2. Das Gefühl von Schuld
Playlist:
Anti Hero
- Taylor Swift
"Schuld"
"Ursache von etwas Unangenehmen, Bösen oder eines Unglücks, das Verantwortlichsein, die Verantwortung dafür."
- by julislifestyle -
Tomura
6.20 Uhr.
Es war bereits der dritte Wecker und damit das endgültige Signal, sich aus dem Bett zu erheben, gehetzt seinen Magen mit einer Schüssel Cornflakes zu füllen und danach einen weiteren ermündenden Tag in der Schule zu beginnen. Er hatte die Menschen nie verstanden, welche bereits nach dem ersten Weckerklingeln die Bettdecke in die Höhe rissen und an der Türschwelle parat standen. Sollte die Welt doch ein wenig länger auf ihn warten. Dämonen und Albträume waren geduldig, das wusste er, doch es war leichter, diese Gedanken zu verdrängen, wenn man ein weiches Kissen unter dem Kopf hatte.
Zentimeter für Zentimeter schälte er sich von der warmen Matratze und schlurfte dann zu dem breiten Gaming Stuhl vor seinem Schreibtisch, auf dessen Lehne fein säuberlich die Kleidung für den heutigen Tag aufgereiht war. Eine Marotte, welche er sich schnell in seinem neuen Zuhause angewöhnt hatte. Seine Tür war wie immer einen Spalt breit geöffnet - Eine weitere seltsame Gewohnheit, die er sich vor Jahren angeeignet hatte - und so begrüßten ihn die vertrauten Geräusche von bewegtem Geschirr und fleißigen Schritten in der Küche. Die Klänge, welche jeden Morgen seinen Tag starteten.
Die meisten Teenager in seinem Alter bevorzugten es, nach dem Aufstehen - oder auch den kompletten Tag über - allein gelassen zu werden, um mit keinem "peinlichen" Erwachsenen kommunizieren zu müssen. Nicht er jedoch. Er wusste schmerzlich gut, was Einsamkeit bedeutete. Ein schreckliches Gefühl, als hätte jemand ein Loch in deine Brust gefressen. So hatte er es sich als Kind immer vorgestellt. Die Gewissheit, dass jemand jeden Morgen auf ihn wartete und zur Stelle war, wenn man ihn brauchte, machte das Leben in diesem schier unendlich großem Haus ungemein leichter.
Nachdem er sich die Kleidung übergestreift, sein Gesicht gewaschen und versucht hatte, sein krauses weißes Haar irgendwie zu bändigen, trat er seinen altbekannten Marsch die lange Wendeltreppe nach unten an. Eine Wendeltreppe war nur etwas für feine, privilegierte Leute. Vorallem, wenn ihr Geländer vergoldet und ihre Stufen aus Marmor waren. Personen, die in all ihrer aufgeblasenen Überheblichkeit und Egozentrik völlig vergaßen, dass sie auch zur Kategorie "Mensch" zählten und andere ihrer Spezies wie untergeordnete Primaten behandelten. So hatte er zumindest gedacht, bis er selbst entdeckt hatte, dass die Treppe in seinem neuen Zuhause in einer Wölbung nach oben verlief. Jetzt war er vorsichtig damit, solche Kommentare laut zu äußern.
>>Guten Morgen, Tomura. Ich hoffe, du hattest einen angenehmen Schlaf.<<
Die Begrüßung war so ätzend höflich, wie immer. Zumindest hatte er dem Butler ausreden können, ihn mit "Sie", statt dem gewöhnlichen "Du" anzusprechen.
>> 'Morgen Kurogiri. Mein Schlaf wäre besser, müsste ich nach 6 Stunden nicht gleich wieder aufstehen.<<
Wenn er schon dabei war, über all die feinen Privilegien in seinem Leben zu sprechen, dann sollte er wohl auch Kurogiri vorstellen. Ihren hauseigenen Butler. Der Mann hieß eigentlich Oboro Shirakumo, doch Tomuras Stiefvater zog es vor, ihn mit irgendeinem Insider anzusprechen, den die beiden sich schon vor Jahren ausgemacht zu haben schienen. Also war er "Kurogiri".
Der Butler arbeitete hier, seit Tomura den ersten Schritt über die Schwelle dieses Hauses gewagt hatte. Und noch länger. Er war wie eine der vielen Antiquitäten in diesem alten Gebäude. Er gehörte einfach hier her. Angestellter oder nicht, der Weißhaarige konnte sich ihre kleine, seltsame Familie nicht ohne Kurogiri vorstellen. Er hatte ihm bei der Eingewöhnung geholfen und ihm eine dampfende Teetasse ans Bett gebracht, wenn seine Albträume ihn nicht zur Ruhe kommen ließen. Er war wie der fürsorgliche Onkel, der sein eigenes Leben lebte, doch immer hier war, wenn man ihn brauchte. (Auch wenn man ihn dafür bezahlte.)
>>Ich habe für heute Reis und gebratenes Gemüse zubereitet. Ich hoffe, die Wahl ist dir genehm.<<
Um seinen Punkt zu verdeutlichen, öffnete der Butler die längliche Bento Box und der Duft von frisch zubereiteten Essen stieg in Tomuras Nase. Von einer dünnen Plastikwand getrennt, entdeckte er den noch warmen Reis und das saftige Gemüse ordentlich angeordnet. Es war ein weiterer Luxus in seinem verdammt privilegierten Leben, doch bei diesem hier musste er sich eingestehen, dass er vermutlich nicht mehr ohne leben konnte. Gutes Essen war einer der Hauptgründe für gute Laune und gemeinsam mit einem Butler in einem Haus zu leben, der vor Jahren die Ausbildung zum Koch absolviert hatte, bedeutete, dass es immer auf irgendeine Weise gutes Essen gab. Man mochte ihn als verwöhntes Einzelkind bezeichnen, doch er beschrieb es bevorzugt so: Er nahm einfach so viel in seinem Leben mit, wie irgendwie möglich.
>>Es sieht sehr gut aus. Danke dir.<<
Mit einem müden Lächeln schloss er die Bento Box und stopfte sie in seine prall gefüllte Schultasche hinein. Die Cornflakes, die er sich nun in die ovale Schüssel vor ihm füllte, ließen ihn dagegen eher die Nase rümpfen.
>>Es freut mich, dass meine Arbeit wertgeschätzt wird. Jetzt muss es nur noch gut schmecken, statt bloß gut auszusehen.<<, entgegnete Kurogiri in seiner gewohnt höflichen Art, wobei ihm jedoch nicht der kurze, kritische Blick entging, welchen dieser seiner Müslischüssel zu warf. Der Butler hatte schon mehrmals angeboten, ihm jeden Morgen ein frisch zubereitetes Frühstück zu servieren, doch er hatte jedes Mal abgelehnt.
Er war womöglich verwöhnt, doch er war kein dummer Junge. Er wusste, dass er spätestens nachdem er das sichere Nest hier verließ einen gewissen Grad der Selbstständigkeit brauchte, um in der großen, weiten Welt zu überleben. Egal, was kam, er würde nicht der Idiot sein, der im Studentenwohnheim nicht wusste, wie man den Geschirrspüler bediente! Deshalb erledigte er seine Haushaltspflichten nach Möglichkeit selbst. Wusch seine Wäsche selbst, saugte in seinem eigenen Zimmer Staub oder bereitete sich morgens sein eigenes Frühstück zu.
Auch, wenn es nur eine Schüssel Cornflakes war.
°
Der Tag war grau. So grau wie ein Tag eben sein konnte.
Dicke Wolkenberge verdeckten den Himmel und in einem deprimierenden Rythmus knallte ein blauer Wassertropfen nach dem Nächsten gegen die Scheiben des schwarzen Tesla, welcher sich seinen Weg durch die morgendlich geschäftigen Straßen bahnte. Eine strikte, mehr oder minder unausgesprochene Regel in ihrem seltsamen Haushalt, war das "Schlecht-Wetter-Gesetz", wie er es gern in seinem Kopf betitelte. Bei jedem Regenschauer oder Schneefall war es ihm strengstens verboten, mehr Schritte aus dem Haus zu tun, als bis zu ihrer Autotür notwendig waren. Natürlich hielt er sich nicht mehr daran, - Er war vielleicht verwöhnt, doch noch lange nicht so verwöhnt - doch nunja ... "Er nahm so viel in seinem Leben mit, wie irgendwie möglich!"
Sein Kopf lehnte an der von Regentropfen bedeckten Autoscheibe, während seine Augen auf die schlierige Welt da draußen gerichtet waren. Autofahrten mit Kurogiri waren still und entspannt. Der Butler hatte kein großes Redebedürfnis und Tomura dankte ihm stumm dafür. So hatte er mehr Zeit dazu, die Menschen auf den sonst so überfüllten Gehwegen zu betrachten und die kleinen feinen Details auszumachen, die sonst jedem zu entgehen schienen. Heute gab es nicht viel zu entdecken. Angesichts der erschütternden Regenmassen hatte die Menschen den gleichen Gedankengang wie er gehabt und waren zu der bequemen Variante auf vier Rädern gewechselt.
Die große und schlanke Gestalt, welche ihr Gesicht unter einer dunklen Kapuze verbarg, stach ihm deshalb besonders ins Auge. Er konnte nicht sagen, woran er ihn erkannt hatte, - Ob es die bekannte Schultasche, die schwarze Softshelljacke oder der gebückte Gang waren, welcher sein Profil vor allen unerwünschten Blicken versteckte - doch er wusste genau, welcher Junge dort draußen lief. >>Touya ... <<, murmelte er abwesend. Der wohl außergewöhnlichste Junge der Schule mit Narben, wie sie sonst keiner hatte und die ihn aus jedem Winkel zu einem absoluten Blickfang machten. Der, mit der mysteriösen Vergangenheit, über welche die gesamte Schule rätselte. Der Junge, wegen dem er nachts kein Auge zu tun konnte.
>>Wie bitte?<<
Kurogiris leuchtend gelbe Iriden sahen ihn fragend aus dem Rückspiegel an.
>>Der Junge da.<< Er tippte auf die Scheibe, dort wo die dunkle Gestalt durch die langen Pfützen watete. Beiläufig kam der Gedanke in ihm auf, wer zur Hölle sein Kind bei diesem Wetter hinaus in den Regen schickte, doch er entschied sich dazu, es zu ignorieren. Es gab sicher plausible Gründe. Zudem sollte er aufhören, sich dauernd in die Probleme Anderer zu verstricken. Er wusste doch ganz genau, wie dies endete. >>Das ist Touya Todoroki. Er geht in meine Jahrgangsstufe.<<
Kurzes Schweigen. Dann brummte der Butler zur Antwort und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Tomura dachte sich nicht viel dabei, als der Tesla plötzlich beschleunigte, doch die beinahe Vollbremsung, die sie nach ein paar Metern hinlegten, schleuderte ihn unsanft in seinem Sitz nach vorn. Zum ersten Mal, seit er in einem richtigen Auto mitgefahren war, war er dankbar über den Anschnallgurt, welcher ihn davor bewahrt hatte, zur Frontscheibe hinaus zu fliegen und nicht mehr aufzustehen.
Er riss den Mund auf, um nach einer Erklärung für diese Situation zu verlangen, doch das Klopfen von Kurogiris Knöchelchen gegen die Autoscheibe unterbrach ihn. Trotz des Regens fuhr der Butler die Fensterscheibe herunter und Tomuras Herz setzte einen schmerzhaften Schlag aus, als er begriff, was das Universum vor hatte, ihm anzutun.
Oh Scheiße, das konnte doch nicht -
>>Kann ich Ihnen helfen?<<
Die junge Stimme war bekannt. Viel zu bekannt. Als er es wagte, einen verzweifelten Blick aus dem Fenster der Fahrerseite zu werfen, entdeckte er einen vertrauten schwarzen Haarschopf, halb verdeckt von der dunklen Kapuze. Es war alles, das es brauchte, damit er wusste, dass er absolut, absolut, verkackt hatte!
>>Entschuldige die Störung. Tomura sagte, dass ihr Freunde seid. Wenn das Gymnasium sowieso unser beider Ziel ist, würde ich dich gern dazu einladen, bei uns mitzufahren. Ich würde einen jungen Gentleman nur ungern allein im Regen laufen lassen.<<
Moment. Moment! ... Freunde?!
Dieses Wort hatte niemals seinen Mund verlassen! Zweitens, sie konnten ihn nicht mitnehmen! Er ... Er war Touya! Der arme Sündenbock der Schule. Tomura gehörte zu der Gruppe seiner Mobber! Eine Vereingung von beiden ging einfach nicht! (Zudem musste der andere Junge ihn wohl abgrundtief hassen, für all die Dinge, die sie ihm bereits angetan hatten.)
Es gab also mehr als einen berechtigten Grund, wieso sie ihn nicht mitnehmen konnten! Niemals. Never.
>>Tomura?<<
Der Schwarzschopf legte fragend den Kopf schief. Er schien nicht recht zu wissen, was er mit dieser Information anfangen sollte und lugte durch das Fenster ins Innere des Autos. Die blauen Augen trafen auf seine verzweifelte Gestalt und ihre Blicke fanden einander. Als wäre er vom Stromschlag getroffen wurden, fuhr der Andere zurück. Die Art, wie er es tat, ließ irgendwas in ihm schmerzhaft verkrampfen.
>>Oh, äh ... <<
Er sah deutlich das paranoide umherblicken der blauen Seelenspiegel. Die Art, wie sich Touyas gesamter Körper nach einem Blick auf den Weißhaarigen versteifte. Er machte sich auf das schlimmste gefasst. Der Arme erwartete eine Ladung Spott oder eine weitere Tracht Prügel, dabei hatten sie ihm nur angeboten, ihn aufgrund des Regens bis zur Schule mitzunehmen. Keine bösen Konsequenzen eingeplant.
>>Ach, wissen Sie? Ich schätze Ihre Aufmerksamkeit, doch es ist nicht mehr weit, bis zum Gymnasium. Ich denke, das schaffe ich auch zu Fuß.<<
Verkriechen!
Tomura wollte am liebsten in irgendein Erdloch kriechen und nie wieder heraus kommen. Das hier war wohl mit weiten die schlimmste Situation, welche er sich für den heutigen Morgen hätte erträumen können! Es lag nicht an Touya, dieser hatte nichts falsches getan. Es war mehr ... Das Prinzip.
>>Tatsächlich? Meinem Gedächtnis nach zu urteilen, sind es noch etwa 10 Minuten bis zum Gymnasium und der Regen ist ziemlich stark heute.<<
Wenn er von Kurogiris zweifelnder Stimme ausging, dann musste diesem wohl auch längst klar sein, dass es sich bei den Worten des Schwarzschopfs um eine hilflose Ausrede handelte. Allein der Fakt, dass dieser eine Ausrede brauchte. Dass sein Respekt (Es war Angst, kein Respekt. Darüber nachzudenken wäre jedoch noch viel schlimmer.) so groß war, dass er es sich nicht einmal traute, sich einen Autositz entfernt von Tomura zu setzen, ließ Übelkeit in ihm aufsteigen.
>>Naja ... Also, ich ... Ihr Auto sieht teuer aus und meine Kleidung ist völlig durchnässt. Ich möchte keine Schäden verursachen.<<
Als er an dem Anderen herunter blickte, bemerkte er, wie durchgeweicht der Stoff von dessen Jeans war. Es war zwar Sommer und die Temperaturen nicht sonderlich kalt, doch den halben Tag lang in diesem Zustand herum zu laufen, musste nicht gerade ein Segen für die Gesundheit sein.
Gott! Das hier war absolut, absolut verkorkst!
Man durfte ihn nicht falsch verstehen, im Grunde hatte er nichts gegen diesen nassen, paranoiden Jungen. Er hasste ihn nicht, wie man nun wahrscheinlich vermuten würde. Es war mehr das Prinzip, ihre beiden Rollen, die es ihnen nicht erlaubten, sich einander anzunähern. Wäre Touya ein ganz normaler Schüler, wäre Tomura selbst nicht so ein riesiger Feigling, dann ...
Fakt war jedenfalls, dass eine Freundschaft zwischen ihnen nicht funktionieren konnte, so sympathisch der Andere auch sein mochte. Nicht in dieser Realität zumindest. Würde irgendjemand aus ihrer Schule ihn dabei beobachten, wie er dem Hassobjekt Nr. 1 einen Platz in ihrem Auto anbot ... Er wollte sich gar nicht erst vorstellen, was danach mit ihm passieren würde.
Andererseits ...
Noch einmal wanderte sein aufmerksamer Blick über sein Gegenüber. Dessen durchnässte Kleidung, der unterwürfige Blick seiner strahlend blauen Augen ... Touya sah aus, als könnte er ein wenig Sympathie gebrauchen.
>>Es ist okay, Touya. Die Bezüge auf unseren Sitzen sind wasserfest und zur Not waschen wir sie eben. Ich ... Es ist in Ordnung.<<
Er wusste, dass sie beide wussten, dass hinter diesen Worten mehr steckte, als der einfache Vorschlag, bei ihnen mitzufahren. Es war ein Friedensangebot. Dass Versprechen, dass keine bösen Konsequenzen folgen würden, stimmte er zu.
Für einen Moment huschten die blauen Augen noch unruhig hin und her. Er konnte die Räder in Touyas Kopf beinahe rattern hören. Er zögerte, besah sich noch einmal die Regenmassen und schluckte. Dann stellte der Andere zum ersten Mal Blickkontakt zwischen ihnen her. Tomura war genau so angespannt wie der Schwarzschopf, doch seine Züge waren weich und aufrichtig. Er meinte, was er sagte, auch wenn Touya ihm das vermutlich nicht glaubte. Für einige endlose Sekunden sahen sie sich einfach an, dann brach der Andere schließlich das stille Starren. Mit einem Nicken.
>>Gut. Na schön. Wo kann ich ... ?<<
Als Antwort öffnete er die Tür zur Rückbank und beobachtete, wie dieser unschlüssig einstieg. Dessen Kleidung hinterließ dunkle Flecken auf dem Sitz, doch dies konnte im Moment nicht unwichtiger sein. Der Weißhaarige war überrascht, dass dieser erst so viel Mut aufgebracht hatte, bei ihnen einzusteigen. Er hätte es ihm nicht vorwerfen können oder gar übel genommen, denn er wusste, dass er einen Teil der Schuld an Touyas Misstrauen in andere Menschen trug.
>>Seid ihr damit wirklich einverstanden? Ich tropfe den ganzen Sitz voll.<< Die Frage war zaghaft und verunsichert. So richtig zu trauen schien der Schwarzhaarige der Situation nicht, doch Tomura fühlte sich, trotz seiner anfänglichen Zweifel, um Unmengen erleichtert, diesen im Trockenen zu wissen. Wenigstens einmal konnte er diesem Jungen helfen. >>Tomura hat nicht gelogen, was die Wasserfestigkeit der Bezüge angeht. Ich darf dich also beruhigen, du wirst keinen Schaden anrichten.<<
Mit geübten Handgriffen brachte Kurogiri das Auto von dem Straßenrand, an welchen sie gehalten hatten, in eine gerade Position auf dem von Regen durchtränkten Asphalt und steurte wieder das Gymnasium an. Die zuversichtlichen Worte des Butlers, gepaart mit seiner ruhigen Art schienen dem Jungen ein Stück seiner Angst zu nehmen und dessen steife Schultern sackten langsam nach unten.
>>Dankeschön. Das ist ... wirklich sehr nett. Ich weiß das zu schätzen.<<
Die Bedankung war umschwänglicher, als er sie gewohnt war. Ein Indiz mehr dafür, dass der Andere sicher nicht oft solche spontanen Akte der Güte zu spüren bekam. Unschlüssig drehte er sich zu diesem herum und betrachtete ihn zurückhaltend.
>>Läufst du denn immer zu Fuß zur Schule? Selbst bei solchem Wetter?<<
Es war ein eher mühseliger Versuch, ein Gespräch zu beginnen - Smalltalk war noch nie seine Stärke gewesen - doch es schien zu funktionieren. Touyas Augen glitten zu ihm und dann sofort zu seinen Füßen zurück. Er hielt ihrem Blickkontakt nicht länger als ein paar Sekunden stand, doch er selbst war in keiner Position, um sich zu beschweren. Er war der Grund für dessen Angst. Dessen Schmerz. Alles Schlechte, was in seinem Leben passierte.
>>Die meiste Zeit schon, ja. Ich bevorzuge es zu laufen, statt in überfüllten Busen zu sitzen.<<
Oh, also reden konnte er auch! Das war interessant.
Die Erklärung klang plausibel. Jedoch wusste er, dass Touya die Aussage auch getätigt hätte, wären nur 5 und nicht über 20 Personen in den Busen. Er hatte gesehen, wie dieser Junge angeglotzt wurde. Wie ein Alien. Eine Attraktion im Zoo. Beinahe jeder Schüler an ihrem Gymnasium kannte den "vernarbten Freak" aus der Oberstufe und die Gerüchte, die man verbreitete waren keine Guten.
Es war krank. All dieser Hass für etwas, für das der Junge rein gar nichts konnte. Hätte der Schwarzschopf die Wahl gehabt, hätte er sich ganz sicher nicht dafür entschieden, so auszusehen. Tomura war angeekelt von sich selbst, Teil dieser Aktionen zu sein.
>>Ist dir kalt? Wir können die Heizung aufdrehen, wenn du magst.<<
Die Frage überrumpelte sein Gegenüber sichtlich und er schwieg einige lange Sekunden. Er schien es nicht begreifen zu können. Tomura Shigaraki, einer seiner Mobber, war plötzlich nett zu ihm und sorgte sich um sein Wohlbefinden? Unvorstellbar! Der Weißhaarige konnte selbst nicht sagen, was diese Veränderung in ihm ausgelöst hatte. Er wusste nur, dass er diesen Jungen nicht hasste.
Nun, er würde das ganze ein anderes Mal erklären.
>>Nein, nein. Ich bin in Ordnung. Aber ... Danke für das Angebot.<<
Dies war wohl das längste Gespräch, welches sie beide seit dem Beginn der 11. Klasse geführt hatten. Er hatte sich immer gewünscht, eines Tages auf Touya zu gehen zu können, sich bei ihm entschuldigen und sein ignorantes Verhalten erklären zu können. Jetzt, wo die Chance dazu gekommen war, fühlte er sich so ... entmutigt. Wie ein reiner Feigling. Er hatte nicht genug Mumm für ein Gespräch, ein ernsthaftes Gespräch, mit dem selben Jungen, welchen er Tag für Tag quälte und quälte und quälte. Nicht nach allem, was passiert war. Das hier musste also erst einmal ausreichen.
Die restliche Fahrt verlief entspannter, als anfangs vermutet. Entgegen seiner Erwartungen stellte sich Touya als angenehmer Gesprächspartner heraus. Sie redeten vielleicht nicht viel, doch selbst wenig war besser als nichts. Er mochte den Klang von dessen Stimme. Irgendwie. Sie war ein wenig rau und doch so ruhig und sanft. Die Art, wie er die Silben betonte und die Lippen beim Sprechen bewegte. Gegenüber Muscular und dem Rest dieser Verrückten schwieg er immer nur. Es war eine angenehme Abwechslung, ihn sprechen zu hören. Sehr angenehm.
Als Kurogiri sie schließlich vor dem Eingang des Schulgeländes absetzte (und Touya sich weitere 2 Male bedankte) standen sie nun beide unschlüssig im strömenden Regen herum.
>>Verdammt! Das Wetter ist ja noch scheußlicher, als es den Anschein hatte. Und bei diesem Regen läufst du zu Fuß zur Schule?<<
Angewidert wischte er sich die feucht-warmen Tropfen aus Haaren und Gesicht. Ein sinnloses Verfahren, da sofort die nächsten nachströmten. Missmutig blickte er zu Touya herüber, welcher ihn mit ausdrucksloser Miene betrachtete. Die schwarzen Strähnen hingen ihm ins Gesicht und bildeten so einen extremen Kontrast zu seiner hellen Haut, dass es beinahe unnatürlich aussah. Er versuchte, nicht die gesamte Zeit über auf die Narben an dessen Kiefer und unter seinen Augen zu starren, doch es war ein seltsam schweres Verfahren.
>>Irgendwann gewöhnst du dich dran. Dann nimmst du es als nicht mehr so schlimm war.<<
Er zweifelte an der Aussage, doch entschied sich dazu, es nicht weiter zu hinterfragen. Stattdessen musterte er den anderen Jungen verwirrt. Dessen gesamte Körpersprache hatte sich drastisch von der entspannten Autofahrt verändert. Er war steif vor Anspannung und stand in ausreichendem Abstand zu ihm. Der Ausdruck in den blauen Augen war beinahe feindselig. Als Touya sich ohne ein weiteres Wort von ihm abwandte und zu laufen begann, verharrte er erst einige Sekunden lang, vollkommen überfordert von dem spontanen Stimmungswechsel. Dann fasste er sich wieder und eilte diesem nach. Er war gerade im Gleichschritt mit dem Schwarzhaarigen, als die nächste Abfuhr kam.
>>Hör auf mir zu folgen.<<
Die Aussage war nicht laut oder aufgebracht, doch Touyas Ruhe war erschreckend bestimmend. Tomuras erster Instinkt war, erneut stehen zu bleiben, doch er ermahnte sich eines Besseren und wich nicht von der Seite des Jungen.
>>Was ist denn jetzt los? Habe ich etwas falsches gesagt?<<
Diesmal war es nicht er selbst, sondern der Schwarzhaarige, welcher abrupt stehen blieb. Fassungslos starrte er ihn an. Er wirkte wütend, doch ihm entging nicht das leichte Zittern in dessen Händen. Er war nervös.
>>Schwachkopf! Was glaubst du, was passiert, wenn sie uns hier zusammen sehen? Dann stecken sie deinen Kopf auch in die Kloschüssel und ich kann dir versichern, dass es keinen Spaß macht, beinahe an Toilettenwasser zu ersticken!<<
Bei der Vorstellung lief ihm ein Schauder über das Rückgrat. Ohne, dass er es wollte, dass er es kontrollieren konnte, spiegelten sich Erinnerungen aus längst vergangenen Zeiten vor seinem inneren Auge wieder. Eine lachende, johlende Jungsmenge. Spottende, hasserfüllte Blicke. Kräftige Fußtritte, die nicht einmal versuchten, die empfindlichsten Stellen zu meiden. In ihrer Mitte, ein kleiner schmächtiger Junge. Das Gesicht blutig, mit blauen Flecken und Schürfwunden übersäht. Allein. Ganz allein.
Es waren Erinnerungen, welche er lieber in der Vergangenheit begraben ließ. Welche er erstrecht keinem Jungen wie Touya aufbürden wollte ...
>>Ich weiß ... <<
Die Worte verließen seinen Mund, ohne dass er es beabsichtigt hatte. Touya schnaubte verächtlich und zog zweifelnd eine Braue hoch.
>>Machst du dich über mich lustig?<<
Seine Augen weiteten sich und betroffen sah er sein Gegenüber an. Er musste ihn für einen absoluten Heuchler, irgendeinen scheinheiligen Spinner halten. Er wusste, dass dessen Feindseligkeit seiner Angst zu verschulden war. Er kannte diesen Jungen vielleicht nicht gut, doch er war eine anständige, gerechte Person. Dies war ihm bereits nach ein paar Unterrichtsstunden bewusst gewurden. Die Sanftheit, mit der er sprach und das Geschick, mit welchem er sich ausdrückte, um niemanden vor den Kopf zu stoßen, waren nur kleine Zeugnisse davon.
Nein, der alleinige Grund, weshalb Touya nun so abweisend reagierte, war die Angst davor, von Muscular, Jin oder sonst irgendjemanden entdeckt zu werden. Er wollte nicht verspottet werden. Er wollte nicht, dass man ihm noch mehr weh tat.
>>Nein, ich - Tut mir Leid, ich wollte nicht - <<
Der Andere stoppte ihn, bevor er sich erklären konnte. Entweder er hatte einfach kein Interesse an Tomuras Worten oder aber ihm waren schon zu viele süße Lügen aufgetischt wurden.
>>Tomura.<<
Es war das erste Mal, dass Touya ihn beim Namen ansprach. Nun, es war auch das erste Mal, dass es einen wirklichen Anlass dafür gab, doch irgendwie fühlte es sich besonders an. Er mochte die Art, wie dieser das Wort aussprach. Auch, wenn es in diesem Moment mehr von Wut als allem anderem verschlungen war.
>>Geh einfach zu deinen Leuten zurück, okay? Bitte tu nicht so, als ... Keine Ahnung, als wären wir Freunde oder so. Mach dich nicht über mich lustig.<<
Die Worte trafen ihn. Mehr, als er äußerlich zeigte. Es schmerzte, zu wissen, was für ein Bild dieser von ihm hatte. Der hasserfüllte, gnadenlose Typ, welcher anderen Menschen keine Güte zeigen konnte, ohne im Hintergrund böse Konsequenzen zu planen. Er ... Er war nicht so. Tomura wollte nicht für den Kerl gehalten werden, welcher seinen Mitmenschen freiwillig Leid zufügte und sich daran erfreute. Verübeln konnte er es dem Schwarzschopf jedoch auch nicht, immerhin war er selbst Schuld an diesem verhängnisvollen Missverständnis.
Er würde es erklären.
Irgendwann.
Das musste er einfach.
Nicht jedoch heute. Dafür kannten sie sich noch nicht gut genug und Touya vertraute ihm viel zu wenig. Mit einem letzten deprimierten Blick auf ihn, drehte sich dieser schließlich um, doch noch bevor er einen weiteren Schritt machen konnte, griff Tomura nach seiner Hand und hinderte ihn so daran, erneut aus dieser Situation zu flüchten.
>>Touya.<<
Sein Gegenüber zuckte bei dem Kontakt zusammen. Muscular hatte ihn gut trainiert. Er hatte keine angenehmen Erfahrungen mit den Berührungen seiner Klassenkameraden. Weit aufgerissene, blaue Augen starrten ihn an, warteten auf seine nächste Bewegung, doch er blieb ruhig und bewahrte einen sanften, aufrichtigen Gesichtsausdruck.
>>Das, was heute morgen passiert ist ... Ich habe es nicht getan, weil ich dir etwas Böses will. Ich werde es weder Muscular, noch seinen Freunden verraten. Ich habe es getan, damit du nicht ganz allein im strömenden Regen laufen musst. Ich wollte dir helfen, Touya. Das ist ein Versprechen.<<
Ich hasse dich nicht.
Noch immer waren die blauen Augen weit aufgerissen und das Gesicht seines Gegenübers von Schock und Paranoia verzerrt. Er hatte Angst vor Tomuras Berührung, doch seine Worte waren sanft und seine Hand zärtlich, weshalb dieser einen Teil seiner Anspannung verlor. Er trat einen Schritt zurück, wandte den Blick ab, um sich zu sammeln. Die Ehrlichkeit von Tomuras Aussage zu argumentieren. Zögernd sah er erneut zu ihm. Er wusste nicht ganz, wie er den Ausdruck des Anderen deuten sollte. Ängstlich, verwirrt, doch auch irgendwie ... dankbar.
>>Okay. Dann ... Danke sehr, das ist ... wirklich nett.<<
Ein kleines Schmunzeln konnte er sich auf diese unbeholfenen Worte nicht verkneifen. Das hier war schon sehr viel besser, als er sich seine Beziehung zu Touya jemals hätte erträumen können. Es tat gut, diesen mit ein wenig Mut und Selbstvertrauen zu sehen. Nicht immer nur den schweigenden Touya mit leeren Augen und verlorenem Gesicht.
>>Gut, wenn das geklärt ist, dann lass uns endlich reingehen.<<
Der Angesprochene musterte ihn kritisch, wenn auch nicht ganz so abweisend, wie zuvor. Die weitere Botschaft war klar und er schnalzte schmunzelnd mit der Zunge.
>>Ich werde auch ein wenig Abstand zu dir halten, keine Sorge. Wir waren einfach zur selben Zeit am selben Ort. Nichts verdächtiges.<<
Während er dies sagte, setzte er sich bereits in Bewegung. Erst ein Moment der Stille, dann vernahm er leise Schritte, welche hinter ihm her liefen. Der Schwarzschopf folgte ihm, zwar nicht ohne den besagten Abstand auszulassen, doch es war ein Anfang. Tomura wollte nicht, dass sie beide verfeindet waren. Freunde würden und konnten sie zwar nicht werden, doch zumindest konnten sie einander mit Respekt behandeln. Er hasste Touya nicht. Er wollte nicht, dass dieser glaubte, dass er ihn hasste.
Es gab etwa 1 Millionen unausgesprochene Dinge zwischen ihnen, doch in diesem Moment war es egal.
Das hier war das nächste an einer Versöhnung, das sie wohl jemals bekommen würden und Tomura war nicht so dumm, diese Chance nicht zu nutzen.
< the End >
Nächstes Kapitel: Eine vielversprechende Projektarbeit ...
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