Mund, ohne dass er darüber nachdachte. Er handelte auf Autopilot. Sein Herz schrie ihn an, einen Schritt nach vorn zu machen und diese dunkle, brüchige Hülle eines Jungen in den Arm zu nehmen. Sein Verstand wurzelte ihn jedoch an Ort und Stelle fest. Das hier war gefährlich. Sie kannten sich seit ein paar Tagen und offenbarten einander ein gefährliches Maß an Vertrauen. Noch ein weiteres Risiko und es würde so viel mehr auf dem Spiel stehen, als Stolz und Ehre.
>>Ist schon gut. Was geschehen ist, ist geschehen. Es lässt sich nicht ändern. Ich lebe in der Gegenwart und versuche, das Gute zu sehen. So ein schlechtes Los habe ich vermutlich gar nicht gezogen, um von einem Millionär adoptiert zu werden und in seiner fetten Villa zu residieren.<<, versuchte der Andere ihm zu versichern, doch er sah sofort durch dessen Fassade hindurch.
Das Lächeln, welches Tomura aufgesetzt hatte, wirkte falsch - gekünstelt und geqäult. Bei der vermeintlichen Sorglosigkeit in dessen Stimme handelte es sich um nichts weiter als eine präzise antrainierte Gewohnheit. Touya wusste, wovon er sprach. Viele Nächte lang hatte er allein vor dem Spiegel gesessen und versucht, sein Gesicht von all der Wut und dem Schmerz in seiner Seele zu befreien. Eine Scheiß-Egal-Maske zu tragen, so als würde ihn der Hass und Spott nicht berühren.
>>Aber ist es auch das, was du dir wünschst?<<
Seine Frage brachte den Weißhaarigen aus dem Konzept. Den Bruchteil einer Sekunde lang brach dessen Maske und Schmerz huschte über das perfekt geordnete Gesicht. Im nächsten Moment war der Ausdruck verschwunden und die selbe ausdruckslose Fassade schirmte den Jungen doppelt so mächtig von Toya ab. Erneut landete ein gequältes Lächeln auf dessen Miene, während der Andere versuchte, jegliche negative Emotionen zu verbannen.
>>Wenn wir so lange quatschen, vergesse ich wieder, was ich für unser Projekt aufschreiben wollte. Lass uns erstmal mit Philosophie weitermachen, okay?<<
Sein Gegenüber brauchte keine Antwort von ihm. Er hatte ihm klar und deutlich mitgeteilt, dass er lieber an Schulaufgaben arbeiten würde, als sich über die Dinge zu unterhalten, welche er schon so lange zu verdrängen versuchte.
Touya wollte weiter nachbohren, tausend Fragen lagen ihm auf der Zunge, doch er hatte kein Recht dazu, sie zu stellen. Wenn der Andere nicht darüber sprechen wollte, dann musste er das akzeptieren.
Schweigend setzte er sich auf einen schwarzen Schwingsessel und beobachtete, wie Tomura an seinem Schreibtisch Platz nahm. Dessen Gesicht war hinter seinen weißen Haaren versteckt und für ihn unkenntlich. Als würde der Andere sich vor ihm verstecken.
>>Okay.<<
~the End~
Nächstes Kapitel:
Das Vertrauen zwischen den beiden wächst, bis es schließlich bricht? ... Oder?
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