4. Die Freakfamilie

Playlist:

Be Kind
- Marshmello, Halsey

"Familie"

Gruppe aller miteinander [bluts]verwandten Personen; Sippe

- by julislifestyle -

Tomura

>>Du weißt, dass dieser Scheiß dich eines Tages umbringen wird, oder?<<, murrte er und drehte das Gesicht genervt von dem grauen Rauch weg.

Der Gestank von Nikotin lag in der Umgebung, legte sich schwer auf seine Kleidung und raubte ihm die Luft zum Atmen. Man könnte meinen, dass er ein Problem mit Rauchern hatte, doch er hasste es einfach, wenn jemand sein persönliches Vergnügen zum Schaden anderer auslebte.

Jin schienen Lungenkrebs und verstopfte Gefäße jedoch nicht zu interessieren. Er war ein großer und schlanker Junge. Etwa 1,90 Meter. Mit kurzen, blonden Haaren und einer breiten Narbe auf der Stirn, über deren Herkunft er nicht sprechen wollte. Dessen Tag bestand gewöhnlich daraus, nichts zu tun oder sich darüber zu beschweren, wie stressig sein Leben doch war. Gelassen nahm der Junge einen weiteren Zug seiner Zigarette und blies die tödlichen Gase völlig gedankenlos in die Umwelt.

>>Entweder das oder etwas anderes. Sei nicht so ein Spießer!<<

Es war noch nicht einmal Mittag. Die Sonne stand erst seit einigen Stunden am Himmel, das Frühstück lag noch nicht weit zurück und doch hatte er den Anderen bereits in der Raucherecke ihrer Schule vorgefunden, gut versteckt hinter den überdachten Fahrradständern, wo es die Lehrer entweder nicht bemerkten oder es sie schlicht ergreifend nicht interessierte.

"Manche Menschen müssen zurückgelassen werden."

Das sagte sein Vater immer. Tomura war nicht gut im Zurücklassen. War er noch nie gewesen. Er wollte helfen, selbst wenn die Betroffenen seine Hilfe nicht annahmen.

>>Ich denke über meine Gesundheit in 30 Jahren nach.<<

>>So, wie jeder gute Spießer es tun würde.<<

Nein. Tatsächlich schien es Jin wenig zu interessieren, ob er mit 40 einen Schlaganfall erlitt oder sich die Lunge aus den Nasenlöchern kiffte. Tomura hätte noch weiter argumentieren sollen. Er hatte nicht ohne Grund stundenlang online Artikel für Artikel über die Spätfolgen von frühzeitigem Rauchen für seinen Freund herausgesucht, doch er hatte es satt, seine Zeit an jemanden zu verschenken, dem es Spaß machte, seine eigene zu verkürzen.

>>Du bist ein verdammter Idiot. Dann vereck halt!<<

Schweigen. Perplex sah ihn der Andere aus seinen großen, grauen Augen an, so als könnte er nicht verstehen, wieso sich der Weißhaarige so viele Gedanken um ihn machte. Wieso sich irgendjemand Gedanken um ihn machen sollte, wenn er selbst es offensichtlich nicht tat.

Tomura wusste, dass seine Worte zu keiner langfristigen Veränderung führen würden. Das hatten sie noch nie. Dennoch verspürte er eine gewisse Befriedigung, als sein Gegenüber die Zigarette auf den Boden schnippte und sie austrat. Die letzten, bösartigen Rauchfahnen stiegen in die Luft und verpesteten noch einmal mit aller Kraft die Umwelt, bevor das Feuer schließlich erlosch.

>>Schon gut, Mann. Du musst nicht gleich wütend werden. Du machst mir Angst, wenn du so emotional wirst.<<

Etwa 1 Millionen Erwiderungen lagen ihm auf der Zunge, doch er schluckte sie herunter. Ließ sie einen bitteren Klumpen bilden, der langsam seine Kehle hinunter träufelte. Stattdessen verschränkte er die Arme vor der Brust und blickte auf das graue Schulgebäude vor ihnen, in welches sich nach und nach immer mehr Schüler einfanden, wie Ameisen in ihren Bau.

>>Und? Noch irgendwas besonders, das diese Woche bei dir ansteht?<<

Außer saufen und sich den Schädel zudröhnen.

Jin blinzelte ihn überrascht an, verwundert von dem abrupten Themenwechsel, bevor er gleichgültig die Schultern zuckte. Er war die Gelassenheit in Person, wenn man ihm eine Zigarette zwischen die Lippen steckte. Tomura wusste, dass der Junge ein Problem mit Stress hatte, dass er oftmals die Kontrolle verlor und krampfhaft versuchte, seine Fassung zurückzuerlangen, selbst wenn er dazu auf ungesunde Mittel zurückgreifen musste.

Er kannte dessen Leben hinter den grauen Schulwänden. Seine Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als Jin gerade mal in der Blüte seiner Jugend gestanden hatte. Seitdem lebte er bei Pflegefamilien, wurde herumgereicht wie ein ungeliebtes Spielzeug. Niemand schien dem temperamentvollen Jungen mit der traumatischen Vergangenheit und den vielen Lastern gerecht zu werden.

Die Zeit, in welcher man nach neuen Familien Ausschau hielt, verbrachte der Andere im Heim. Er bezeichnete sich selbst als "unvermittelbar". Als "unlösbaren Fall". Und doch gab er jedem neuen Pärchen eine Chance, welches sich an einem weiteren Familienmitglied versuchen wollte, selbst wenn er wusste, dass man ihn am Ende enttäuschen würde. Tomura war sich nie sicher gewesen, ob er davon beeindruckt oder beängstigt sein sollte.

>>Mei und Ren wollen Mama, Papa, Kind spielen. Am Wochende gehen wir ins Kino und danach in dieses angesagte Restaurant hinter dem Sportplatz. Mal schauen, wann sie genug von mir kriegen und mich rausschmeißen.<<

Er hatte die neuen Pflegeeltern des Anderen einmal zufällig in der Stadt getroffen. Ruhige, anständige Leute, die nie ein falsches Wort in den Mund nahmen. Vielleicht war es genau das, was Jin brauchte. Etwas Beständiges, an dem er sich festhalten konnte.

>>Vielleicht tun sie das ja nicht.<<

Sein Gegenüber warf ihm einen Blick zu, welchen er gar nicht erst deuten wollte. Auch, wenn dieser keine Hoffnung mehr für sich selbst hatte, bedeutete das nicht, dass Tomura nicht an ein Happy End für seinen Freund glauben durfte. Zumindest Einer in dieser Gruppe aus traumatisierten Pessimisten musste seinen Optimismus bewahren.

>>Du hast mir noch nicht erzählt, was bei dir so läuft. Die meisten Menschen stellen eine Frage mit einem bestimmten Grund dahinter.<<

Durch seine höchstens befriedigenden Schulnoten, unterschätzten die meisten den scharfen Verstand, welcher sich hinter den grauen Augen versteckte. Zweifelnd betrachtet er sein Gegenüber und versuchte, seine Gedanken in Worte zu fassen.

Ich treffe mich mit Touya Todoroki und hoffe, dass meine mitfühlende Seele ihn nicht zu sehr ins Herz schließt.

Seit dem gestrigen Tag hatte er noch niemandem davon erzählt. Er hätte es tun können, doch ... Er hatte Angst. Touya war ein ruhiger, intelligenter Junge. Er war schüchtern, sehr schüchtern und sprach nur, wenn man ihn etwas fragte. Man brauchte Geduld mit ihm, doch es lohnte sich. Gott, es lohnte sich sehr ...

Wenn man ihm immer wieder eine Leine zuwarf, ergriff er sie irgendwann auch. In der ersten Philosophiestunde hatte der Andere nur nach Aufforderung gesprochen, in der zweiten war er langsam aus seiner Reserve heraus gekrochen und in den letzten beiden Stunden hatte sich dieser richtig mit ihm unterhalten.

Touya konnte reden wie ein Autor. Er war so viel anders, als Jin, Shuichi oder Toga, welche meist eine Kombination aus Jugendslang und Umgangssprache benutzten und sich für die Dinge interessierten, die bei den meisten aus ihrem Alter gut ankamen. Touya dagegen stach mit allem, was er tat irgendwie aus der breiten Masse heraus und sprach mit Wortgewandheit und Einfallsreichtum, die Tomura faszinierten.

Gott, er war so anders, dass man gar nicht damit aufhören konnte, mehr erfahren zu wollen!

Tomura wollte mehr erfahren. Über Touya und dessen Leben. All die versteckten Gründe, die ihn zu dem gemacht hatten, der er heute war. Genau deshalb hatte er niemandem von ihrer Gruppenarbeit erzählt. Er befürchtete, würden die Anderen es wissen, würden sie keine Gelegenheit auslassen, den Schwarzhaarigen damit zu quälen, ihm noch mehr weh zu tun. Gott, Touya! Touya ... Was sollte er jetzt tun?

Gerade, als er sich eine passende Ausrede überlegt hatte, durchbrachen schnelle Schritte die Stille zwischen ihnen und ein fester Klaps landete auf seiner Schulter, welcher ihn zusammenzucken ließ.

>>Was geht ab, Leute?<<

>>Hi, boys!<<

Shuichi und Toga schienen ein Ding dafür zu haben, sich so laut und schamlos anzukündigen, dass der gesamte Schulhof davon erfuhr. Jin begrüßte die beiden mit einer lässigen Handbewegung, während ein kurzes "Hey" Tomuras Kehle verließ und er sich zu den Neuankömmlingen herum drehte.

Shuichi sah so aus, als wäre er soeben erst aus dem Bett gefallen. Verschlafener Blick, zerzauste violett gefärbte Haare und eine schlappe Haltung, welche von einer langen Nacht voller Videospiele und Energydrinks sprach. Es war nicht untypisch für den Anderen, bis in den Morgen durchzumachen, um dann herauszufinden, dass er nur noch 2 Stunden bis Schulbeginn hatte. Er war sozusagen die Personifikation von "Chaos" und "Rebellion".

Toga dagegen wirkte frisch und heiter, von oben bis unten perfekt durchgestylt. Ihre zwei wirren, blonden Dutts thronten stolz auf ihrem Schädel, ihr Gesicht war zu dem breiten Lächeln verzogen, welches so typisch für das Mädchen war und ihr kurzer, femininer Rock wehte sachte in der warmen Sommerbrise. Trotz, dass ihre Schule eine der wenigen in Japan war, welche es den Schülern freistellte, ob sie eine Uniform trugen oder nicht, hatte er sie noch nie ohne die bekannte Schleife an der Brust und die leichte, weiße Bluse gesehen. Toga war im Grunde genommen eine ziemliche Streberin, wenn man die Aktivitäten ausließ, welche sie in den Pausen gerne mit anderen, wehrlosen Mitschülern anstellte.

>>Dürfen wir zu euch treten oder unterbrechen wir euer süßes, kleines Männergespräch?<<

Der spielerische Tonfall und das unschuldige blinzeln, waren ebenfalls so typisch für sie, wie der Sand am Strand. Mit ihrer gespielt naiven und liebreizenden Art konnte sie vielen Menschen den Kopf verdrehen, um ihnen am Ende ein Messer in den Rücken zu rammen.

>>Wir hatten ein Männergespräch? Ich weiß nicht. Hatten wir?<<

Auch Jin war jemand, der sich oft von der Blonden verführen ließ und geradezu mühelos in ihre Fallen tappte. Er selbst schüttelte nur den Kopf und lehnte sich gegen die dünne Plastikwand der Fahrradständer. Diese Menschen waren gestört, allesamt Freaks, doch sie waren seine Freunde. Die ersten Personen, welche sich seit einer langen Zeit nicht zu Schade dafür gewesen waren, seine Freunde zu sein.

>>Oh, Jin! Das war doch nur ein Scherz! Ihr werdet mich sowieso nicht los, egal wie sehr ihr es versucht.<<, lachte das Mädchen hysterisch und fiel ihrem Freund um den Hals.

Tomura hatte sich oft gefragt, ob sie das denn auch waren? "Freunde". Jedesmal, wenn er genauer nachhakte, hieß es jedoch, es gäbe keine romantischen Funken in ihrer Beziehung, obwohl die heiße Sehnsucht, welche die beiden nach nur einem Tag der Trennung wieder zusammenführte von etwas anderem sprach.

>>Verrückte Zicke ... <<, murmelte Shuichi mit angewandtem Blick und erntete prompt ein Fingerschnippen gegen die Stirn.

>>Au! Was geht denn bei dir?<<

>>Nenn mich nicht verrückt!<<

>>Schön, dann halt nur Zicke.<<

Er beobachtete den Moment, in welchem sich Togas Augen zu gefährlichen Schlitzen verengten, dann stürzte sie sich auf den Anderen. Wie eine wilde Katze sprang sie ihn an und versuchte, ihm an die Gurgel zu gehen. Shuichi wandte sich wie ein zappelnder Fisch und äußerte lautstark seinen Protest, während er mit den Armen ausholte, um sie von sich wegzustoßen.

>>Lass mich in Ruhe, du Biest! Du bist ja noch verrückter, als ich dachte!<<

Die Stimme des Jungen hatte ein hohes Quietschen angenommen, welches nicht im geringsten den starken und tapferen Mann symbolisierte, der dieser gerne sein wollte. Er strampelte und kämpfte, doch seine Gegnerin war eine wahre Furie. Jeder aus ihrer Gruppe wusste: Wer sich einmal mit Toga anlegte, der wurde sie so schnell nicht mehr los.

>>Du hast mich beleidigt! Bezahl deine Strafe in den Grotten der Hölle!<<

Okay.

Vielleicht sollte er erwähnen, dass das Mädchen mitunter sehr poetisch werden konnte. Sie schien zwar nur verkorkste Liebesromane zu lesen, über völlig surreale Beziehungen zwischen steinreichen Mafia Bossen und unterbezahlten Kellnerinen, welche durch Zufall entführt wurden und in einer erotischen Mafia Falle landeten, doch ihr Gespür für lyrische und epische Worte war geradezu ... dramatisch.

Er hatte schon oft gehört, wie andere Schüler die Blondine als überemotional und affektiert bezeichnet hatten. Er konnte es nachvollziehen. Toga war in der Tat eine sehr gefühlvolle Person, die die meiste Zeit über auf ihre Instinkte und ein gesundes Bauchgefühl vertraute.

Manchen rationalen und von ihrer Vernunft gesteuerten Menschen mochte dies zu viel sein, doch für Tomura war es genau das richtige Maß. Toga war genau das richtige Maß. Sie war anstrengend und nervig, doch eine ehrlichere Person, als sie, traf man im Leben nur selten.

>>Go, Toga!<<, hörte er Jin im Hintergrund jubeln.

Er musste sich ein eigenes Lachen verkneifen, als er beobachtete, wie das Feuer erneut in der Blondhaarigen entfachte und wilde Funken stob. Mit einem lauten Angriffsschrei stürzte sie sich auf Shuichi und prallte geradewegs mit dem Dickschädel in seine Magenregion. Für einen Moment befürchtete Tomura, dass der Andere gleich sein Frühstück verlieren würde, doch auch dieser gab den Kampf so schnell nicht auf und trommelte mit den Fäusten auf Togas Rücken.

>>Feuere sie nicht noch an, Mann! Hilf mir lieber.<<

Jin tat nichts dergleichen. Statt ihnen zu helfen, stand er nur abseits und bestaunte die Prügelei mit einem breiten Grinsen. Auch der Weißhaarige hielt sich neutral und beobachtete das Geschehen gute fünf Minuten lang, bevor er entschied, dass er genug gesehen hatte.

Mit festen Schritten trat er auf die beiden zu, packte das Mädchen am Kragen und riss sie von dem Jungen weg, welchen er sicherheitshalber noch einen Meter nach hinten drückte. Die beiden protestierten, doch sahen schließlich ein, dass es genug Mordlust für den Moment war.

>>Leute, es ist 7.00 Uhr morgens, macht mal halblang.<<, schnaufte er und ließ Toga los, die Shuichi mürrisch die Zunge heraus streckte, doch sich sonst an den Waffenstillstand hielt.

Zischend zog sie ihre Kleidung zurecht und durchbohrte ihren Freund mit einem Blick, der töten konnte.

>>Nenn mich nicht verrückt! Ich bin nicht verrückt. Ihr seid verrückt.<<, warnte sie und zupfte an ihren Dutts herum.

Mit ihren glänzend, goldenen Augen und ihren spitzen Zähnen sah sie aus, wie eine Katze. Oder doch eher ein Vampir? Shuichi ließ sich davon nicht beeindrucken, richtete ebenfalls seine Kleidung und zuckte dann mit den Schultern.

>>Attackier mich nicht, Zicke.<<

Noch immer konnte Tomura sich nicht aussuchen, ob er belustigt oder beängstigt sein sollte. Seine Freunde waren schräg und grotesk. Jeder in dieser Gruppe war nicht ganz richtig im Kopf und hatte genug Probleme, um damit eine Liste vollzuschreiben. Er selbst eingeschlossen.

Jin war der temperamentvolle Junge aus dem Heim, der von Familie zu Familie gereicht wurde und nie die Chance dazu bekam, richtig anzukommen.

Toga war das hyperaktive und psychisch überemotionale Mädchen mit den konservativen Eltern, welche sie nicht haben wollten.

Shuichi war der Junge, der immer genau das tat, was er nicht tun sollte und dessen Familie schon lange nicht mehr auf das nervige Balg achtete, welches sie 9 Monate lang mühselig herangezogen hatten.

Tomura war nur derjenige, der - wie sie alle - wusste, wie sich Einsamkeit und Verachtung anfühlten. Wie es war, in einem Raum mit dutzend anderen Jungen schlafen zu müssen, die über ihn herfielen wie die hungrigen Geier, sobald das Licht ausging.

Das alles schweißte sie zusammen. Ihre Macken und Probleme. Sie waren weit davon entfernt, perfekt zu sein, doch sie verstanden einander. Sie waren wie eine kleine, seltsame Familie.

>>Und? Worüber habt ihr euch die ganze Zeit lang unterhalten, als ihr auf uns gewartet habt?<<, fragte Toga schließlich.

Ihre Stimme hatte wieder diesen neckischen Ton angenommen, während ihre Augen neugierig funkelten, so als würde ihr Streit mit Shuichi nicht gerade mal ein paar Minuten zurück liegen.

Schnell wechselte er einen Blick mit dem gleichgültigen Jin, ein flaues Gefühl im Magen. Er hatte geglaubt, dass Thema durch die erfolgreiche Ablenkung hinter sich gelassen zu haben, doch aus irgendeinem Grund hatte das Schicksal es erneut aufgebracht.

Gab es überhaupt einen Grund oder war es schlichtes Pech?

>>Nichts besonderes. Tomu und ich haben uns nur über unsere Pläne für die Woche unterhalten. Ich geh am Samstag ins Kino. Sci-Fi, Fantasy, ein bisschen Horror. Kann man sich mal reinziehen. Er ... Was war es noch gleich, Bro?<<

Innere Notiz: Er musste es sich definitiv angewöhnen, schnellere Ausreden zu finden, bevor andere Menschen die Chance dazu bekamen, ihn in unvorteilhafte Situationen zu bringen.

Wo er sich sonst Wohl mit seinen Freunden fühlte, so nahm er ihre Blicke nun als bohrend, geradezu aufdringlich wahr. Er war eingekesselt, umzingelt, jeder Fluchtmöglichkeit beraubt. Ein Gefühl, von welchem er geglaubt hatte, es nie wieder verspüren zu müssen, ja, es längst hinter sich gelassen zu haben.

>>Oh, naja ... Schulzeug halt.<<, war seine wenig aussagende Antwort.

Seine Strategie war es gewesen, so wenig wie möglich zu verraten, damit die Anderen das Thema als langweilig abstempelten und zu etwas anderem wechselten. Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass Toga ihre Augen in weiter Panik aufriss und ihn schockiert anglotzte.

>>Welches "Zeug" denn? Ich schwöre, ich habe meinen gesamten letzten Sonntag an diesen beknackten Englisch Vortrag geopfert. Mein Kopf hat jetzt definitiv eine "he, she, it das s muss mit" Sperre!<<

Verdammt, was wollte das Schicksal ihm damit sagen? Dass es keinen Sinn machte, zu lügen? Dass er seine beginnende Freundschaft zu dem Jungen namens Touya Todoroki nicht vor dessen Mobbern geheim halten konnte? Dass es keinen Weg gab, diesen vor dem Schmerz - innerlich und äußerlich - zu schützen?

Gott, warum hasste das Schicksal diesen Jungen so sehr?

Er musste sich wirklich, wirklich angewöhnen, schnellere Ausreden zu finden, denn noch bevor er sich in jeglicher Weise verteidigen konnte, kam ihm jemand zuvor und brachte ihn erneut in eine Lage, in welcher er gar nicht sein wollte.

>>Reg dich ab, Streberin! Es geht um Philosophie, nicht wahr Tomu? Aizawa Sensei hatte uns gestern unsere Zwischenprüfungen angekündigt. Groß mit Partnern und Prüfungsschwerpunkten und so, als würde der Großteil tatsächlich irgendwas dafür tun. Ich meine, wie sehe ich denn bitte aus? Ein verdammter Musterschüler? Naja, jedenfalls mussten wir Partner losen und jetzt ratet mal, wen dieser Kerl gezogen hat: Touya fucking Todoroki!<<

Im Ernst? Im scheiß Ernst?

Er hatte es von Toga erwartet, doch nicht, dass Shuichi ihm das Messer genau vor die Brust halten würde. Völlig sprachlos stand er da und sah hilflos zu, wie die Situation ihm endgültig aus den rutschigen Fingern glitt. Sein Mund war zu einer schmalen Linie zusammengekrampft, seine Hände an seinen Seiten zu Fäusten geballt.

Was sollte er jetzt noch antworten?

Es war zu spät für eine Lüge, was im Umkehrschluss bedeutete, dass er die Wahrheit sagen musste.

Er fühlte sich so klein, so klein und zerbrechlich unter den stechenden Blicken der Anderen. Zum wahrscheinlich ersten Mal nahm er diese Menschen nicht als seine Freunde war. Sie waren hungrige Hyänen. Raubtiere, bereit jedes Wort, welches seinen Mund verließ, in Stücke zu reißen. Ihre Augen waren dunkel und tief und sahen alles. Jedes nervöse Zucken, jeden unruhigen Schritt.

Ob dies das selbe Gefühl war, welches Touya verspürte?

>>Im Ernst? Der Typ redet doch kein Wort mit dir, oder?<<, spöttelte Jin.

Die Worte waren als Witz gemeint, doch dessen belustigter Ton kam nicht in seinen grauen Augen an, welche ihn so aufmerksam, beinahe prüfend musterten. Stumm forderten sie ihn zu einer Entscheidung, der Wahl einer Seite auf.

Entscheide dich, Tomura! Entscheide dich!

>>Ja, ich ... Er ist mein Partner. Wir treffen uns am Wochenende, um weiter an unserem Projekt zu arbeiten. Mal schauen, wie es am Ende wird.<<

Gelassen zuckte er die Schultern und versuchte, sich seine Nervösität nicht anmerken zu lassen. Er dachte an den gestrigen Tag zurück. Daran, wie er Touya die Verabredung am Samstag vorgeschlagen hatte.

Der Schwarzschopf hatte eine Zeit lang geschwiegen, mit seiner Antwort gehadert und so gewirkt, als wäre er lieber in eine weitere Prügelei mit Muscular verwickelt, als in diesem Moment neben Tomura zu sitzen.

Die gesamte Zeit über hatte er ihn aus seinen einzigartigen, blauen Augen gemustert und er war sich sicher gewesen, dass er nicht böse auf den Jungen sein konnte.

Touyas Art, sich in jeder Situation das Schlechteste auszumalen, war ein ausgereifter Schutzmechanismus, welcher ihn davor bewahrte, in irgendeine sadistische Falle seiner Mitmenschen zu tappen.

Druck bewirkte bei Menschen wie Touya nichts. Es hätte nur noch mehr dafür gesorgt, dass dieser ihn als Feind, als Gefahr sah und sich komplett vor ihm verschloss. Stattdessen hatte er dem Schwarzschopf die Zeit gelassen, die dieser gebraucht hatte, um die Situation für sich einzuschätzen.

Er hatte ein wenig Smalltalk mit diesem geführt. Kurze, unwichtige Gespräche über belanglose Themen, in denen Touya überraschenderweise nicht schlecht war. Schließlich hatte dieser zugestimmt und Tomuras Tag damit ein wenig besser gemacht.

Seine Freunde konnten ihm das nicht zerstören, sie durften einfach nicht. Als er jedoch in ihre spöttisch, belustigten Gesichter blickte, wusste er, dass ihnen all das egal war. Ihnen ging es nur um den Spaß. Ihren Spaß ...

>>Wait, what?! Du triffst dich mit ihm? Privat? Alter, du musst so viele Informationen aus der kleinen Motte herausholen, wie du kannst! Wir wissen nichts über sein Leben!<<

Shuichi sah so aus, als würden diesem vor Schock gleich die Augen aus den Höhlen fallen. Der Junge hatte zwar gewusst, dass sie beide Projektpartner waren, doch hatte anscheinend nicht geglaubt, dass sie wirklich miteinander kooperieren würden.

Verständlich, immerhin war Touya aus Shuichis Sicht kein denkender Mensch, sondern ein groteskes Ding, mit dem man machen konnte, was man wollte. Auch die Visagen der Anderen waren vor ungläubigem Schock verzehrt.

Jeder hatte seine eigene abfällige Meinung zu dem grotesken Ding namens Touya Todoroki, doch niemand wusste, wie er darauf reagieren sollte, wenn Tomura andeutete, dass der Schwarzhaarige tatsächlich eine eigenständige Person war, mit welcher man sich unterhalten und Projekte ausarbeiten konnte.

>>Haha, wie geil! Ihr beiden macht eure Zwischenprüfung miteinander! Ihr müsst unbedingt Freunde werden, dann ist es wie in einem "Enemies to Lovers" Buch, in dem der Bad Boy heimlich eine Schulromanze mit dem schüchternen Nerd anfängt.<<, jubelte Toga begeistert los.

Der Weißhaarige konnte angesichts dieses Kommentares nur den Mund verziehen, doch das Mädchen klatschte bei ihrer eigenen Vorstellung verzückt in die Hände.

>>Warte mal, "Bad Boy"? Tomu ist viel zu ruhig und unauffällig, um hier der Bad Boy zu sein! Dann wäre er eher selbst der schüchterne Nerd. Gibt es solche Bücher überhaupt?<<, wandte Jin zweifelnd ein und rieb sich nachdenklich das stopplige Kinn.

Große Fragezeichen ragten auf dessen Stirn auf, so als könnte er nicht mit der Geschwindigkeit mithalten, welche dieses Gespräch genommen hatte. Ganz ehrlich, das konnte Tomura ebenso wenig.

Er hätte einen Kommentar abgeben, für sich selbst einstehen sollen, doch er wusste gar nicht erst, wo er anfangen sollte! Die bloße Vorstellung dieser Leute, er würde Touya nur benutzen wollen, um an Informationen oder sonst irgendeinen perversen Spaß zu gelangen, war bereits meilenweit von der Realität entfernt.

>>Außerdem wäre der Kerl doch am liebsten vor dir weggerannt, oder? Ich meine, egal was wir mit diesem Typen machen, er zieht jedes Mal den Schwanz ein, um später in Ruhe heulen zu können. Bevor unser kleiner Angsthase eine Freundschaft mit Tomu eingeht, müsste schon ein echtes Wunder geschehen.<<

Ein Wunder, hm? Vermutlich hatte der Blondhaarige Recht.

Er hatte sich gestern zu sehr in die ganze Sache hinein gesteigert und seine trügerischen Hoffnungen zu hoch gesetzt. Touya war sein Projektpartner, hatte mit ihm geredet und sogar zu einer Verabredung am Wochende zugestimmt, doch das bedeutete nicht, dass dieser ihn auf irgendeine Weise weniger hasste.

Er musste Tomura hassen, für die Dinge, welche seine Freunde mit ihm angestellt hatten. Er selbst hatte es jedes Mal, Tag für Tag, schweigend geschehen lassen.

Hatte stumm zugesehen, während diese unschuldige Seele von hasserfüllten Worten und kräftigen Händen in Stücke gerissen wurde, nur um für diese sadistische Befriedigung zu sorgen.

Manche lachten darüber und nannten den Jungen "feige" oder "schwach". Sie warfen ihm vor, nichts von Selbstverteidigung und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu verstehen, doch der Weißhaarige wusste es besser.

Touya hatte keine Chance, gegen diese Gruppe anzukommen. Sie waren zu viert, ihn selbst eingeschlossen zu fünft, und Touya ganz allein. Niemand würde ihm helfen, selbst wenn sie den Konflikt mitten auf dem Schulhof austragen würden. Die Angst vor Muscular war zu groß und der Spott für Touya zu tief.

Der Junge war voll und ganz auf sich allein gestellt. Am Anfang hatte er versucht, sich zu verteidigen, ihnen aus dem Weg zu gehen, doch Muscular hatte ihm schnell beigebracht, was er davon hielt, wenn seine Puppen sich von ihren Stricken lösen wollten.

Seitdem war der Schwarzschopf fragil und gefügig, genau so wie sie ihn haben wollten. Er redete kaum noch und hob keinen kleinen Finger mehr gegen ihre Gruppe, selbst wenn sie ihm das Frühstück aus dem Magen boxten. Er hatte sich nie selbst an diesen Aktionen beteiligt, doch er hatte stumm zugesehen. Jedes. Einzige. Mal. Dafür hasste er sich selbst ein wenig mehr.

Müde betrachtete er die Anderen. Sie alle waren so völlig sorglos, von jeglicher Reue befreit, während er selbst in seinen bitteren Schuldgefühlen badete. Sie waren wie ein unendlich schweres Gewicht. Eine zähe Last auf seinen Schultern, welche ihn stetig nach unten zog und auf dem schwarzen Grund des Ozeans ertränkte.

>>Ich glaube nicht, dass wir schon so weit sind, private Informationen untereinander auszutauschen. Er vertraut mir nicht. Außerdem treffen wir uns bei mir. Es hätte keinen Sinn gemacht, zu fragen, ob wir uns bei ihm verabreden. Er hält nicht viel von mir. Von jedem von uns.<<

Seine Antwort kam nach einer zähen Pause der Stille. Auch ohne die enttäuschten Blicke wusste er, dass es nicht das war, was seine Freunde hören wollten. Sie waren hungrig nach einer Tragödie, einem Drama, welchem sie beifiebern konnten.

In Momenten, wie diesem, hasste er sie auch.

Diese Leute, welche schon so viel Scheiße in ihrem Leben durchmachen mussten, welche durch andere Menschen so sehr gelitten hatten und noch immer litten. Eigentlich hätten sie zu sich selbst stehen und anderen Personen in ähnlichen Lagen helfen müssen.

Stattdessen hatten sie sich dazu entschieden, die Augen vor ihrer Vergangenheit zu verschließen und zu den selben Dämonen zu werden, welche ihre eigenen Albträume ausfüllten. Tomura hatte nie sagen können, ob es aus Feigheit, Trotz oder dem bitteren Verlangen war, einen anderen Menschen genau so leiden zu sehen, wie sie gelitten hatten.

>>Aww, aber es wäre so cool, wenn ihr Freunde werden würdet! Dann könnte irgendjemand später ein Buch über eure dramatische Geschichte schreiben und es als Weltbestseller verkaufen!<<, seufzte Toga mit sichtbar schwindender Hoffnung.

Er wusste, dass das Mädchen ganz und gar in der Gegenwart lebte. Dass sie sich nicht von der Vergangenheit oder Zukunft beeinträchtigen ließ. Sie lebte ihr Leben in vollsten Zügen aus, manchmal auch zum Schaden Zweiter.

Es ließ eine ganze Reihe an Emotionen in ihm hochkochen. Unverständnis. Wut. Melancholie. Sie alle lebten nur ihren Spaß aus, ohne Reue oder Schuld. Das Leiden anderer Personen existierte für sie nicht, solange es ihren eigenen Spaß bedeutete.

>>Leute, bitte. Können ... <<

Die Worte, welche ihm auf der Zunge lagen, waren hart und ohne Vergebung. Es waren seine eigenen Gedanken. Rau und ohne Verschönerung. Als er den Anderen jedoch in die Augen blickte, blieben sie ihm in der Kehle stecken. Er konnte das nicht. Sie waren seine Freunde, seine Familie.

Er ... Er konnte das nicht.

>>Kommt schon, können wir nicht einfach aufhören, darüber zu reden? Ja, Touya ist mein Partner, doch das heißt gar nichts. Wir machen ein Projekt zusammen. Schön. Ich nutze ihn nicht aus und ich verhelfe euch auch nicht dazu, dass ihr ihn ausnutzen könnt. Ich will nichts mit diesem Mobbing Scheiß zu tun haben. Das habe ich euch nicht erst heute gesagt.<<

Es war die hübsche Variante, welche sich kurz und knapp auf das Wesentliche bezog und nicht die Schleifen und Schlenker machte, welche seine eigenen Gedanken gezogen hatten. Dennoch sollte es ausdrucksstark genug sein, um die Anderen endlich verstummen zu lassen.

Verständnislose Gesichter strahlten ihm entgegen, als er dies sagte. Ironischerweise bezeichneten Mobber das, was sie taten, nie selbst als "Mobbing".

Er wusste nicht, welchen Begriff sie dafür verwendeten oder wie sie darüber dachten und er wollte es auch nicht wissen. Er wollte überhaupt nichts damit zu tun haben.

Dies war ein Punkt, an welchem sie sich nicht nur heute wiedergefunden hatten. Zwei völlig unterschiedliche Fronten prallten aufeinander und schnitten sich gegenseitig den Weg ab.

Es war nicht unmöglich, eine gemeinsame Kreuzung, einen Kompromiss zu finden. Es war lang und beschwerlich, doch nicht unmöglich. Tomura hatte mehrfach versucht, mit ihnen darüber zu reden. Sie auf einen neuen, wenn auch etwas steileren Pfad zu führen, doch sie alle liefen geradezu blind ihren gewohnten Weg entlang.

Es spendete Vertrauen und Sicherheit. Ein Leben mit Scheuklappen.

Diese Menschen waren seine Freunde, seine Familie. Er wollte sie nicht loswerden, er verabscheute sie nicht. Sie hatten ihm so viel Gutes gebracht, trotz ihrer Fehler und Imperfektionen.

Er wünschte nur, dass sie manchmal die Augen öffneten, wenn man ihnen eine Veränderung anbot. Niemand sollte mit Scheuklappen durch die Welt laufen.

Eine betretene Stille hatte sich zwischen ihnen ausgebreitet. Sie war scharf wie eine Klinge und bohrte sich zielsicher durch die Brust.

Toga hatte den Blick abgewandt und starrte zu Boden, ihre Gedanken für Außenstehende unlesbar.

Shuichi zupfte sich schweigend an den wirren, violetten Strähnen herum.

Jins große, graue Augen dagegen waren noch immer auf ihn gerichtet. Sie waren ein dunkles Meer aus Gedanken, doch der Weißhaarige konnte nicht gut genug schwimmen und tief genug tauchen, um die einzelnen Wellen zu untersuchen.

>>Du hast zu viel Mitleid. Leb einfach dein Leben.<<

>>Ich kann nicht. Nicht mit diesem Gewissen.<<

Er wusste selbst ganz genau, dass er sich nur damit schadete. Manchen fiel es leicht, die Augen zu verschließen, doch er selbst hatte es nie geschafft, den Blick abzuwenden. Die Tränen und das Leid zu vergessen, als wäre es nur eine Szene im Film. Es lebte in ihm, begleitete ihn und suchte ihn in einsamen Nächten heim.

Seine Freunde waren anders, als er. Er wollte sich nicht schon wieder mit ihnen darüber streiten. Er wollte nur, dass sie sich von Touya fernhielten und wenn sie das schon nicht schafften, dann dass sie ihre gemeinsame Projektarbeit wenigstens nicht als Zündstoff für ihre lodernden Feuerzungen benutzten.

>>Ist jetzt auch egal. Es klingelt gleich und ich will keine Diskussion starten. Ich werde euch nicht dabei helfen, Touya durch irgendwelche persönlichen Geheimnisse noch weiter bloßzustellen. Sein Leben ist so schon scheiße genug und ihr macht es nicht viel besser. Wenn's geht, dann erzählt Muscular nichts davon und lasst es einfach so, wie es ist.<<

Er war schließlich derjenige, der einen Schlussstrich unter dieses Gespräch zog. Er wollte nicht zu spät zum Unterricht kommen, wenn diese Unterhaltung sowieso zu nichts führen würde.

Einige peinlich, stille Momente lang betrachtete er seine Freunde und wartete auf eine Reaktion, den Start einer langen und ermündenden Diskussion. Sie musterten ihn kritisch. Gedanken, welche er nicht lesen konnte in ihren Augen und schließlich entschied er, dass er genug vom Rätselraten hatte.

Entschlossen schulterte er seine Schultasche und drehte sich zum Eingang des Gymnasiums herum. Er hatte noch 5 Minuten bis zum Unterrichtsbeginn. Gerade genug Zeit, um sich in sein Klassenzimmer zu begeben und sich keine mündliche Prüfung wegen Zuspätkommens einzuhandeln.

Es interessierte ihn schon lange nicht mehr, ob seine Freunde pünktlich ankamen. Früher hatte er versucht, sie mit klugen Ratschlägen und Tipps davon zu überzeugen, ihr sorgloses Verhalten in rationale Vernunft zu ändern, doch weise Worte waren wie ein Loch ohne Boden, wenn ihr Hörer sie nicht annahm.

Allein begann er nun also zu laufen. Stur geradeaus und ohne einen weiteren Blick zurück.

>>Du weißt, dass Muscular sowieso davon erfahren wird, oder?<<

Die Frage ließ ihn kurz inne halten. Ja, vermutlich schon. Theoretisch gesehen, machte es keinen Sinn, Touya schützen zu wollen. Der Junge würde verletzt werden, egal was Tomura tat. Es waren seine bitteren Schuldgefühle, welche ihn davon abhielten, wegzusehen. Er konnte den Blick nicht einfach abwenden.

Du bist zu weich, Tomura.

Ein weiterer Satz, welchen er schon viel zu oft gehört hatte. Einen Moment lang schloss er die Augen, verharrte in seiner Position und nahm einen tiefen Atemzug. Als er die Augen wieder aufschlug, lief er weiter, als wäre nichts geschehen.

>>Ich weiß.<<

Er wusste all das. Ja. Wer verbot seinem Herz jedoch schon auf das Beste zu hoffen?

°

Lang und ermüdend zog der Schultag an ihm vorbei.

Es waren seine Augen, welche die Bilder vor ihm sahen, seine Ohren, welche die Stimmen um ihn herum hörten, doch er fühlte sich nicht wirklich präsent. Es war, als würde er neben seinem Körper stehen und die Szene von Außen betrachten.

Immer wieder drifteten seine Gedanken zu anderen Themen ab, immer wieder erwischte er sich selbst dabei, wie er auf die Tischkante starrte und doch ins Nichts blickte.

Er war hippelig, sprunghaft. Es war, als wäre sein Geist von einem nebeligen Schleier umhüllt. Weshalb genau konnte er auch nicht sagen.

In gewisser Weise war es das Gespräch von heute morgen, welches ihm Sorgen bereitete. Er hatte ernst gemeint, was er gesagt hatte und doch fühlte er sich so ... schuldig.

Diese Leute waren seine Freunde. Manchmal handelten sie grausam und selbstsüchtig, doch in wiederrum anderen Momenten waren sie witzig, offen und voller unerwarteter Güte.

Er wollte nicht, dass sie seine Worte missverstanden und sich voller Ekel von ihm abwandten. Nicht schon wieder. Er glaubte nicht, dass er es verkraften könnte, ein weiteres Mal in seinem Leben völlig allein dazustehen, von allen Seiten gehasst und verspottet.

>>Konzentration, Shigaraki-San! Ich sehe in Ihren Augen, dass es keine trigeometrischen Figuren sind, an welche sie denken. Bitte bleiben sie noch ein Weilchen bei uns.<<, hatte ihn Kayama Sensei, seine Mathematik Lehrerin, ermahnt, als sein Blick erneut ins Nichts abgedrifted war.

Der Rest der Klasse hatte sich die Hälse verenkt, um einen Blick auf Tomura zu erhaschen. Ihre schamlose Neugier konnte man schon beinahe als belästigend bezeichnen, doch mit der Zeit hatte er sich daran gewöhnt.

Irgendwie war er selbst Schuld, immerhin hatte er seinen Ruf als der mysteriöse Neuling weg, welcher mit Musculars berühmt berüchtigter Gruppe abhing.

Er war als der neue Junge Anfang dieses Schuljahres auf das Gymnasium gekommen und war es in gewisser Weise auch geblieben.

Zu Beginn hatten die anderen Jugendlichen versucht, Kontakt mit ihm herzustellen und ein paar private Informationen aus ihm herauszukitzeln, doch als sie bemerkt hatten, dass die Schutzwalle des Weißhaarigens höher waren, als das man sie mit ein paar netten Floskeln hätte durchbrechen können, hatten sie ihn schnell als geheimnisvollen Einzelgänger abgestempelt.

Es war nicht so, als würde er sich bewusst vor anderen Menschen verschließen. Meist realisierte er gar nicht, dass er auf Abstand ging, bis es zu spät war. Er kontrollierte es nicht, es war eher ein ... Reflex.

Seit er sich mit Toga, Jin und Shuichi angefreundet hatte, war es besser gewurden. Er fühlte sich offener und umgänglicher gegenüber seiner Mitmenschen. Es fiel ihm leichter, seine Gedanken frei auszusprechen und Gespräche zu beginnen. Allein dafür war er ihnen dankbar.

Dies hatte jedoch nicht seinen Ruf in seiner Jahrgangsstufe geändert und noch immer drehten sich alle Köpfe zu ihm um, sobald sein Name in der Klasse fiel.

Atsuhiro Sako, sein Banknachbar, stubste ihn leicht mit dem Ellenbogen in die Seite und machte einen Scherz darüber, wie alle aus ihrem Kurs nur Augen für ihn hatten, doch Tomura wusste, dass dies nicht wahr war.

Als sein Blick auf den Einzelplatz der letzten Bank der Wandreihe fiel, waren Touya Todorokis einzigartige, blaue Augen nicht etwa auf ihn, sondern stur nach vorn gerichtet. Es tat weh, denn er wusste, dass er es verdient hatte.

Seit dem gestrigen Tag hatte der andere Junge weder mit ihm geschrieben, noch sich mit ihm unterhalten. Es war keine wirklich lange Zeitspanne, ja, und es gab auch keinen konkreten Grund für ein Gespräch, dennoch hatte er sich gewünscht, dass ihre eisige Beziehung ... ein wenig aufgetaut wäre.

Womöglich war es eine lachhafte Vorstellung, nach so kurzer Zeit schon von Freundschaft zu sprechen. Touya hatte jedes Recht dazu, ihn zu ignorieren, ihn wie Luft zu behandeln. Er konnte es diesem nicht verübeln, doch zugleich wusste er, was sein eigenes Herz empfand.

Er mochte Touya.

Er wollte eine Unterhaltung mit diesem führen, obwohl es keinen rationalen Grund dafür gab.

Womöglich hatte sein Vater Recht. Womöglich war er tatsächlich zu weich. Jin hatte gesagt, dass er zu viel Mitleid mit anderen hatte. Ihm selbst war dies nie aufgefallen, bis er sich mit der Härte und Maskulinität anderer Männer verglichen hatte.

Seinen Freunden war es egal, ob sie Touya wehtaten. Ob sie ihn von innen heraus zerstörten und ihn auffraßen, wie die hungrigen Maden. Es war ihnen egal, solange es keinen Schaden für sie selbst bedeutete.

Tomura war es nicht egal. Womöglich war er weich und zu empathisch für sein eigenes Wohl, doch er wusste, dass sein Herz Touya mochte, dass es mit diesem fühlte.

Es mochte an ein Wunder grenzen, das Vertrauen dieses Jungen zu gewinnen, doch er selbst hatte Zeit und Geduld. Er konnte warten.

Darauf, dass das Unmögliche plötzlich möglich und ein Wunder zur Realität wurde.

°

Als die Klingel schließlich die große Pause einläutete und die Mathematikstunden für diesen Tag beendete, breitete sich sofortige Hektik im Raum aus.

Gehetzt sprangen die Schüler von ihrem Platz auf und sammelten ihre Sachen zusammen, sodass Kayama Sensei nicht mal auf die Idee käme, sie noch weiter zu belästigen. Tomura dagegen fühlte sich noch immer ein wenig abwesend. Träge erhob er sich von seinem Stuhl und begann gerade damit, seine Materialien einzupacken, während andere Schüler bereits durch die geöffnete Tür flüchteten.

>>Die wirkst heute so still. Ich meine, ich weiß ja, dass du eher der ruhige Typ bist, aber heute machst du so einen betrübt Eindruck. Ist irgendetwas vorgefallen?<<, fragte Atsuhiro, während sie beide ihre Schultaschen schulterten und dann als Letzte das bereits geleerte Klassenzimmer verließen.

Sie beide waren durch Zufall Banknachbarn gewurden. Er war neu an die Schule gekommen und hatte noch niemanden gekannt. Der andere Junge hatte allein gesessen und so hatte er sich zu diesem gesellt.

Er hatte seine Entscheidung nicht bereut. Auch, wenn Atsuhiro und er nicht viel Zeit außerhalb der Schule miteinander verbrachten, so verstanden sie sich doch ziemlich gut.

Sein Sitznachbar war groß und schlank, mit kurzen, kastanienbraunen Locken, hübschen braunen Augen und einem charmanten Lächeln. Er war im selben Jahr wie Tomura geboren wurden, wirkte mental jedoch um einige Jahre reifer. Er verhielt sich ruhig und ausgeglichen, war ein guter Zuhörer und hatte für jede Lebenslage einen passenden Ratschlag.

Er hatte einfach etwas gutmütig, väterliches an sich. Er suchte nach deinem Vertrauen, ohne es auszunutzen.

Tomura hatte nie verstehen können, wieso man Atsuhiro in der Schule fast ausschließlich allein antraf. Der linke Arm des Jungen war in seiner Entwicklung im Mutterleib nicht gewachsen, weshalb dieser eine Prothese an der Schulter trug.

Dies war der Grund, weshalb die meisten Schüler ihn mieden. Sie fanden ihn seltsam, "unnormal". Nicht nur einmal hatte er das Wort "Krüppel", gefolgt von einem schadensfrohen Kichern gehört.

Es war Bullshit. Absoluter Bullshit.

Ja, der Junge hatte einen künstlichen Arm. Na und?! Was für ein oberflächliches Arschloch musste man denn sein, um ihm deshalb unschuldig aus dem Weg zu gehen und hinter seinem Rücken über ihn herzuziehen?

Es war der selbe Fall wie Touyas, nur mit dem winzigen Unterschied, dass Muscular Atsuhiro neutral behandelt und einen persönlichen Krieg gegen Touya führte.

>>Ich weiß nicht. Es ist viel los zur Zeit. Arbeiten, Vorträge, Prüfungen. Ich bin einfach müde.<<

Es war nicht alles. Die meisten Sorgen machte ihm noch immer das Gespräch von heute morgen und die ganze Situation mit Touya, doch das musste der Braunhaarige nicht wissen.

Am besten wäre es, wenn einfach niemand an ihrer Schule davon erfuhr. Sicher hatten die Mädchen aus Philosophie es schon an ihre Klatschzentralen weitergeleitet. Allein das war schon viel zu viel.

Sein Gesichtsausdruck musste ihn verraten haben, denn sein Gegenüber hob nur beschwichtigend die Hände, während sie nebeneinander den endlosen Korridor entlang liefen.

>>Ich habe schon verstanden. Da sitzt noch mehr auf deinen Schultern. Ich zwinge dich nicht dazu, mir irgendwas zu verraten. Wenn du reden möchtest, höre ich immer gern zu und falls nicht, solltest du dich an jemanden wenden, dem du mehr vertraust, als mir.<<

Die Stimme des Anderen war ruhig und bedächtig. Er sah ihn aufmerksam an, doch nicht auf eine bohrende, aufdringliche Weise. Das Angebot war auf eine ehrliche Art so nett gemeint, dass es dem Weißhaarigen schon beinahe leidtat, es abzulehnen.

Er wusste, dass Atsuhiro kein Schwätzer war, doch diese eine Sache bewahrte er lieber gut verstaut in irgendeiner Kiste auf, solange es ihm möglich war.

>>Ich vertraue dir auch. Es sind nur ... persönliche Probleme. Ich glaube, ich muss sie erstmal mit mir selbst ausmachen, bevor ich sie einer anderen Person anvertrauen kann.<<, gestand er und wandte den Blick Richtung Boden.

Es gab so viele Dinge, so viele Kriege in seinem Verstand, welcher er erst einmal allein ausfochten musste. Die Stimmen seiner Mitschüler hallten um ihn herum durch das Schulhaus. Die Geräusche freudiger Unterhaltungen und lautem Gelächter.

Sie alle lebten ihr eigenes Leben, hatten Geschichten zu erzählen, welche Tomura nicht kannte und Verluste zu betrauern, welche er nicht erlebt hatte. Dennoch, wenn er den Blick hob und in ihre sorglosen Gesichter sah, wirkte jeder von ihnen, als würde er schweben. Sie alle tanzten über den Wolken. Frei und losgelöst, während seine eigenen Lasten und Schulden ihn auf den Boden fesselten.

Dumpf halten seine Schritte vom Boden wieder. Seine Schultasche saß schwer auf seinen Schultern und der Stoff seiner Schultasche rieb unangenehm über seine Haut. Es störte ihn. Einfach alles störte ihn. Gott, er war so müde.

>>Vielleicht solltest du dich nicht so streng kritisieren.<<

Er sah erneut auf, als Atsuhiros Stimme das Schweigen zwischen ihnen unterbrach. Dessen braune Augen lagen konzentriert auf seinem Gesicht und nachdenkliche Falten furchten seine Stirn.

>>Du darfst nicht so hart zu dir sein. Der erste Schritt, Einklang mit sich selbst zu finden, ist es zu akzeptieren, dass du niemals perfekt sein wirst.<<

Es waren diese kleinen, weisen Worte, welche so spontan und ungeplant Atsuhiros Mund verließen, die Tomura immer wieder überraschten.

Es war die Wahrheit, selbst wenn er zu stolz dafür war, es laut zuzugeben. Er war hart zu sich selbst. Er kritisierte sich oft und beleidigte sich mit Worten, welche er niemals gegen eine andere Person verwenden würde. Es tat am meisten weh, wenn es sich so anfühlte, als hätte er es verdient.

Touya musste auch hart zu sich selbst sein. Auch dieser musste in den Spiegel blicken und nur das Opfer sehen, welches die Welt aus ihm gemacht hatte. Diese Gedanken waren grausam und taten auf Dauer weh. Er wollte so etwas nicht gegenüber Atsuhiro erwähnen.

>>Das ist eine gute Zeile für meine Zwischenprüfung. Du solltest mir öfter solche kleinen, weisen Ratschläge geben.<<, wechselte er das Thema, ohne es so wirken zu lassen, als würde er sich zu sehr anstrengen.

Das Schmunzeln, welches auf seine Lippen kroch, war nur zur Hälfte gestellt und er streckte die Hand aus, um dem Anderen brüderlich auf die Schulter zu klopfen. Dieser grinste ebenfalls und fuhr sich dann durch das lockige, braune Haar.

>>Oh, erinnere mich nicht daran. Ich habe Shuichi gezogen, was so viel bedeutet, wie das ich 90% des Projektes allein machen kann.<<

>>No worries, ich werde mal mit ihm reden. Vielleicht kann ich ihn ja von der positiven Leistungssteigerung überzeugen, die Schulprojekte auf ihn haben.<<

Den letzten Satz sprach er mit einem unmissverständlich sarkastischen Unterton aus. Wenn er an Shuichi dachte, so war die Schule das Letzte, was er mit diesem in Verbindung brachte. Fast Food, Energydrinks und Videospiele standen da schon sehr viel höher auf der Rangliste.

Auch dem Braunhaarigen entging die Ironie in seinen Worten nicht, denn er verdrehte nur die Augen und schnaubte lustlos.

>>Ich werde einfach alles Zuhause machen und ihm meine Punkte schenken. Dadurch erspare ich mir den meisten Ärger.<<

Musculars Gruppe hatte nichts spezifisches gegen Atsuhiro. Sie gingen einander aus dem Weg und behandelten sich neutral. Ein glücklicher Zustand, welcher jedoch durch jeden kleinen Fehltritt genau so schnell kippen konnte. Der Braunhaarige wusste dies genau so gut wie er und nahm lieber ein paar weitere Bürden auf sich, um am Ende als freier Mann dazustehen.

Niemand wollte so enden wie Touya. Der Junge trug ein unübersehbares Warnschild mit sich herum:

"Achtung, ihr habt es mit Musculars Trophäe zu tun. Wer nicht die selbe Scheiße wie ich durchleben will, hält sich lieber von mir fern!"

Die Schüler hielten sich an diese Warnung. Niemand zog überhaupt in Erwägung, sich mit Musculars kleinem Stressball anzufreunden. Touya war das absolute Negativbeispiel dafür, was mit dir passieren konnte, wenn du aus der grauen Masse heraus stachst. Tomura hasste es daran zu denken, wie eine einzige selbstsüchtige Person ein unschuldiges Leben für immer verändern konnte.

Er öffnete den Mund, um Atsuhiro zu antworten, doch auch dieser Moment wurde von einem einzigen ignoranten Menschen zerstört. Die schweren Schritte und die tiefe, maskuline Stimme waren unverwechselbar.

Wer Muscular nicht kannte, musste sich ihn ungefähr so vorstellen: Er war ein Schrank von Junge.

Er überragte Tomura sicher um einen Kopf in die Höhe und etliche in die Breite. Die Muskeln auf dessen Armen oder eher dessen gesamter Gestalt erinnerten ihn an ein Gebirge, in welchem sich ein mächtiger Berg an den nächsten reihte. Mit losen Tanktops und kurzen Shorts vergass der Andere nie, dies gekonnt in Szene zu setzen.

Dessen imposantes Äußere allein verlieh ihm Respekt und Ehrfurcht unter seinen Mitmenschen. Ein Fakt, welchen dieser mit größtem Vergnügen und Schadensfreude zu seinem persönlichen Vorteil ausnutze.

Niemand an ihrer Schule war bereit dazu, sich mit Muscular anzulegen. Selbst die Lehrer knickten nur allzu oft vor dessen überdimensionalen Ego und seiner sturen Selbstverliebtheit ein. Der blondhaarige Tyrann war sich darüber am besten von Allen bewusst. Er knechtete sich die gesamte Schule und benutzte Menschen wie Spielfiguren auf dem Schachbrett zu seinem eigenen Vergnügen. Allein der kurze Blick in dessen überhebliches Gesicht ließ Tomuras Würgereflex hochkommen.

>>Hey, Schneeflöckchen! Was geht?<<

"Schneeflöckchen" aufgrund seiner weißen Haare.

Heh. Vermutlich musste er nicht weiter ausführen, dass das viele Testosteron in Muscular Teile seines Gehirns, welche für Kreativität und soziale Kompetenzen sorgten, komplett verschlungen hatte.

>>Hey.<<, reduzierte er seine eigene Begrüßung auf das Nötigste.

Jedes Wort, welches man mit diesem Jungen wechselte, war ein Wort zu viel.

Widerstrebend drehte er sich zu dem Anderen um, der sich ihnen genähert hatte, ohne dass Atsuhiro oder er es in der Hitze ihres Gesprächs bemerkt hatten.

Sein eigener Blick war hart und kalt und sein Körper steif. Er liebte Jin, Shuichi und Toga. Sie alle waren seine Familie. Der Einzige, der nicht in ihre kleine Gemeinschaft passte, war Muscular.

Wenn Tomura diesen ansah, dachte er an einen Außenstehenden. Einen Fremdling, der ihnen auf Schritt und Tritt folgte, sie abhörte und die heimische Vertrautheit zwischen ihnen durch eisige Distanz und Unsicherheit ersetzte.

In dessen Gegenwart versiegelte man die Lippen und sprach nur das aus, was dem Muskelprotz gefiel. Man senkte unterwürfig den Blick und verkleidete sein wahres Ich, setzte sich eine Maske auf. Muscular war ein Narzist, ein unbarmherziger Despot, welcher mit seiner Meinung die ganze Welt regierte.

Alle, die sich nicht anpassen wollten oder es aus irgendeinem Grund nicht konnten, wurden rücksichtslos niedergewalzt.

>>Die verrückte Schlampe wollte dich suchen. Meinte, dass unsere Gruppe noch nicht vollständig ist oder so'n Mädchenscheiß. Ich brauche sowieso noch Mathe von dir, also passt das.<<

Verrückte Schlampe ...

Damit meinte er Toga. Tomura konnte gar nicht in Worte fassen, wie sehr er es hasste, wenn dieser das Mädchen so nannte, denn er wusste genau, dass es sie störte.

Würde sie protestieren, würde es alles jedoch noch schlimmer machen. Alles wurde schlimmer, wenn man versuchte, sich gegen Muscular zu wehren.

>>Ich kann dir Mathe schicken, wenn ich nach Hause komme. Dann kannst du es dir ausdrucken.<<

Alles in ihm sträubte sich dagegen, den Anderen von seinen eigenen Leistungen profitieren zu lassen, nur weil dieser arrogante Arsch zu faul dafür war, seinen Füller aus der Federmappe zu holen.

Verzieh dich und lern endlich, im Unterricht mitzuschreiben!

Er biss sich auf die Zunge, um diese Gedanken nicht laut auszusprechen. Wenn man Gesicht zu Gesicht mit Muscular stand, kooperierte man gefälligst!

So, als hätte dieser kein Wort von dem verstanden, was er gerade gesagt hatte, zückte er sein Handy aus der Hosentasche - ein großes, protziges Exemplar, welches schwer in der Hand lag, wie dessen Besitzer selbst - und nickte zu Tomuras Schultasche.

>>Ne, lass es mich selbst machen. Du vergisst den Scheiß nur wieder.<<

Dies war eine weitere Sache, welches das blonde Biest vor ihm nur noch unausstehlicher machte. Er ließ keine Gelegenheit aus, seine Mitmenschen schlecht zu machen und sich selbst als den perfekten, fehlerlosen Kerl darzustellen.

Erneut musste er es sich verkneifen, die Augen zu verdrehen oder etwas unpassendes von sich zu geben, während er seinen Rucksack langsam von den Schultern streifte.

Als er seinen Blick kurz zur Seite schweifen ließ, wies der Platz neben ihm eine traurige Leere auf. Atsuhiro musste sich heimlich aus dem Staub gemacht haben. Er konnte es diesem nicht verübeln. Niemand verbrachte gern Zeit mit Muscular, vorallem wenn dieser sich an keine höflichen Standards halten konnte und sich einfach in ein Gespräch schob, als wäre er wichtiger als alle Anderen.

>>Brauchst du alles von heute oder was musst du dir übernehmen?<<, murmelte er die Worte emotionslos vor sich hin.

Mit angewandtem Blick blätterte er seinen Hefter durch, um nicht die ganze Zeit über in die dämliche Visage vor ihm schauen zu müssen.

>>Hah! Stell nicht so dumme Fragen, Alter. Sehe ich so aus, als würde ich irgend etwas, was diese Hure von Lehrerin sagt, aufschreiben?<<

Nein. Nein, tust du nicht. Du siehst so aus, als hättest du es verdient, dass man dir deinen verdammten Schwanz abschneidet!

>>Richtig ... <<, brummte er voller unterdrückter Abwertung.

Fein säuberlich sprangen ihm seine Aufzeichnungen über trigeometrische Figuren ins Blickfeld und er schämte sich schon fast dafür, diese an einen Schulschwänzer wie Muscular zu verschenken.

Er hatte keine Wahl.

Niemand hatte mit diesem Jungen eine Wahl, auch wenn es ihn im jetzigen Moment wie einen Vollversager wirken ließ.

Kommentarlos reichte er seinen Hefter an sein Gegenüber. Sein Herz blutete ein bisschen, als er beobachtete, wie sich dessen grobe Finger in das Papier drückten und hässliche Ecken und Kanten hinterließen.

Prüfend glitt dessen Blick über seine Aufzeichnungen, so als wäre er in jeglicher Position dazu, Kritik auszuüben. Ein tiefes Murren erklang aus dessen Bauch, bevor er das Handy in die Höhe hielt und ein Foto schoss.

Tomura stand derweil nur steif wie ein Brett daneben und beobachtete mit hartem Blick das Geschehen. Er fühlte sich so machtlos, dass es ihm schon fast hochkam.

>>Du bist schon 'n ganz schöner Nerd.<<, entgegnete der Blonde abfällig, bevor er ihm den Hefter zurückreichte.

Das Lachen, welches daraufhin folgte, hatte nichts mit Sarkasmus oder schwarzen Humor zu tun. Es war einfach Musculars Spott gegenüber jedem Menschen, der nicht er selbst war.

Es folgte kein: "Danke, dass du mir weitergeholfen hast."

Für den Anderen war es eine Selbstverständlichkeit, dass man machte, was er verlangte. Er selbst zuckte wortlos mit den Schultern und verwahrte seinen Hefter sicher zurück in seine Tasche, gut aufbewahrt vor allen groben Händen, die danach packen wollten.

Der Kommentar war zu dumm und niveaulos, um darauf zu antworten, also musterte er den Jungen nur kühl und versuchte, aus dessen arroganter Mimik zu lesen.

Wusste dieser von seiner Partnerarbeit mit Touya? Hatte jemand aus ihrer Gruppe es ihm verraten?

Unwahrscheinlich. Musculars Gehirn war von Testosteron und seiner extremen Männlichkeit vernebelt. Er sprach jeden seiner Gedanken aus, ohne vorher darüber nachzudenken oder sich die Frage zu stellen, ob es negative Folgen für ihn selbst haben würde.

Wüsste dieser von ihrer Projektarbeit, dann wäre es ausnahmslos das erste Thema gewesen, mit welchem er ihn konfrontiert hätte. Als dieser sich schließlich herum drehte und mit schweren, polternden Schritten Richtung Schulhof lief, verließ ein erleichtertes Seufzen Tomuras Kehle.

Er hasste nichts mehr, als Zeit mit diesem dämlichen Muskelprotz verbringen zu müssen, doch verglichen mit der Diskussion, welche sie über seine Zwischenprüfung in Philosophie hätten halten können, war dies hier ein Segen.

Er atmete noch einmal tief ein und aus, ließ die Schultern nach unten sacken und folgte dann seinem Vordermann. Vielleicht hielt seine Fassade noch etwas länger stand und er könnte seinen Optimismus noch ein Weilchen behalten.

< the End >

Nächstes Kapitel: Me-Time mit Touya, Basically erfahren wir etwas über sein Zuhause und sein privates Leben

Sorry, dass immer nur ein Kapitel pro Monat rauskommt, aber ich fühle mich ziemlich träge zur Zeit und hoffe einfach, dass es mit dem Sommer und dem Serotonin von der Sonne wieder weggeht ... (;

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