5. Das Gift betäubt den Schmerz

Playlist:

"Summertime Sadness"
- Lana Del Rey

"Schmerz":

Ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit einer tatsächlichen oder drohenden Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.

by julislifestyle

Touya

"Kiss me hard, before you go. Summertime sadness."

Sein Freitagmorgen begann mit den tiefen und melancholischen Tönen von Lana Del Reys "Summertime Sadness".

Mit Kopfhörern in den Ohren streifte er die lauten und belebten Straßen Musutafus entlang, welche nie zu schlafen schienen.

Die Musik berauschte ihn und riss ihn mit sich. Sie lenkte ihn von den angeekelten Blicken und dem hasserfüllten Gelächter um ihn herum ab.

Für einen kurzen Moment konnte er die Augen schließen und die Welt um sich herum ausblenden, sich vorstellen jemand anderes zu sein. Das Mädchen im Song, welches mit dem Auto die Küste entlang brauste, welches die High heels auszog und für einen kurzen Moment das Gefühl von Freiheit verspürte.

"Honey, I'm on fire, I feel it everywhere. Nothin' scares me anymore."

Neben ihm quietschten Reifen über den aufgeheitzten Asphalt und die Sonnenstrahlen spiegelten sich in den gläsernen Fenstern unzähliger Läden und Häuser wieder.

Die alte Dame aus dem Blumengeschäft winkte ihm zu, so wie sie es jeden Morgen tat, wenn sie ihn zur Schule laufen sah und er winkte zurück.

Alles war so bekannt und vertraut. Er kannte jede Straße, jeden Gehsteig und jede verwinkelte Gasse. Er hatte jedes Gebäude schon tausendmal gesehen und kannte jeden Schriftzug inn- und auswendig.

Die Gesichter, welche ihm auf dem Weg zu ihren morgendlichen Geschäften entgegen kamen, waren allesamt in seine Erinnerungen eingebrannt.

"I've got that summertime, summertime sadness."

Beinahe hätte es etwas idyllisches an sich gehabt, würde die Stadt ihn nicht hassen.

°

Es fiel ihm schwer, sich auf den Unterricht zu konzentrieren.

Es war heiß heute. Die Sonne war wie ein Backofen, welcher die ganze Welt zum Schmelzen brachte.

Seine lange, schwarze Jeans tat ihm dabei nichts Gutes. Seine Mutter hatte sich ernsthafte Sorgen darüber gemacht, dass er eines Tages wegen eines Hitzeschocks umkippte, doch er würde zum Verrecken keine kurze Hose anziehen.

Das dünne T-Shirt mit den viel zu knappen Ärmeln war bereits Zumutung genug. Es offenbarte Teile seines Körpers, welche er nicht einmal selbst anschauen konnte, ohne sofort einen dicken Klumpen in der Kehle zu haben.

Niemals würde er diesem Ort mit seinen verhassten Schülern die Genugtuung geben, auch noch die Narben an seinen Beinen zu begaffen, als wäre er ein Tier im Zoo.

Die Welt hatte bereits genug von ihm gesehen.

Sein leerer Blick fiel auf die letzte Bank der Mittelreihe.

Auf den weißhaarigen Jungen in dem übergroßen, schwarzen Shirt und den unverwechselbar roten Sneakern.

Tomura Shigaraki.

Er hatte diesem nie wirkliche Beachtung geschenkt. Er war ruhig, fiel nicht sonderlich auf und war trotzdem immer da.

Seit 2 Tagen hatte sich all das geändert. Seit Aizawa Sensei sie zu Partnern für ihre Zwischenprüfung gemacht hatte, war der andere Junge an die Vorderfront seines Verstandes gerückt.

Touyas Körper vibrierte vor Aufregung und Nervösität, immer wenn er Tomura ansah.

Dieser war reich, - der Tesla und Hausbutler sprachen für sich - charmant und viel zu gut darin, seine Mitmenschen zu manipulieren. Es war so leicht für diesen gewesen, Touya um den Finger zu wickeln und ihn dazu zu überreden, einem Treffen am Wochenende zuzustimmen. Alles, was er gebraucht hatte, waren ein paar nette Worte und ein freundliches Lächeln gewesen ...

Gott, wieso hatte er das getan?

Wieso hatte er eingewilligt, wie ein brav trainierter Hund?

Vor zwei Tagen war er noch voller Überzeugung dafür gewesen, dass Tomura nicht wie Muscular und dessen Gruppe war. Dass er ihm nichts Böses, sondern einfach dieses Projekt mit ihm gemeinsam beenden wollte.

Jetzt war ihm schlecht vor Angst.

Er wusste doch ganz genau, auf was all das wieder hinauslaufen würde. Schmerz und Scham. Diese Worte waren ihm so vertraut, dass es wehtat.

Jeden Morgen konnte er Tomura zusammen mit Jin, Shuichi und Toga an den Fahrradständern stehen sehen und jedes Mal versetzte es ihm einen neuen Stich.

Sie waren Freunde, natürlich. Es war normal für sie, miteinander zu lachen und zu quatschen und sich gegenseitig die Zeit zu vertreiben.

Es war nur ihre ... Ihre Sorglosigkeit, welches Touyas Innere schmerzhaft zusammenkrampfen ließ.

Sie verspotteten ihn, schlugen auf ihn ein und am nächsten Morgen scherzten sie miteinander, als wäre all dies nie passiert.

Vielleicht war es für sie nie passiert, doch für ihn war es das. Er erinnerte sich an jede ihrer Taten.

Sicher wusste bereits die gesamte Schule von ihrer Projektarbeit. Sicher wusste es Muscular. Dieser Tyrann würde einen Adrenalinkick davon bekommen, Tomura gegen ihn aufzuhetzen und ihm die ekelhaftesten Dinge einzuflüstern, welche dieser mit ihm anstellen sollte.

Je länger er den Weißhaarigen betrachtete, desto höher stieg sein Puls.

Ihm fielen tausend grausame Dinge ein, die man mit ihm anstellen könnte und er wollte keines davon wahr haben.

Er wollte doch einfach nur, dass man ihn in Ruhe ließ! Dass er ein friedliches Leben allein führen konnte!

Wieso hatte er Tomuras Einladung angenommen?

Wieso rannte er freiwillig immer und immer wieder gegen die Wand?

Verdammt, ihm war jetzt schon schlecht vor Angst.

°

Als der Unterricht schließlich endete und die lang verdiente Erholung des Wochenendes ankündigte, fühlte er sich mehr und mehr jeglicher Energie beraubt.

Schweiß floss seine Schläfen hinunter und bildete sich in seinen Kniekehlen. Er fühlte sich stickig und ekelhaft, während er die selben Straßen von heute Morgen zurück nach Hause lief.

Sein Körper brannte mit jeder schwungvollen Bewegung, wie Salz, welches man in eine Wunde rieb, und sein Schädel pochte dumpf.

Seit gestern Abend hatte er keine Schmerzmittel mehr genommen und er spürte die Nachwirkungen nun ganz deutlich.

Es dauert nicht mehr lange. Soweit schaffst du es auch noch.

Es waren die selben Gedanken, welche er sich immer einredete, wenn er in Momente wie diese kam.

Er hatte einen Termin im Krankenhaus für heute, bei dem man ihm ein stärkeres Schmerzmittel verabreichen würde, als die weißen Pillen in seinem Badezimmerschrank.

Normalerweise schluckte er in regelmäßigen Abständen Globuli, doch für den heutigen Termin hatte er seine Routine ausgesetzt, um seinen Körper nicht zu überfordern, trotz dass die Ärzte es als unbedenklich bewertet hatten.

Es machte ihn noch kranker, als er ohnehin schon war, daran zu denken, dass er abhängig von diesem Zeug war. Es ging nicht ohne. Er hatte es so oft probiert, doch das Brennen und Pochen waren unerträglich.

Chronische Schmerzen.

Bei manchen kamen sie in Episoden, in gewissen Abständen. Bei ihm waren sie Dauergast in seinem Körper.

Er hatte sie, seit er seine Narben hatte. Er war damals zwölf gewesen, also seit gut fünf Jahren.

Es fühlte sich an wie die verdammte Ewigkeit.

°

Stille begrüßte ihn, als er die Wohnungstür hinter sich schloss.

Es war mehr beruhigend, als unangenehm.

Seine kleinen Geschwister waren immer laut, aufgeweckt und lebhaft. Er liebte sie dafür. Kinder sollten nicht wie Erwachsene sein. Sie sollten springen, toben und schreien. Sie sollten Spaß haben.

Jetzt gerade war er jedoch froh, sie nicht um sich zu haben. Er hatte die starke Vermutung, dass sich seine Kopfschmerzen durch laute und schrille Stimmen nur noch verstärkt hätten.

Mit einem leisen "Klick" fiel die Tür ins Schloss und er drehte den Schlüssel eine Runde herum, bevor er ihn abzog.

Warme Sommerluft durchströmte seine Lunge, während er einen tiefen Atemzug nahm und sich gegen den Türrahmen sinken ließ.

Natsuo und Fuyumi wären um diese Zeit schon Zuhause gewesen, doch sie hatten erwähnt, dass sie sich heute nach der Schule mit einem Freund treffen wollten. Shoto war noch im Kindergarten und seine Mutter arbeitete immer bis in den späten Nachmittag hinein.

Er hatte die Wohnung für sich.

Das erste, was er tat, war die Zeit zu checken, um auszurechnen, wie lange ihm noch bis zu dem Arzttermin blieb. Eine gute Stunde noch. Keine Ewigkeit, wenn man den 15 minütigen Weg einrechnete, doch es würde ausreichen.

Er hatte sowieso nichts zu tun.

Seine Schultasche ließ er kurzerhand im Eingangsbereich stehen - sein Vater hätte ihm dafür einen schellenden Vortrag gehalten - er würde sie später wegräumen.

Stattdessen besorgte er sich frische Kleidung aus seinem Schrank und steuerte dann zielstrebig das Badezimmer an.

Er war heiß und verschwitzt und würde es definitiv keiner unschuldigen Krankenschwester antun, seinen Körper in diesem Zustand berühren zu müssen.

Er saß auf dem weißen Rand der Wanne, während er beobachtete, wie das kalte Wasser die Schüssel füllte. Eine Dusche zu nehmen, wäre schneller und effizienter gewesen, doch der harte Wasserstrahl hatte die schlechte Gewohnheit, seine Verbrennungen bis ins Unerträgliche zu irritieren.

Tja. Hatte er erwähnt, dass sein Körper nie einfach war?

Lautlos fiel sein T-Shirt auf die weißen Fliesen, während er seinen Körper langsam Schicht für Schicht befreite. Der Spiegel war nur ein paar Meter von ihm entfernt, doch die Distanz fühlte sich eisig an. Er wusste nicht, weshalb er sich den verhassten Blick jedes Mal antat. Alles, was er sah, würde ihn enttäuschen, doch die Kommentare der anderen Schüler gingen ihm nicht aus dem Kopf.

Er wusste, dass das Feuer damals vorallem sein Gesicht zerstört hatte, doch war es tatsächlich so schlimm?

War er wirklich so eine Vollkatastrophe?

War er hässlich?

Sein Körper war kantig und knochig, egal was er aß, kein Gramm Fett schien zu bleiben. Sein Haar war schwarz und matt, während seine Augen ihm blau und erschöpft entgegen schimmerten.

Er sah ... Er wusste doch auch nicht, wie er aussah.

Er fühlte sich unzufrieden, unvollkommen, voller Imperfektionen. Er war keine Fernsehschönheit, doch er fühlte sich auch nicht hässlich. Nicht wirklich.

"Hässlich" war so ein extremes Wort.

Die Narben auf seinem Körper waren abschreckend und stellten einen massiven Kontrast zu seiner hellen, asiatischen Haut dar, doch "hässlich" würde er sie nicht nennen.

Er hatte doch auch keine Ahnung.

Am besten versuchte er einfach, diese Kommentare zu vergessen, wie jede Internetseite es ihm raten würde. Augen schließen, Schultern sacken lassen und tief durchatmen.

Das kalte Wasser schoss prickelnd wie Blitze durch seine Adern, als er sich langsam in die Wanne sinken ließ. Er musste die Beine anwinkeln, um ganz hinein zu passen, ein Fakt für den seine kleinen Geschwister ihn nur zu gern als "Giraffe" aufzogen.

Seufzend lehnte er seinen Kopf gegen das weiße Keramik der Badewanne und schloss die Augen.

Es war still und friedlich im Haus.

Draußen zwitscherte ein Ensemble aus Singvögeln ihre Melodien und die Grillen zirpten, wie sie es nur im Sommer taten. Sanft schwappte das Wasser über seine Gestalt und floss tropfenförmig seine Haut hinunter.

Kerzen Schein und Lavendelduft hätten das Ambiente noch vervollständigt, doch für den Moment gab er sich mit dem zufrieden, was er hatte.

Er atmete ein und aus, ließ seine Gedanken zur Ruhe kommen und entspannte seine müden Glieder.

Eine bessere Art, den Feierabend zu verbringen, fiel ihm nicht ein.

°

Als sein Termin immer näher und näher rückte, richtete er sich schließlich widerwillig auf und ließ das Wasser aus der Wanne.

Mit einem Handtuch trocknete er seine nasse Haut ab und rieb sanft über die Verbrennungen auf seinem Körper. Seine Knochen fühlten sich mittlerweile steif und alt an. Trotz des entspannenden Bades war der Schmerz nicht verschwunden und er sehnte sich regelrecht nach der Medizin, welche man ihm in Kürze verabreichen würde.

Nur mit dem Handtuch um seine Schultern geschlungen, tappte er schließlich in sein Zimmer und war erneut erleichtert darüber, allein in der Wohnung zu sein.

Die frische Kleidung lag kühl und sauber auf seiner Haut und er fühlte sich tatsächlich ein winziges Stück besser. Mit den Fingern strich er den weißen Stoff seines T-Shirts glatt und betrachtete sich von oben herab.

Seine Kleidung war langweilig normal. Insgeheim war er der Typ für schwarze Lederjacken und wuchtige Stiefel, irgendwas spezielles und so skandallöses, dass es sofort die Aufmerksamkeit auf dich zog.

Genau das war jedoch das Problem daran. Er wollte nicht aus der grauen Masse herausstechen. Zumindest nicht mehr. Er bekam sowieso schon viel mehr Aufmerksamkeit, als er ertragen konnte.

Er wollte doch einfach, dass die Leute ihn in Ruhe ließen und sich um ihren eigenen Kram kümmerten! War das zu viel verlangt?

(Du wirst es ihnen nie Recht machen, also hör auf, es so verzweifelt zu versuchen!)

Er nahm ein Zischen hinter sich wahr, welches ihn aus seinen Gedanken heraus riss und drehte sich um.

>>Hey, Dabi.<<

Sanft grüßte er das Tier, welches ihn hinter der Glasscheibe hervor aus seinen listigen, schwarzen Augen ansah.

Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen trat er näher und beugte sich ein Stück herunter, um seinen Gefährten besser ansehen zu können.

>>Wie geht's so? Ist dir langweilig, Kleiner?<<

Auf seine Frage folgte - wie erwartet - keine Antwort, sondern nur ein weiteres langgezogenes Zischen. Mittlerweile hatte er gelernt, die Geräusche halbwegs den Gefühlslagen und Bedürfnissen des Tieres zuzuordnen und dennoch rätselte er immer wieder aufs Neue.

Dabi hatte sich um einen dünnen Ast in seinem Terrarium gewunden und musterte ihn mit seinem typischen, leicht aggressiven Schlangenblick.

Ja.

Es war tatsächlich eine lebendige Schlange, die dort, nur durch wenige Zentimeter Glas von ihm getrennt, in seinem Zimmer hing. Er hatte Dabi vor zweieinhalb Jahren zu sich genommen und sich seitdem an dessen Anblick gewöhnt. Besucher erschraken jedoch nicht selten darüber, dass er eine gefährliche Giftschlange neben seinem Bett leben ließ.

(Nicht, dass er wirklich oft Besucher bekam.)

Bei seinem neuen Gefährten handelte es sich um ein besonders prächtiges Exemplar.

"Blaue Korallenschlangen" oder auch "Blaue Bauchdrüsenottern" genannt, zählten zu den südostasischen Giftnattern, welche der Mensch durch ihren natürlichen Fluchtinstinkt nur selten zu Gesicht bekam.

Sie waren schlanke, nicht überdurchschnittlich große oder kleine Vertreter ihrer Art, welche jedoch durch ihre einzigartige Farbgebung besonders herrausstachen. Kopf, Unterseite und Schwanzspitze waren in einen feurigen rot gehalten, während ihr Rücken in einem dunklen Blauton, wie der nächtliche Sternenhimmel, erstrahlte.

An den Flanken befand sich immer noch ein weißer oder hellblauer Streifen. Bei Dabi war es eher eine Mischung aus türkis und cyan.


>>Ich habe dich nicht vergessen, falls du mir das damit sagen willst. Ich weiß, dass heute Fütterungstag ist. Du bekommst heute Abend etwas.<<, redete er beruhigend auf das Reptil ein, auch wenn er wusste, dass es ihn nicht verstand.

Er hatte Dabi zufällig bekommen.

Er mochte Tiere. Sie waren die einzigen Wesen auf diesem Planeten, welche dich nicht ansahen und sofort über dich urteilten.

Er hatte sich sein Leben immer mit einer dicken Langhaarkatze vorgestellt, doch seine Narben und das damit einhergehende Infektionsrisiko hatten es allen potentiellen Vierbeinern schwer gemacht. Es hatte also etwas ohne Fell oder Federn sein müssen.

Als dann ein Zirkus in ihrer Nähe pleite gegangen war und seine Tiere verkaufen musste, war es quasi Glück im Unglück gewesen. Normalerweise ekelte sich seine Mutter schrecklich vor allen Arten von Reptilien, doch sie hatte einen Blick auf Dabi gewurfen und sofort entschieden, dass er zu ihnen gehörte.

Sie hatten extra ein Terrarium anfertigen lassen, welches sich über die Hälfte von Touyas Zimmerwand erstreckte und mit einer Rotlichtlampe und allen möglichen Grab- und Klettermöglichkeiten ausgestattet war. Wenn er ein Tier schon einsperrte, dann sollte sich diese wenigstens nicht wie ein Gefangener fühlen.

Bei Blauen Korallenschlangen handelte es sich in freier Wildbahn um Grabschlangen, welche sich gern in feuchtes Blätterwerk oder totes Laub wühlten, doch Dabi schien nicht fiel auf seine Artmerkmale zu halten und kletterte ebenso gern, wie er sich im Boden vergrub.

(Manchmal, wenn er allein in der Wohnung war, ließ er Dabi heraus und beobachtete, wie sich dieser durch die Wohnung schlängelte. Seine Mutter würde vermutlich einen Schreianfall bekommen, würde sie davon erfahren.)

>>Ich bin bald zurück und heute Abend bekommst du etwas zu futtern von mir. Versprochen.<<, verabschiedete er sich von dem Tier.

Einen Moment lang starrte die Schlange ihn noch aufmerksam aus ihren schwarzen Augen heraus an, dann wandte sie sich von ihm ab und widmete sich wieder ihren eigenen Angelegenheiten, nachdem sie gemerkt hatte, dass es von ihm nichts abzustauben gab.

Wenn er ihn so ansah, hatte Touya manchmal das Gefühl, dass Dabi schlauer war, als man vermutete, dass er genau in seine Seele blicken konnte, doch vermutlich war dies nur eine Einbildung seines Verstandes.

Er ließ es sich nicht zu nahe kommen, als menschlicher Futterspender missbraucht zu werden, sondern drehte sich nur schmunzelnd zu seinem Schreibtisch um.

Mit einem Blick auf die Uhr sammelte er sein Handy und seine Krankenkarte zusammen, verwahrte beide in der Tasche seiner Jeans und verließ sein Zimmer.

°

Er musste nicht lange im Wartebereich des Krankenhauses verharren, sondern wurde fast zeitgleich, dass er sich hinsetzen wollte, hereingerufen.

Die Ärzte kannten sein Gesicht mittlerweile und wussten, wie sie seine Termine schnellstmöglich abhacken konnten, sodass er in der Regel nie lange warten musste.

Oma Chiyo - so nannte er die Krankenschwester nur in Gedanken - begrüßte ihn mit einem ihrer herzlichen Lächeln, während er auf der weißen Liege Platz nahm.

>>Touya-San, schön dich zu sehen!<<

Die alte Dame war mit seiner Mutter vertraut und hatte bereits als Kleinkind die Untersuchungen an ihm durchgeführt, weshalb sie ihn stets beim Vornamen anredete.

Er grüßte zurück und überlegte beiläufig, ob sie sich wirklich darüber freute, ihn zu sehen oder ob es nur etwas war, was sie allen Patienten sagte. Er entschied, dass es keine Rolle spielte.

>>Wie geht es dir, mein Junge? Wir haben uns lange nicht mehr gesehen.<<

So lange nun auch wieder nicht.
Eigentlich schaute er jeden Monat mindestens einmal vorbei, doch auch dies entschied er schlichtergreifend zu ignorieren.

>>Es geht mir gut, Chiyo-San. Sie sehen auch gut aus. Sie haben eine leichte Bräunung bekommen. Waren Sie im Urlaub?<<

Er tat es schon wieder.

Von sich selbst und seinem mehr als turbulenten Gefühlschaos ablenken, indem er mit Gegenfragen antwortete.

Bei seinem Kompliment färbten sich die Wangen der Krankenschwester in einem verlegenen rot und sie grinste peinlich berührt.

Mit ihrer kleinen, faltigen Hand wanderte sie zu ihrem Kopf und zupfte an ihrem grauen Dutt herum. Ein wenig abwesend betrachtete er, wie einzelne Strähnen heraus fielen und sich auf ihren zarten Schultern kräuselten.

>>Du hast gute Augen, das muss ich dir lassen. Mein Ehemann und ich waren vor zwei Wochen in Thailand. Mit meinem Alter wollte ich eigentlich nicht mehr in den Flieger steigen, doch die weißen Sandstrände hatten es mir angetan.<<

Verträumt legte sie eine Hand an die Wange und starrte in die Ferne, als könnte sie die blauen Wellen und die sonnige Meeresoberfläche noch immer vor sich sehen.

>>Hach, die Sonne dort war herrlich! Warst du jemals dort?<<

Die Stimme der Frau war einem schwärmerischen Seufzen gewichen und noch immer lag ihr Blick in der Ferne.

Nach einem Moment rappelte sie sich schließlich wieder auf und lief langsam auf den Medizinschrank zu. Mit einem metallischen Geräusch zog sie eines der Schubfächer heraus und verglich einige der Ampullen darin miteinander, bevor ihr die richtige in die Hände fiel und sie diese triumphierend in die Höhe reckte.

>>Noch nicht. Meine Mutter wollte immer schon einmal Skandinavien sehen. Schweden oder Norwegen. Bisher hatte sich dazu leider noch keine Gelegenheit ergeben.<<, antwortete er leise.

Er ließ aus, dass es meist nicht an der Zeit, sondern am Geld fehlte. Seine Mutter war eine Alleinerziehende Frau mit vier Kindern. Auch, wenn sein Vater ihnen Unterhalt zahlte, so reichte es doch meist nur für Miete, Einkäufe und Geburtstagsgeschenke aus.

Das sollte keine Beschwerde sein. Er gab sich mit dem zufrieden, was er hatte, doch es fühlte sich tatsächlich ein wenig deprimierend an, die Ferien noch nie außerhalb von Japan verbracht zu haben.

>>Schade, Thailand ist ein wirklich atemberaubend schönes Land. Naja, Japan hat auch seinen Charme, nicht wahr?<<

Er nickte und sparte sich eine Antwort darauf.

Sein Leben war langweilig für eine Frau wie sie, welche ihm jedes Jahr von ihren nächsten Urlaubsreisen erzählte. Die großen Erlebnisse seines Tages bestanden darin, zur Schule und wieder zurück zu laufen und seine kleinen Geschwister zu unterhalten. Mehr war da nicht wirklich.

Stattdessen beobachtete er, wie Oma Chiyo eine Spritze mit dem Inhalt der Ampulle befüllte. Das Gift der blauen Korallenschlange.

Seit er Dabi zu sich genommen hatte, besuchte er regelmäßig einen Tierarzt, welcher dessen Giftdrüsen melkte. Zuerst hatte man die Substanz speziell entsorgt, bevor irgendein renommierter Forscher, dessen Name ihm entfallen war, herausgefunden hatte, dass es sich dabei um ein besonders Zellgift handelte, welches auf das Muskelgewebe wirkte.

In der Natur diente das Gift dazu, Feinde und Beute bewegungsunfähig zu machen, um diese im Anschluss zu fressen, doch in geringen Dosen verabreicht, erzeugte es einen lähmenden Effekt auf das Nervensystem und war eine Art Beruhigungsmittel für Menschen mit chronischen Schmerzen.

Seitdem spritzte man ihm Dabis Gift regelrecht als Droge und er konnte nicht behaupten, dass er sich nicht nach dem Kink sehnte.

Es wirkte stärker, als das übliche Globuli und betäubte den Schmerz für einen längeren Zeitraum.

Man konnte ihn Junkie nennen, doch er hatte gute Gründe und eine ärztliche Bestätigung.

>>Na dann, wollen wir?<<, fragte Oma Chiyo enthusiastisch.

Ihre Schritte waren schneller und selbstsicherer, als er es von Damen in ihrem Alter kannte, doch ihr Geist schien irgendwie noch nicht ganz bei ihrem Körper angekommen zu sein.

Aus stumpfer Gewohnheit heraus zog er den Ärmel seines T-Shirts nach oben und offenbarte die weiche, unbeschädigte Haut seines Oberarms.

Die Krankenschwester summte zufrieden und griff nach dem Desinfektionsmittel. Der sterile Geruch breitete sich prägnant und unangenehm in seiner Nase aus, während die Frau einen Spritzer davon dort verteilte, wo bei anderen Männern der Bizeps lag und die Flüssigkeit sorgfältig verrieb.

>>Wie geht es dir mit dem Schmerz? Ist es schlimmer gewurden? Du setzt deine Medikamente ja immer aus, bevor du herkommst.<<, redete sie auf ihn, während sie das Desinfektionsmittel zur Seite stellte.

Er wusste, dass sie versuchte, ihn abzulenken. Das tat sie immer.

Er hatte sich mittlerweile an das Gefühl einer Impfung gewöhnt und zuckte und zappelte nicht mehr herum, so wie er es getan hatte, als er noch klein und unberührt gewesen war.

Er nahm es schweigend hin und ertrug stumm den Schmerz, so wie alle Erwachsenen es von ihm erwarteten.

>>Es lässt sich aushalten.<<

Daraufhin warf sie ihm einen kritischen Blick zu und er seufzte schwer.

>>Was soll ich denn schon sagen? Es ist nie angenehm, aber ich halte es aus. Ich falle nicht mehr in Ohnmacht.<<

Früher, als die Narben noch frisch gewesen waren und sein Körper noch nicht gewusst hatte, wie er all den Schmerz, das Brennen und Ziehen, aushalten sollte, war er oftmals einfach umgekippt.

Der Schmerz war noch immer der gleiche, doch mit den Jahren war er selbst robuster gewurden und hatte gelernt, ihn besser zu händeln.

>>Oh, Touya. Du machst mir Sorgen, wenn du so etwas sagst.<<

Er antwortete nicht. Das musste er auch nicht.

Er konzentrierte sich auf das Gefühl, als die Nadel seine Haut durchstach. Es brannte und drückte ein bisschen. Der Muskel in seinem Oberarm zuckte leicht, doch er zwang seinen Körper dazu, still zu halten.

Präzise drückte Oma Chiyo seine Haut zwischen den Fingern zusammen und injizierte ihm Dabis Gift.

Das Mittel benötigte immer erst ein wenig Einwirkzeit, vielleicht war es also nur seine Einbildung, doch bereits jetzt fühlte es sich so an, als würden seine Kopfschmerzen langsam aufklären.

Nach ein paar Sekunden zog die Frau die Nadel wieder heraus und wischte das Blut vom Einstich. Ein rot-schwarzes Marienkäfer Pflaster landete darauf und noch im selben Moment wusste er, dass sich seine Geschwister heute Abend darum duellieren würden, wer das Pflaster abziehen durfte.

Er schob seinen Ärmel wieder nach unten und sah zu Oma Chiyo. Die alte Dame schaute ihn mit einem Ausdruck an, als würde sie etwas sagen wollen.

Er wusste nicht, ob sie ihn bemitleidete oder ob sie an die Zeiten zurückdachte, in welchen sie sein gesundes, kindliches Ich, ohne Narben und Beruhigungsmittelsucht, betreut hatte.

Er wollte nichts davon hören. Er wusste selbst am besten, was er verloren hatte.

Einen Moment lang betrachtete sie ihn stumm. Die Worte schienen ihr auf der Zunge zu liegen, doch sie schluckte sie herunter und drehte ihm stattdessen den Rücken zu.

>>Also dann, du kennst das Prozedere ja. Warte bitte noch ein wenig im Eingangsbereich und beobachte, ob fremdartige Symptome auftreten. Falls nicht, darfst du natürlich gehen. Ich wünsche dir ein schönes Wochenende, Touya.<<

Als die Frau sich erneut zu ihm wandte, lag das übliche, gutmütige Lächeln auf ihren Zügen, auch wenn es in diesem Moment vermutlich nicht ganz echt war.

Er bedankte sich kurz bei ihr und wünschte ihr ebenfalls ein erholsames Wochende, wie man es aus Gründen der Höflichkeit eben machte, bevor er Richtung Tür lief.

Das Schlangengift hatte noch nie irgendwelche bösartigen Nebeneffekte bei ihm gezeigt, dennoch nahm er noch einmal im Wartebereich Platz.

Kaum hatte er sich hingesetzt, vibrierte es in seiner Hosentasche und er zog skeptisch die Augenbraue hoch.

Ein Anruf?

Es kannte nicht viele Menschen, welche um diese Uhrzeit etwas von ihm wollen könnten. Ein Anruf bedeutete für ihn meist schlechte Neuigkeiten.

Nervös holte er sein Smartphone aus seiner Tasche heraus und betrachtete den angezeigten Namen auf dem Display.

Seine Mutter.

Sie war gerade mitten in ihrer Arbeitszeit. Normalerweise hätte sie gar keine Gelegenheit dazu gehabt, auf ihr Handy zu schauen.

Ein bitterer Klumpen formte sich in seiner Kehle. War etwas vorgefallen?

>>Hallo? Was ist denn los?<<, beantwortete er den Anruf.

Im Hintergrund vernahm er ein Gewusel an Stimmen, vermutlich die Kollegen seiner Mutter. Er hörte, wie sie sich ein Stück von der Geräuschskullise entfernte, sodass sie sich ungestört mit ihm unterhalten konnte.

Schließlich unterbrach ihr erleichtertes Seufzen die Stille.

>>Ah, Touya! Gut, dass du dran bist. Ich hatte schon Angst, dass ich dich nicht erreichen würde.<<

Ihre Stimme war so freundlich, wie sie es immer war, doch er kannte sie gut genug, um den Stress und die Hektik darin herauszuhören.

>>Ist etwas vorgefallen?<<

Am anderen Ende herrschte kurz Stille. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn nicht verstanden hatte oder ob sie nicht wusste, was sie darauf antworten sollte. Es beunruhigte ihn nur noch mehr, doch er entschied sich dazu, zu warten.

>>Du meinst, weil ich dich angerufen habe? Ach nein, nein! Es ist nichts passiert. Ich habe nur eine Bitte an dich. Bist du gerade beschäftigt?<<

Bei ihrer Antwort fiel ihm ein kleiner Stein vom Herzen. Man mochte ihn paranoid nennen, doch er hatte sich schon um seine Mutter gekümmert, seit er denken konnte.

Früher hatte ihr gesamtes Wohlergehen von ihm abgehangen, also war es eine Gewohnheit, welcher er nur schwer ablegen konnte ...

>>Ich bin noch im Krankenhaus.<<

>>Du bist im Krankenhaus?? Geht es dir denn gut?<<

Die plötzliche, unbegründete Panik in ihrer Stimme ließ ihn auflachen. Er nahm es ihr nicht übel, dass sie sich nicht an jeden seiner Termine erinnerte, immerhin waren da noch drei weitere Kinder, welche die selbe Aufmerksamkeit von ihr verlangten.

>>Ich wurde gerade geimpft. Du weißt doch, meine monatliche Portion Gift.<<, erklärte er unter Verwendung ihres kleinen Insiders.

Er hörte, wie sie sich beruhigte und dann verlegen kicherte.

>>Oh. Richtig. Tut mir Leid, ich hatte es schon wieder vergessen. Geht es dir trotzdem gut, Spatz?<<

Geht es dir gut, Touya?

Er hasste diese Frage, denn sie bedeutete, dass er ein falsches Lächeln aufsetzen und so tun müsste, als würden all seine Probleme nicht existieren.

Manchmal wünschte er es sich, offen und ehrlich mit einer Person über ... einfach alles sprechen zu können. Alles, was in seinem Leben so falsch lief.

Da war jedoch diese leise Stimme in den Tiefen seines Verstandes, welche ihm immer wieder die gleichen Sätze zuflüsterte.

Würden sie davon wissen, würden sie dich nie wieder mit den selben Augen sehen.

Alle würden dich hassen.

Du bist ein Versager, ein Schwächling!

Willst du, dass deine Familie dich hasst?

>>Es geht mir gut ... <<

Die Worte hingen schwer zwischen ihnen. Jemanden, den er liebte, anzulügen, fühlte sich immer so an, als würde er ersticken.

Besser als ihr die Wahrheit zu sagen.

>>Du hattest eine Bitte an mich?<<

Er lenkte das Gespräch bewusst zu dem eigentlichen Grund zurück, weshalb sie angerufen hatte. Er hatte keine Kraft dazu, das Thema über seine Gefühlslage noch weiter auszubauen.

Weil du ein Schwächling bist, Touya!

>>Richtig, richtig! Kannst du heute Shoto aus dem Kindergarten holen? Ich hätte es selbst getan, doch zwei Kollegen sind spontan krank gewurden und jemand muss ihre Schicht übernehmen. Ich werde heute etwas später kommen.<<

Ein nervöses Kribbeln breitete sich in seinem Bauch aus.

Er hatte kein Problem damit, seinen Bruder zu holen. Die Erwachsenen waren das Problem.

Jedes Mal, wenn er die Einrichtung betrat, durchbohrten sie ihn mit ihren feindseligen Blicken. Sie wollten ihn nicht dort haben. Das mussten sie ihm nicht einmal verbal verdeutlichen.

Sie dachten von ihm als Behinderten, welcher einen Betreuer benötigte. Einmal hatte ein Kind durch sein vernarbtes Äußere so laut zu weinen und zu schreien begonnen, dass die Erzieher ihn im hohen Bogen durch das Tor gejagt und Shoto nachträglich zu ihm gebracht hatten.

Er würde niemals ihre abwertenden Blicke vergessen, so als wäre er irgendeine Art von Monster, nur weil er Narben auf dem Körper und im Gesicht hatte.

>>Oh Mann, du weißt doch, wie alle wieder reagieren werden. Am Ende lassen sie mich nicht einmal herein, weil ich so "schrecklich" bin.<<

Seine Schultern sackten deprimiert ein, als er seufzte und sich mit der Hand über das Gesicht fuhr. Der Mann gegenüber von ihm im Wartebereich sah ihn seltsam an, doch er ignorierte es.

Am anderen Ende der Leitung vernahm er ein zorniges Schnaufen und kurz darauf die entschlossene Stimme seiner Mutter.

>>Du bist nicht schrecklich, Spatz. Ich kann diese Tratschtanten auch nicht leiden. Tu mir den Gefallen und ignorier sie einfach, okay?<<

Es klang so leicht, wenn Andere dies sagten. Zu leicht ...

>>Okay.<<

Seine Mutter musste gemerkt haben, wie seine Stimmung kippte, denn er hörte, wie ihre Stimme weicher und sanfter wurde. Fast wie zu den Zeiten, als sie ihn im Arm gehalten und sanft auf und ab gewogen hatte.

>>Ignorier sie wirklich, Touya. Niemand von diesen Frauen kennt dich. Sie beurteilen dich nur nach deinem Äußeren.<<

>>Ich weiß. Das sagst du mir jedes Mal.<<

Er hatte diese Ratschläge schon so oft gehört.

Ignorier sie einfach! Tu so, als würden sie nicht wenige Meter von dir entfernt stehen und dich mit ihren Blicken verbrennen.

Er konnte es nicht einfach ignorieren. Er konnte nicht so tun, als würde all der Hass auf ihn nicht existieren. Damit würde er nur seine eigene Existenz verleugnen.

>>Weil es das einzig richtige ist, Touya! Du hilfst mir wirklich sehr weiter, wenn du Shoto holst. Ich kann mir nicht frei nehmen und wenn ich Schluss habe, ist der Kindergarten schon geschlossen, verstehst du?<<

Er seufzte schwer.

Natürlich würde er Shoto holen, das war von Anfang klar gewesen. Seine Mutter durfte jedoch ruhig ein bisschen spüren, dass sie ihn mit seiner neuen Aufgabe nicht glücklich machte.

>>Ja, ich versteh schon. Wenn diese Puten sich allerdings wieder darüber beschweren, dass niemand anderes von uns kommen konnte, sage ich ihnen, dass du mich geschickt hast. Dann kannst du das später mit ihnen ausbaden.<<, erklärte er trocken.

Er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, denn er wusste, dass es ganz genau so eintreten würde. Das helle Lachen seiner Mutter tönte zu ihm herüber, sie wusste ebenfalls, dass er gerade ihre Zukunft vorausgesagt hatte.

>>Ich schätze, das ist nur fair. Dann holst du heute Shoto und ich verteidige beim nächsten Mal deine Ehre vor diesen Schnepfen.<<

Nun musste er auch lachen, doch hielt sich dabei so gut zurück, wie er konnte. Seine Narben mochten es nicht in einem weiten Lächeln gespannt zu werden und tendierten dazu, schnell einzureißen. Vorallem an den Mundwinkeln.

>>Deal!<<

Einen Moment lang herrschte eine friedliche Stille zwischen ihnen.

Er hatte nicht das Bedürfnis dazu, etwas zu sagen und seine Mutter anscheinend auch nicht. Sie beide genossen diesen kleinen Augenblick der Harmonie, bevor die Realität sie schließlich von Neuem einholte.

Eine tiefe, männliche Stimme schaltete sich am anderen Ende der Leitung ein. Es war zu dumpf, um die genauen Worte auszumachen, doch seine Mutter unterhielt sich kurz mit dem Neuling, bevor sie sich wieder an ihn wandte.

>>Ich muss auflegen. Danke, dass du Shoto holst. Du tust mir damit einen echten Gefallen.<<

Er versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

Es war immer so, wenn er versuchte, richtigen Kontakt zu seiner Mutter herzustellen. Sie führten ein wenig Smalltalk, um die Stimmung zu lockern, doch schafften es nie weiter. Jedesmal, wenn er versuchte, diese Grenze zu überschreiten, drängte sich irgendjemand dazwischen und forderte ihre gesamte Aufmerksamkeit. Er entriss sie aus seinen Händen, während er nichts anderes tun konnte, als stumm zuzusehen.

Er versuchte, nicht besitzergreifend zu sein. Sie war ein Mensch und kein Gegenstand, welchen man ganz für sich allein beanspruchen konnte.

Es war doch dämlich. Er war verdammte 17 Jahre alt und sollte mit Freunden ausgehen, statt seiner Mutter hinterher zu trauern!

Es war nur eben so, dass sie der wichtigste Mensch in seinem Leben war. Er war mit ihr zusammen einmal durch die Hölle und wieder zurück gegangen.

Seine Kindheit war nicht fröhlich und erfüllt gewesen. Er hatte um jedes Fünkchen Glück kämpfen müssen und seine Mutter war jedes Mal das Licht am Ende des Tunnels gewesen. Sie hatte ihn wieder auf die Füße gezogen, wenn er gefallen war. Sie hatte seine Tränen getrocknet und seine Stirn geküsst. Sie hatte ihn durch die schwersten Zeiten seines Lebens begleitet, ohne sich auch nur einmal zu beschweren.

Jetzt, wo das vermeintlich Schlimmste überstanden war, fühlte es sich so an, als würde sie sich immer weiter von ihm entfernen. Als wäre er ein Problem, welches es zu lösen gegalten hatte und nun, wo ihre Hilfe nicht mehr erfordert war, hatte sie endlich die Zeit dazu, sich anderen Dingen zu widmen.

Es war unfair und undankbar, so zu denken. Er wusste, dass sie ihn liebte.

Er wusste es, doch er wurde das Gefühl nicht los, dass er nur ein Problem für sie war, welches all ihre Zeit und Energie raubte.

>>Gern geschehen. Muss ich noch Fuyumi und Natsuo holen oder werden sie von den Eltern ihrer Freunde gebracht?<<, wechselte er das Thema.

Er wechselte immer das Thema, bevor seine bitteren Gedanken zu viel wurden.

>>Ich denke, ich schaffe es, sie zu holen. Danke, Touya. Wir sehen uns heute Abend.<<

Heute Abend ...

Seine Mutter würde müde von der Arbeit sein, etwas essen, sich um seine Geschwister kümmern und dann voller Erschöpfung ins Bett fallen. Auch da würde keine Zeit für ein ernsthaftes Gespräch bleiben.

(Gib auf, Touya! Du hast verloren, also gesteh es dir endlich ein.)

>>Sayonara. Ich hab dich lieb.<<

Er hörte, wie seine Mutter kurz inne hielt. Als sie schließlich antwortete, war ihre Stimme warm und weich und für einen Moment hatte er die Illusion, dass es zwischen ihnen noch genau so war wie in früheren Zeiten.

>>Ich hab dich auch lieb, Spatz. Mach's gut.<<

Dann legte sie auf und ließ ihn allein in der Stille zurück.

°

Dabis Gift hatte seine Wirkung gezeigt.

Seine Schmerzen waren nicht verschwunden, sie waren nur betäubt, doch er fühlte sich fitter und vitaler. Ein bisschen mehr wie ein normaler Mensch, statt ein wandelndes Brandopfer.

Shoto lief neben ihm an seiner Hand und erzählte ihm von einem Streit mit einem anderen Kindergartenkind. Für einen Fünfjährigen war dieser ganz schön sachlich und ausgeglichen, während er davon berichtete, wie er eine handvoll Sand ins Gesicht kassiert hatte und die Schlacht im Sandkasten daraufhin erst so richtig los gegangen war.

>>Ich habe es ihm richtig gezeigt! Er hat danach angefangen zu heulen und ich nicht, also habe ich gewonnen. Bist du stolz auf mich, Touya-Nii?<<

Nachdenklich blickte er in die blau-grauen Augen seines Bruders, welche ihn erwartungsvoll musterten.

Er war kein Fan von physischer Gewalt. Er versuchte, Konflikte mit Worten zu lösen, um unnötige blaue Flecken zu vermeiden, doch das würde ein Fünfjähriger nicht verstehen.

>>Ich bin stolz auf dich, weil du dir nicht alles bieten lässt. Manche Leute sind gemein zu dir und beleidigen dich und meistens werden sie nicht damit aufhören, dich zu beleidigen, bis du sie zurück beleidigst.<<

Er sprach langsam, damit Shoto auch alles verstand.

Es war seltsam, dass gerade er so etwas sagte, wenn er an seine Begegnungen mit Muscular zurückdachte.

>>Beleidigen dich Leute manchmal?<<, fragte der Junge.

Neugierig legte er den Kopf schief, sodass ihm seine rot-weißen Strähnen in die Stirn fielen. Sein pausbäckiges Gesicht war voller kindlicher Unschuld, während seine zweifarbigen Augen so klar und aufmerksam waren, als würden sie sich geradewegs in seine Seele bohren.

Er schluckte schwer. Verdammt, ihm lag mehr an diesem Kind, als er zugeben konnte!

Eigentlich war es ironisch. Shoto war der Grund für all sein Leid. Dafür, dass es erst soweit kommen konnte, doch er brachte es einfach nicht über sich, seinen kleinen Bruder zu hassen.

>>Ja. Es gibt immer Leute, die dich beleidigen und nicht leiden können, egal wie alt du bist.<<

Shoto zog ein langes Gesicht, nachdem er seine Antwort von Touya bekommen hatte. Seine rosanen Lippen zogen sich zu schmalen Linien zusammen und seine Augenbrauen krampften zornig aneinander.

Er sah so aus, als würde er am liebsten alle Ungerechtigkeiten der Welt mit seinen winzigen Fäusten bekämpfen wollen.

>>Das ist gemein!<<

Er lachte leise. Wenn man so alt war wie Shoto kam es einem gemein und ungerecht vor. Wen man so alt war wie Touya sah man es eher als einen Bestandteil der Welt. Einen unveränderlichen Fakt, der zu tief verankert war, um ihn herauszureißen.

Menschen beleidigten und verletzten einander. So war das Leben.

>>Ich weiß. Später bist du älter und kannst besser damit umgehen.<<

Fühlte er sich alt genug, um damit umzugehen? Eher nicht.

Der Junge sah ihn skeptisch an. Der Blick wirkte zu alt für dessen rundes Gesicht, so als wäre dieser innerhalb weniger Minuten um einige Jahre gereift.

Shoto wirkte immer ein bisschen älter, als er eigentlich war. Vielleicht liebte er das Kind deshalb so sehr. Weil er nicht so leichtgläubig und naiv wie andere in seinem Alter war. Weil er nicht jede Aussage blind hinnahm, sondern selbst darüber nachdachte.

Heute musste sich sein Bruder dazu entschieden haben, seine zweifelhafte Aussage fürs Erste so hinzunehmen, denn einen Moment später packte er Touyas Hand nur fester und schüttelte sie aufgeregt.

>>Nii-San, kochst du heute etwas leckeres?<<

Er schmunzelte, als er dies hörte.

Shoto sah ihm immer gern beim Kochen zu, doch noch viel lieber sah dieser seine Kochkünste vor sich auf seinem Teller.

>>Auf was hast du denn Lust?<<

>>Soba!!<<

Wozu eigentlich fragen?

Jeder, der mit Kindern oder kleinen Geschwistern zusammenlebte, wusste, dass Nudeln ein absolutes Muss waren. Wenn es nach dem Sturkopf neben ihm ging, sollte es am besten jeden Tag Soba geben, egal was die Anderen sagten.

Der Junge war völlig begeistert von seiner eigenen Idee, sodass er aufgeregt nach oben und unten hüpfte und Touyas Hand in seinem Griff zerquetschte.

Die Passanten, welche an ihnen vorbei liefen, warfen ihnen seltsame Blicke zu, doch er ließ sich davon nicht beeindrucken. Er hatte schon wesentlich schlimmere Dinge erlebt, als angeekelt angestarrt zu werden. Es war ja nicht so, als würde er die Leute dazu zwingen, in seine Richtung zu sehen. Jeder, der mit seinem Äußeren also ein Problem hatte, ging ihm entschieden am Arsch vorbei.

(Naja, nicht immer. Jetzt gerade fühlte er sich jedoch gut, also hielt er auch diese abfälligen Blicke aus.)

>>Und Eis!<<, riss ihn die hohe Stimme seines Bruders aus seinen Gedanken.

Er blinzelte und war im ersten Moment so perplex, dass er nicht wusste, was er darauf antworten sollte. Dann sah er zu seinem Gegenüber, blickte in dessen aufgeregtes Gesicht und legte fragend den Kopf schief.

>>Was?<<

Shoto ließ sich von der Frage nicht beirren und hüpfte nur weiterhin wie vom Floh gebissen neben ihm her.

>>Soba und Eis!<<, rief der Fünfjährige und klatschte wild in die Hände.

Er selbst zog nur skeptisch eine Braue hoch, bevor er in Gelächter ausbrach.

Genau für diese Dinge liebte er seine Geschwister, seine Familie. Sie waren die einzigen Personen, welche ihn für eine kurze Zeit lang von den Schatten ablenken konnten, welche sich auf seine Seele gelegt hatten.

Sie brachten ihn zum Lachen und beschäftigten ihn an manchen Tagen so lange, dass er Abends glücklich und erschöpft ins Bett fiel, ohne dass Gefühl zu haben, beim nächsten Mal etwas besser machen zu müssen.

Vielleicht waren sie seine Schutzengel.

Sie alle. Seine Mutter, Natsuo, Fuyumi und Shoto.

Er wusste nicht, ob irgendein Gott sie ihm gesandt hatte, um sein miserables Leben ein wenig besser zu machen. Er wusste nur, dass er ohne sie schon längst etwas sehr, sehr dummes getan hätte.

>>Du kannst nicht Soba mit Eis essen. Entweder das Eine oder das Andere. Beide zusammen funktionieren einfach nicht, Buddy.<<, lachte er.

Shoto sah so aus, als würde er protestieren wollen und er stellte fest, dass es ihm nichts ausmachte, eine Diskussion mit diesem zu führen.

Solange seine Familie bei ihm war, ging es ihm gut.

In ihre fröhlichen und lächelnden Gesichter zu blicken, betäubte den Schmerz in seinem Inneren. Mehr als jedes Gift und jedes Medikament es jemals könnten.

Er brauchte sie in seinem Leben. Er brauchte sie mehr als alles andere.

Ohne sie würde er vermutlich sterben.

°

Das Klicken des Schlosses und kurz darauf das Öffnen der Haustür unterbrachen seine Gedanken.

Der Abend hing dunkel und schwer in der Luft, während kleine Dampfwolken vor seinen Augen in die Luft stiegen.

Das Nudelwasser blubbert und kochte, während er das Gemüse für das Abendessen schnitt.

Soba. Ohne Eis.

Shoto konnte so große Augen machen, wie er wollte, doch auf diese Art würde ihn nicht einmal Touya verwöhnen. Sein Bruder hatte die gesamte Zeit über neben ihm am Tisch gesessen und ihm beim Kochen zugesehen, während sie beide über belanglose Alltagsthemen geredet hatten.

Das spontane Öffnen der Haustür hatte ihre kleine, friedliche Szene durchschnitten. Er hatte gar nicht erst bis 3 zählen können, so schnell war Shoto verschwunden gewesen.

>>Mama! Mamaaa!<<

Er hörte die aufgeregten Stimmen im Eingangsbereich und grinste sich selbst zu.

Ihre Mutter bedeutete ihnen allen mehr als die Welt. Sie war der Knoten, der sie alle zusammenhielt. Ihre kleine, chaotische und mehr als turbulente Familie.

Er stand nicht auf, um sich zu dem Gewusel im Eingangsbereich dazuzugesellen, ihr Flur war so schon schmal genug. Stattdessen schnitt er weiterhin Gemüse für das Soba und behielt das Nudelwasser im Auge.

Seine Abenden sahen meist so aus. Er hatte keine Zeit dazu, sich vor den Fernseher zu setzen und seine Freitage mit Serien oder Videospielen zu verbringen, doch er vermisste es auch nicht.

Er hatte nichts dagegen, den Ersatzvater zu spielen, wenn sein eigener sich schon einen Scheißdreck für ihre Familie interessierte.

Es war eine weitere Pflicht auf seinen fragilen Schultern und manchmal fühlte es sich so an, als würde sie ihn erdrücken, doch er wusste auch nicht, was er ohne sie tun sollte. Es war eine Aufgabe, auf die er sich konzentrieren konnte, statt seine Zeit damit zu verbringen, in seinem eigenen Selbstmitleid zu baden. Sie war kompliziert und verantwortungsvoll, doch sie bewahrte ihn vorm Untergehn. Sie -

>>Hallo, Spatz.<<

Er fuhr zusammen, als eine Stimme die Stille durchbrach, an welche er sich gewöhnt hatte.

Das Messer kam nur wenige Millimeter neben seinem Finger auf und er benötigte einen Moment, um tief durchzuatmen und sich zu beruhigen.

>>Habe ich dich erschreckt? Tut mir Leid, das wollte ich nicht.<<

Langsam sah er auf und blickte in die grauen Augen seiner Mutter. Normalerweise war grau eine triste und deprimierende Farbe, doch ihr grau war so viel wärmer und wunderschön.

Er seufzte und schüttelte sich einmal, bevor er sich zu einem selbstsicheren Gesicht bemühte. Er war schon immer schreckhaft gewesen und fühlte, wie sein Herz wild in seiner Brust schlug.

>>Nein, nein! Geht schon. Ich war nur etwas ... in Gedanken versunken.<<, erklärte er schnell.

Er sah sie schmunzeln, ein freundlicher und aufrichtiger Ausdruck. Einen Moment später fiel ihr Blick jedoch auf den Kochtopf und das Schneidebrett vor seinem Körper und ihr Gesicht fiel in sich zusammen.

Sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, doch er kannte sie gut genug, um ihre Gefühle wie ein offenes Buch zu lesen.

>>Arbeitest du schon wieder? Ich weiß, dass ich nie viel Zeit habe, wenn ich nach Hause komme, aber du musst nicht den gesamten Haushalt allein übernehmen. Du kannst sagen, wenn es dir zu viel wird, Touya.<<

Sie klang so liebevoll und fürsorglich, dass sein Herz ein wenig verkrampfte. Vielleicht sollte er nicht sie damit beschuldigen, sich von ihm zu entfernen. Vielleicht war er selbst es, welcher die unsichtbare Distanz zwischen ihnen immer weiter vergrößerte.

Er redete nicht mit ihr. Nicht über die wirklich wichtigen Dinge in seinem Leben. Wenn er danach gefragt wurde, schwieg er oder redete sich mit Gegenfragen heraus. Er setzte ein falsches Lächeln auf und versicherte allen Leuten, dass es ihm "gut ging".

Er wusste, dass es dumm war. Er schwieg und beschwerte sich danach darüber, dass er mit niemanden eine offene, ehrliche Beziehung führen konnte.

Er ... Er hatte Angst.

Er fürchtete sich davor, dass man sich angeekelt von ihm abwenden würde. Dass man ihn hassen würde. Womöglich war seine Angst unbegründet, doch vielleicht war sie es auch nicht. Die zweite Option wog zu schwer, um das Risiko einzugehen.

>>Ja, ich weiß. Shoto hatte Hunger und er muss sowieso bald ins Bett. Ich wollte das ganze einfach ein wenig beschleunigen.<<, erwiderte er.

Er wusste selbst nicht, wieso er verlegen wurde, doch es fiel ihm schwer, die richtigen Worte zu finden.

Seine Mutter schnalzte mit der Zunge und brummte etwas Unverständliches vor sich hin. Sie wirkte nicht überzeugt von seiner Aussage - überhaupt nicht überzeugt - und musterte ihn mit einem prüfenden Blick. Ihr Gesicht war ernst - ernster als ihm - lieb war und sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt.

War sie sauer?

Hatte er sie verärgert?

>>Wenn du meinst ... <<

Sie sprach die Worte in einer tonlosen Stimme aus. Er konnte nicht sagen, ob sie enttäuscht von ihm war oder ob es der Alltagsstress war, welcher aus ihr sprach. Er wusste nur, dass er den Ausdruck in ihrem Gesicht nicht mochte.

>>Bist du sauer auf mich?<<

Zurückblickend würde er sich vermutlich darüber schämen, dass er nicht mal seiner eigenen Mutter eine Frage stellen konnte, ohne dabei unterwürfig zu Boden zu sehen.

Er war schwach und feige, das wusste er. Jedoch hielt er diesem Blick der grauen Augen vor ihm nicht stand. Er wollte seine Mutter nicht anschauen und Enttäuschung in ihrem Blick erkennen.

>>Was?<<

Aus der Ernsthaftigkeit in ihrem Gesicht wurde Überraschung und danach Perplexität. Sie schien seine Frage nicht kommen gesehen zu haben und er schöpfte neuen Mut.

>>Bist du sauer auf mich, weil ich dir nur Sorgen bereite?<<

Manchmal war Zeit seltsam.

Erst verging sie ganz zäh. Seine Mutter starrte ihn schweigend an und er starrte stumm zurück, während er beobachtete, wie sich die Emotionen in ihrem Gesicht langsam änderten.

Dann ging plötzlich alles ganz schnell. Erst war da Perplexität, dann Schock und schließlich ... Schuld?

>>Was? Nein! Nein, Touya. Ich bin nicht sauer auf dich, Spatz. Wieso sollte ich denn sauer auf dich sein? Du nimmst mir freiwillig Arbeit ab und beschwerst dich nicht einmal. Ich sollte viel mehr sauer auf mich sein!<<

Sie sprach schnell. Sie schnell und spontan, dass er wusste, dass es kein einstudierter Text war.

Er wollte etwas antworten, es fühlte sich falsch an, sie einer Lüge zu beschuldigen, doch sobald er den Mund öffnete, blieben die Worte stecken. Ihm saß ein Kloß im Hals, der mit jeder Sekunde immer dicker wurde und ihn am Atmen hinderte.

Er nahm einen zittrigen, kaum hörbaren Atemzug und starrte zu Boden. Ein Moment verging still und schwer zwischen ihnen, bevor er ihr Seufzen hörte und im Augenwinkel sah, wie sie sich vorsichtig vor ihn kniete.

>>Hey, Touya.<<

Ihre Stimme war nun anders. Irgendwie weicher und leichter zu ertragen, ohne sofort einen Kloß in der Kehle zu bekommen. Vielleicht lag es daran, dass sie wusste, dass er nicht über bedeutungsschwere Themen sprechen wollte.

Er redete sich gern ein, dass er sie wie ein offenes Buch lesen konnte, doch sie kannte ihn mindestens genau so gut.

>>Wie war die Impfung heute? Sind die Schmerzen besser gewurden?<<

Nun sah er doch auf. Manchmal fragte er sich, was sie wohl über ihn dachte.

Sie hatte drei völlig gesunde, lebhafte und glückliche Kinder und dann kam er.

Er war nicht gesund, weder physisch, noch psychisch. Er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, niemandem zur Last zu fallen, doch er wusste, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Dass er nicht ganz richtig im Kopf war.

Er dachte über Dinge nach, über welche niemand in seinem Alter nachdenken sollte. Er sah ein Monster, jedes Mal, wenn er in den verdammten Spiegel sah.

Merkte sie ihm das an?

>>Gut. Ja, ich ... Ich fühle mich gut. Ich habe keine Schmerzen mehr, wenn ich mich bewege. Das ist schön.<<

Aufmerksam musterte sie ihn aus ihren warmen, grauen Augen heraus. Ein kleines Lächeln lag auf ihren Lippen, doch er war sich nicht sicher, ob es Erleichterung oder versteckte Trauer verkörperte.

Womöglich beides?

>>Du solltest gar keine Schmerzen haben, aber ich bin froh, dass es dir besser geht, Touya.<<

Nachdem sie dies gesagt hatte, streckte sie eine Hand in seine Richtung aus und fuhr ihm durch das dicke, schwarze Haar. Der Kontakt kribbelte auf seiner Haut und er fühlte einen angenehmen Schauer seine Wirbelsäule hinunter jagen.

Eigentlich mochte er es nicht, wenn Andere ihn anfassten. Berührungen bedeuteten für ihn Schmerz und Angst, doch ihre Geste war so warm und liebevoll, dass er sich ein wenig in ihre Handfläche lehnte.

>>Darf ich weitermachen oder bist du schon zu alt dafür?<<, murmelte sie sanft vor sich hin.

Er blinzelte, von der warmen Berührung ein wenig aus dem Konzept gebracht, bevor er nickte.

>>Mach weiter. Kopfmassagen sollen Nackenschmerzen und Migräne vorbeugen.<<

Sie kicherte ein wenig und betrachtete ihn so liebevoll, dass er am liebsten geschmolzen wäre.

Sanft strich sie ihm einzelne Strähnen von der Stirn und steckte sie hinter seinem Ohr fest, wie sie es getan hatte, als er noch klein gewesen war.

>>Ich treffe mich morgen mit jemanden aus meinem Philosophiekurs. Wir müssen ein Projekt zusammen machen.<<, erklärte er langsam.

Noch immer spürte er kalten Schweiß in seinen Achselhöhlen und ein nervöses Kribbeln in seinem Bauch, wenn er an Tomura dachte. Der Junge war so nett zu ihm gewesen. Er hatte ihn angelächelt und nicht einmal etwas Unpassendes von sich gegeben.

Er ist nicht wie Muscular.

Ja, das wusste er. Tomura war freundlich und aufmerksam. Kein Stück wie dieser blondhaarige Tyrann!

Er wurde jedoch das Gefühl nicht los, dass das Treffen morgen eine sadistische Falle war, so sehr er auch versuchte, gegen diesen Gedanken anzukämpfen.

Hör auf, alles immer negativ zu sehen!

>>Oh, wirklich? Und kenne ich diesen "Jemand" oder ist er ein neuer, mysteriöser Typ, über den du mir nichts erzählen willst?<<

Seine Mutter hatte ein breites Grinsen im Gesicht, während sie ihn neugierig betrachtete. Er spürte Verlegenheit in sich hochkommen und kratzte sich peinlich berührt am Hinterkopf.

>>Naja, sein Name ist Tomura Shigaraki. Er ist dieses Jahr neu an unsere Schule gekommen. Er ist ... nett. Keine Ahnung, ganz normal halt.<<

Er versuchte, das ganze mit einem Schulterzucken wie keine große Sache wirken zu lassen, doch mit jedem Wort, welches seine Lippen verließ, wurde das Grinsen seiner Mutter breiter und breiter.

Ihre Hand lag nun an seinem Oberarm und strich sanft über seine Haut. Die vielsagenden Blicke, die sie ihm zuwarf, machten ihn fertig.

>>"Nett" also? Ist das schon alles, was du mir über ihn verraten willst? Wie sieht er denn aus? Ich hoffe doch mal heiß.<<

Als sie charmant mit den Augenbrauen wackelte, fühlte er sein Gesicht erhitzen. Eine feurige Schamensröte, die von seinen Ohren ausging und bis zu seinen Wangen reichte.

Er war selbst Schuld. Er sprach nie über irgendwelche Freunde oder Klassenkameraden und jetzt das. War ja klar, was sie dachte!

>>Mama, hör auf! Er ist nett und nicht mehr! Wir kennen uns noch nicht mal so gut.<<, rief er empört.

Seine Worte bewirkten nur, dass sie in lautes Gelächter ausbrach und ihn schmunzelnd ansah.

>>Aber das lässt sich ja schnell ändern, nicht wahr? Du musst dem ganzen nur ein wenig Zeit geben ... <<

>>Da wird nichts draus! Er ist reich und wird sicher mal irgendeine Millionen Erbin zur Frau nehmen. Wie gesagt, wir kennen uns noch nicht mal richtig.<<, versuchte er das Gespräch abzuwürgen.

Er hätte im Voraus ahnen sollen, dass diese Taktik nicht funktionierte, denn Rei Todoroki war genau so zäh und dickköpfig, wie er selbst.

>>Ich habe ja nicht gesagt, dass ihr gleich heiraten müsst. Ihr seid beide fast erwachsen, also habt ein wenig Spaß! Als ich so alt war wie ihr - <<

Bevor er sich die mehr als unangebrachten Abenteuer ihrer Jugend anhören musste, unterbrach er sie hastig. Er war so schon rot genug.

>>Mama! Gott, das will ich gar nicht wissen!<<, stöhnte er.

Seine Wangen glühten und er verdeckte sein Gesicht mit den Händen. Ihr lautes Lachen hallte in seinen Ohren. Schnell verbannte er jegliche unangebrachten Bilder und Gedanken aus seinem Kopf.

Das war eine Unterhaltung, welche er definitiv nicht mit seiner Mutter führen wollte!

>>Naja, ich wünsche euch jedenfalls viel Spaß für morgen. Spaß, aber nicht zu viel. Ich will nicht, dass du deinen Hals danach mit Make-Up abdecken musst!<<

Spaß ...

Oh, den würde er definitiv haben.



>> the end <<

Nächstes Kapitel:
Touya besucht Tomuras Zuhause and things get more emotional than expected.

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Wow, Touyas Leben ist ein echtes Feuerwerk aus glücklich und traurig. Du denkst, es geht gut weiter, aber dann kommt irgendeine böse Wendung um die Ecke und haut alles wieder um ...

Irgendwie gehen die Kapitel trotzdem meist gut aus! 😁

- julislifestyle

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