18. Der letzte Kampf
Playlist:
- "Silence"
- Marshmello ft. Khalid
"Stolz"
"Eine positive Emotion
als Reaktion auf individuellen Erfolg."
- by julislifestyle -
Touya
Er war 12 Jahre alt gewesen, als er das erste Mal von Fremden verachtet wurden war.
Damals hatte er den Hass schon gut genug gekannt. Schlaflose Nächte, in denen er sich stumm in seinem Bett hin und herwälzte und die Tränen auf seinem Kopfkissen ignorierte, während die barsche Stimme Enjis durch die Wände des Anwesens hallte. Eiskalte Augen, welche ihn von oben herab fixierten und harte Worte, welche jedes Mal von Neuem die fragilen Nähte seiner Seele auseinanderrissen.
Er war oft genug in seinem Leben verachtet wurden.
Für sein Aussehen. Sein Verhalten. Dafür, wer er war.
Irgendwann hatte er sich daran gewöhnt. An den Hass und die Enttäuschung, welche sich in Enjis Gesicht legte, sobald dessen Blick auf Touya traf.
Er hatte fest geglaubt, dass ihm die Verachtung nichts mehr anhaben würde. Dass all diese Blicke und harschen Worte an seiner Haut abprallen würden.
Damals war er ein Kind gewesen, welches viel zu schnell erwachsen werden musste. Ein Kind mit Albträumen und Narben.
Ein Wrack.
Er hatte unzählige Stunden seines Lebens in Kliniken und Psychatrien verbracht. Die Ärzte dort hatten sich ihm gegenüber stets freundlich und verständnisvoll verhalten. Niemals war ein schlechtes Wort über seine zerbrochene Psyche, oder Gott bewahre, über sein entstelltes Äußeres gefallen, welches erst langsam und allmählich wieder auf den Operationstischen gerichtet wurde.
Das war die Aufgabe dieser Personen gewesen.
Die Welt da draußen hatte sich anders verhalten.
Für die Leute dort war er eine Sensation gewesen. Ein Spektakel. Ein entstellter Freak mit Narben, die sich so tief eingebrannt hatten, dass sie seine ganze Seele zu verschlingen schienen.
Er war den Hass gut genug gewohnt gewesen. Jedoch niemals von Fremden.
Dieselben Menschen, welche ihn noch vor einem Jahr fröhlich auf der Straße gegrüßt und ihm ein offenes Lächeln geschenkt hatten, drehten sich nun weg, wenn sie ihm von Weitem kommen sahen. Dieselben Menschen, welche nun in Touyas Gegenwart die Hand vor den Mund hielten, um ihr schadenfrohes Grinsen oder ihre angeekelte Grimasse zu verstecken. Welche ihn wissbegierig über Dinge ausfragten, welche sie nichts anging und deren Stimmen laut und vorwurfsvoll wurden, sobald Touya ihr Spiel nicht mitspielte.
Er hatte geglaubt, dass ihm die Verachtung und der Spott nach endlosen Jahren davon nichts mehr ausmachen würde.
Er hatte falsch gelegen ...
In dem Klassenzimmer herrschte eine Totenstille.
Es war schwer, doch irgendwann hatte er gelernt, die gaffenden Blicke zu ignorieren, sobald er einen Raum betrat. Normalerweise hielt die Stille für eine Minute, maximal zwei Minuten an. Danach widmeten sich die meisten Personen wieder ihren eigenen Angelegenheiten oder flüsterten hinter vorgehaltener Hand mit ihrem Nachbarn.
Diesmal war es anders.
Sobald er den ersten Fuß über die Türschwelle gesetzt hatte, erstarb augenblicklich jedes noch so angeregte Gespräch.
Er spürte die Blicke. Heiß und intensiv. Wie ein Kribbeln auf seiner Haut.
Die Stille in dem Klassenzimmer war eisig und beklemmend. Selbst die Luft schien kälter, als noch vor einem Moment, als er einen tiefen Atemzug nahm und eintrat. Der Klang seiner Schritte das einzige Geräusch in der Stille.
Ein Schauer rann ihm den Rücken hinunter, doch er zwang sein Gesicht zu einem unbeeindruckten Ausdruck. Seine Hände hatte er an seinen Seiten zu Fäusten geballt, während er die Zähne fest aufeinander biss.
Sei stark!
Er wiederholte diesen Gedanken immer und immer wieder in seinem Verstand, so lange, bis dieser sich endlich festgesetzt hatte.
Er war das Einzige, was ihn davon abhielt, sich umzudrehen und zu flüchten.
Der Anblick des monotonen Klassenzimmers und all dieser endlosen, deprimierenden Gänge - dieses gesamten Schulgebäudes - weckte nichts in ihm, als zu viele Erinnerungen an Schmerz und Scham. Gefließte Wände, gegen die er mit dem Rücken gestoßen wurde und schmutzige Böden, auf denen sich seine stillen Tränen sammelten.
Er hatte dieses Gebäude seit über einer Woche nicht mehr betreten. Ein kleiner, optimistischer Teil seiner Seele hatte gehofft, dass diese Zeitspanne dafür ausgereicht hatte, damit er diesen Ort erneut mit klarem Verstand und ohne Vorurteile betreten könnte.
Optimismus war ein verdammt mieser Verräter.
Stattdessen lauerten noch immer dieselben, vertrauten Schatten hinter jeder Ecke und Biegung. Noch immer war seine Haltung gebückt, sich klein machend, sobald er die Schule betrat. Noch immer waren seine Schritte schnell und sein Verstand gehetzt. Noch immer wanderte sein Blick nach allen Seiten, während er Ausschau nach altbekannten Monstern hielt.
Vermutlich würde dieser Ort niemals etwas Anderes für ihn sein, als das Zentrum seines Schmerzes.
Der Brutherd seiner Albträume.
Sei stark!
Dieser Gedanke war seine ganz persönliche Rettungsleine, an welcher er sich mit aller Kraft festklammerte.
Er war nicht hierher zurückgekommen, um erneut zusammenzubrechen und zu flüchten. Er war hierher zurückgekommen, um stark zu sein. Um all diesen Leuten, welche ihn einen Scheiß kannten, zu beweisen, dass er mehr war, als "Touya das Opfer".
Still lief er auf seinen Sitzplatz in der letzten Reihe zu, welcher wie ein Omen vor ihm aufragte.
Ob gut oder böse würde sich noch herausstellen ...
Sein Rucksack war nicht übermäßig schwer. Dennoch klang das Geräusch, als er die Tasche auf dem Boden abstellte, wie ein Pistolenschuss in der Stille.
Seine Sinne waren bis zum Zerreißen gespannt, während er darauf wartete, dass dieses eisige Schweigen endlich gebrochen wurde. Dass einer seiner Mitschüler endlich den Mumm dazu aufbringen würde, den Mund aufzumachen, um ihn mit den Ereignissen von letzter Woche zu konfrontieren.
Touya hatte nicht die geringste Ahnung davon, was in der Zeit seiner unfreiwilligen Abwesenheit hier passiert war. Jin, Shuichi und Himiko brachten Tomura zwar regelmäßig auf den neusten Stand über das Geschehen am Gymnasium, doch all diese wild gesammelten und quer weitergereichten Informationen bildeten lediglich ein grobes Bild von dem großen Ganzen.
Touya wusste nicht, inwieweit und welche Lehrer in den "Unfall" von letzter Woche eingeweiht waren. Ob irgendjemand, außer Aizawa-Sensei persönlich überhaupt irgendeine klare Vorstellung von dem hatte, was passiert war.
Das hier war eine Schule.
Geschwätz und falsche Informationen gingen hier ein und aus, wie der Reis in der Kantine. Er wusste, dass die anderen Schüler die dunklen Fingerabdrücke an seiner Kehle und die verblasste Wunde an seiner Stirn erkennen konnten. Ihm war bewusst, dass jede Person an dieser Schule ganz genau wusste, dass sowohl er selbst, als auch Muscular dem Unterricht in der letzten Zeit ferngeblieben waren.
Es brauchte nicht viel, um eins und eins zusammenzuzählen. Die Karten lagen vollkommen offensichtlich auf dem Tisch ausgebreitet. Die Frage war nur, wie man sie mischte ...
Sein Blick richtete sich vom Boden auf, als er die Schritt vernahm, welche zielstrebig das Klassenzimmer ansteuerten. Es war ein vertrautes Schrittmuster, welches sich in seinen Verstand eingebrannt hatte. Das erleichterte Lächeln, welches sich daraufhin auf seine Lippen legte, überraschte ihn selbst ein wenig.
Eine Sekunde später stach ein wilder, violetter Haarschopf in sein Sichtfeld, der zu einem genau so punkig gekleideten Jungen gehörte. Touya verrenkte sich den Hals, um einen Blick auf die Gestalt werfen zu können, welche hinter Shuichi eintrat. Er kannte dieses schwarze, übergroße Shirt mit den dunklen Jogginghosen und diesen unverwechselbaren, roten Sneakern.
>>No way! Moxie und Millie brauchen auf jeden Fall noch einen dritten oder vierten Freund in ihrer Gang. Ich meine, ich hab noch Slasher, Trash und Flash, aber es braucht auf jeden Fall noch mindestens einen Neuzugang!<<
>>Komm schon, Dude. Wenn du dir weiterhin Geckos anschaffst, kannst du bald ein Tierheim eröffnen.<<
>>Moxie und Millie sind Bartagamen! Da ist ein Unterschied.<<
>>Was auch immer du sagst, Dude ... <<
Tomura und Shuichis Unterhaltung war nur schwer zu überhören. Tomura hatte ihm einmal von dem Reptilien Faible des anderen Jungen erzählt, dennoch war es nicht einfach, als Außenstehender die Zusammenhänge zu begreifen.
Er beobachetet, wie Shuichi den Mund aufmachte, um weiter zu argumentieren. Bevor dies geschehen konnte, traf dessen Blick jedoch völlig unvermittelt auf Touyas. Er wusste nicht genau, was Shuchi in dem Ausdruck in seinem Gesicht erkannte. Nach einem Moment schien dieser es sich jedoch anders zu überlegen und schüttelte lediglich leicht den Kopf. Mit einer kurzen Handgeste trennte sich der Junge schließlich von Tomura und lief zu seiner Bank hinüber.
Tomura dagegen blieb für einen weiteren Moment im Türrahmen stehen. Normalerweise handelte es sich um Tomuras intensive, rote Augen, welche als extremer Kontrast zu dessen blasser Haut sofort herausstachen. Heute war es jedoch die verblasste, doch noch immer eindeutig erkennbare Prellung, rund um Tomuras rechtes Auge herum, welche sofort die Blicke aller Mitschüler auf sich zog.
Man konnte es als Schadenfreude bezeichnen, doch in diesem Moment war er dankbar darüber, nicht mehr das alleinige Objekt von Jedermanns Interesse sein zu müssen ...
Es dauerte nicht lange, bis Tomuras Blick scheinbar zielstrebig den seinen traf. Der Junge war sich ganz klar der dutzenden Augenpaare bewusst, welche ihn unaufhörlich fixierten, als sich ein verschmitztes Grinsen auf dessen Lippen legte und er ohne zu Zögern Touyas Richtung ansteuerte. Dennoch wirkte der Andere vollkommen entspannt und selbstsicher, während er langsam auf ihn zuschlenderte.
Touya dagegen fühlte, wie sein Gesicht erhitzte und sich kalter Schweiß in seinen Achselhöhlen bildetete, als die gesamte Aufmerksamkeit mit einem Schlag nun wieder auf ihn gerichtet wurde.
Er war dankbar über Tomuras Gegenwart. Gleichzeitig hatte er sich in den letzten Tagen so sehr an die stillen Momente allein mit dem Jungen gewöhnt, dass diese ungewollte Aufmerksamkeit ihn völlig aus dem Kalten heraus erwischte.
Im Gegensatz zu ihm selbst, schenkte Tomura keinem dieser bohrenden Blicke Beachtung. Stattdessen stoppte dieser seine Schritte erst, als er mit dem Rücken zum Rest der Klasse vor Touya stehen blieb. Das freche Grinsen auf dessen Lippen verbreiterte sich nur noch.
>>Hey du. Lange her, dass wir uns hier über den Weg gelaufen sind.<<
Irgend etwas an Tomuras Gelassenheit schien ansteckend, denn bei dem ruhigen Klang von dessen Stimme und der entspannten Haltung seines Gegenübers spürte Touya, wie seine eigenen Schultern instinktiv ein Stück nach unten sackten.
>>Hey. In den letzten Tagen gab es keine Gelegenheit dazu. Ich hoffe, du hast mich gebührend vermisst.<<
Es war ein Scherz. In den letzten Tagen hatten Tomura und er quasi jede freie Minute miteinander verbracht. Das wusste sein Gegenüber genau so gut wie Touya.
Dennoch schenkte Tomura ihm nur weiterhin ein verschmitztes Grinsen.
>>Natürlich habe ich dich vermisst. Wie könnte ich dieses Gesicht denn nicht vermissen?<<
Touya war sich nur zu gut der stechenden Blicke seiner Mitschüler bewusst, als Tomura sich auf den freien Stuhl neben ihm sinken ließ und ihre Hände unter Touyas Bank miteinander verschränkte.
Nun, jetzt war es wohl eher die Schulbank von ihnen beiden.
Er wusste, dass all diese Leute ihn anstarrten und jeden seiner Schritte genaustens analysierten.
In diesem Moment hätte es ihm jedoch nicht egaler sein können.
Seine Mitmenschen hatten sich nie für Touya Todoroki interessiert, außer wenn er den nächstbesten Skandal verursachte. Seine Entscheidung lagen immer noch bei ihm selbst. Wie er sein Leben lebte, ging all diese Leute verdammt nochmal einen Scheißdreck an.
So, als hätte Tomura seine Gedanken gelesen, wanderte dessen verschmitzter Blick durch die Reihen an fassungslosen Schülern.
>>Verdammt, da haben wir beide eine ganz schöne Szene verursacht. Die hören ja gar nicht mehr auf zu Glotzen.<<
>>So schnell werden sie auch nicht wieder damit aufhören. Gewöhn dich schon einmal daran. Meine Paparazzi sind jetzt auch zu deinen Paparazzi gewurden.<<, scherzte er.
Es fiel ihm leichter, die Situation ins Lächerliche zu ziehen, statt dem Ernst der Realität entgegenzutreten. Eine süße Lüge ließ sich noch immer schneller verdauen, als die bittere Wahrheit.
>>Huh. Hab gehört, Jin trainiert neuerdings im Gym. Für eine gute Bezahlung ist er auf jeden Fall bereit, unseren Bodyguard zu spielen.<<
Tomuras Stimme war noch immer amüsiert.
Sie beide waren zwei gute Schauspieler. Es fiel ihnen viel zu leicht, diese sorglose und unbeschwerte Rolle anzunehmen, um den wahren Grund von all diesen fassungslosen Blicken zu verdrängen.
Als Tomura sich jedoch im nächsten Moment in seine Richtung drehte, wurde Touya schlagartig bewusst, dass nicht das gesamte Verhalten des Jungen ein Spiel war.
Stattdessen war der Ausdruck in Tomuras blutroten Augen ehrlich und voller schwerer Emotionen, welche der Junge nur ihm offenbarte. Dessen Stimme klang leiser, als zuvor - irgendwie sanfter - als dieser zu sprechen begann.
>>Touya, meine nächsten Worte klingen für dich vielleicht kitschig, aber du musst wissen, dass ich sie ganz genau so meine. Ich werde an deiner Seite bleiben. Egal, was die Leute über uns zu sagen haben. Ich bleibe bei dir. Das meine ich ernst.<<
>>Ist schon gut. Ich weiß, dass - <<
>>Nein. Entschuldige, dass ich dich unterbreche, aber du musst verstehen, dass es mir sehr viel bedeutet, dass du meine Worte ernst nimmst. Ich habe dich schon viel zu oft im Stich gelassen. Ich möchte, dass du weißt, dass ich mein Bestes geben werde, um besser, als damals zu sein. Ich möchte Niemanden mehr enttäuschen, der mir etwas bedeutet. Du bist ... so viel für mich, Touya. Ich möchte dich nie wieder enttäuschen oder verletzen. Okay?<<
Diese Worte brachten ihn zum Schlucken.
Das sorgfältig geschulte Grinsen rutschte ihm von den Lippen und ließ ihn vollkommen sprachlos zurück. Sein Mund fühlte sich plötzlich trocken an, so als hätte er Sandpapier verschluckt, während er mit weiten, überraschten Augen dem aufrichtigen Blick seines Gegenübers begegnete.
Er versuchte, eine geeignete Antwort zu finden, doch nichts von dem, was er hätte sagen können, würde Tomuras Versprechen gerecht werden.
Er hatte keine Ahnung, ob der Andere bereits die Fähigkeit entwickelt hatte, seine Gedanken zu lesen, denn dieser schien instinktiv ganz genau zu wissen, was er tun musste. Mit dem behutsamen Druck ihrer verschränkten Hände und einem milden Lächeln versicherte Tomura ihm, dass es in Ordnung war. Dass dieser ihn auch ohne Worte verstand.
>>Wir schaffen das, Touya. Du schaffst das.<<
Mit jeder verstrichenen Sekunde fühlte sich seine Kehle immer trockener und sein Mund immer staubiger an.
Am Ende wurde er schließlich durch Zufall von dem Druck befreit, eine geeignete Antwort zu finden, noch bevor ein erstes Worte seinen Mund verlassen hatte.
Das schrille Läuten der Schulklingel ließ ihn kurz zusammenzucken und machte ihm schlagartig wieder bewusst, an welchem Ort er sich befand. Es war keine Sekunde später, in der er schließlich die langsam, schlurfenden Schritte vernahm, welche den Raum betraten und sofort die gesamte Aufmerksamkeit der Klasse auf den eintretenden Mann zogen.
Aizawa-Sensei war stets der Letzte, welcher das Klassenzimmer betrat.
Touya wusste nicht, ob es an einem chronischen Zuspätkommen lag oder ob der Lehrer einfach so wenig Zeit wie möglich mit wissbegierigen und vorlauten Teenagern verbringen wollte. So, wie man den Mann kannte, wohl eine Mischung aus beiden Faktoren.
Aizawa-Sensei machte sich nicht die Mühe dazu, sie zu begrüßen. Es hätte als unhöflich gelten können, genau wie all die kleinen, spitzen Bemerkungen und sarkastischen Kommentare des Mannes.
Aizawa-Sensei war ein Mensch, der sehr viel Zeit und Mühe darin investierte, seine kühle und unantastbare Fassade aufrecht zu erhalten, um Niemanden nah an sich heranzulassen.
Touya wusste jedoch ganz genau, was es bedeutete, eine Rolle zu spielen. Er selbst hatte Jahre seines Lebens damit verbracht, eine Mauer der kalten Unnahbarkeit um sich herum aufzubauen. Er wusste, in welchen Momenten eine Person lediglich eine Rolle spielte und welchen diese Person ihre wahren Gefühle zeigte. Hinter Aizawa-Senseis harter Schale versteckte sich definitiv ein weicher Kern.
Das konnte er aus Erfahrung sagen.
Nachdem Muscular Touya vor einigen Monaten besonders schlimm zugerichtet hatte und er das Gefühl gehabt hatte, sich vor Schmerz und Übelkeit nicht mehr bewegen zu können, war Aizawa-Sensei der Einzige gewesen, welcher nach ihm geschaut hatte. Der sein Fehlen überhaupt bemerkt hatte ...
Vermutlich hatte der Lehrer schon damals eine grobe Theorie davon gehabt, was genau mit Touya geschehen war. Aizawa-Sensei hatte ihn jedoch betrachtet und schien ganz genau gewusst zu haben, dass Touya nicht reden würde.
Also hatte dieser es dabei belassen.
Stattdessen hatte er sich ohne Beschwerde um Touya gekümmert und die Entscheidung ihm überlassen, ob er die Wahrheit aussprechen wollte oder nicht. Auch danach hatte der Mann ihn nicht anders behandelt. Er hatte Touyas Schweigen in einem stummen Einverständnis aktzeptiert, statt ihn dafür zu verurteilen.
Das allein war mehr, als er hätte hoffen können ...
>>Denkst du, er wird uns darauf ansprechen, was passiert ist?<<, flüsterte Tomura ihm von der Seite aus zu.
Der Junge wusste nicht, dass der Lehrer Touya bereits einmal gefunden und ihm geholfen hatte. Touya entschied sich dazu, dieses Wissen weiterhin als Geheimnis zu behalten und zuckte stattdessen mit den Schultern.
>>Ich weiß nicht. Für mich wirkt er eher wie eine Person, die darauf wartet, dass wir freiwillig zu ihm kommen.<<
Daraufhin murrte Tomura lediglich.
>>Und möchtest du das?<<
Touya bemerkte, wie Aizawa-Senseis Blick in ihre beide Richtung wanderte und für den Bruchteil einer Sekunde an ihnen hängen blieb. Matte, dunkle Augen, welche ihn mit einem stillen Ausdruck des Wissens und Verständnisses betrachteten.
Eine Sekunde später wandte der Mann den Blick zurück nach vorn und schritt im gemähchlichen Tempo auf den Lehrerpult zu.
>>Ich weiß es nicht.<<
So ruhig und gefasst, wie Touya sich nach außen hin gab, so tobte in seiner Seele doch eine wilde und kreischende Flut der Emotionen.
Es war schwer zu sagen, was er in diesem Moment wirklich wollte ...
Ein dumpfer Knall stoppte sie alle in ihren Gedanken, als Aizawa-Sensei seine Dokumente lieblos auf den Tisch fallen ließ. Der Lehrer nutzte das Schweigen der Klasse und die stummen, erwartungsvollen Blicke als dramatische Pause.
Dann räusperte sich der Mann schließlich und begann ohne viel Vorgeplänkel zu sprechen.
>>Gut. Lasst uns nicht lange darum herum reden. Ihr alle solltet wissen, welcher Tag heute ist. Diejenigen, die es nicht tun, dürfen sich jetzt bitte erheben und mein Klassenzimmer verlassen.<<
Natürlich wussten sie alle, welcher Tag heute war. Der Freitag, den Touya seit einer Woche am liebsten aus dem Kalender gestrichen hätte.
Der Freitag ihrer Zwischenprüfungen.
Er musste es nicht schön reden, dass ihre Arbeit eine Ansammlung aus leeren Blättern war. Das wusste Tomura genau so gut, wie er selbst.
"Was ist Glück?"
Anfang dieser Woche hatte Tomura noch versucht, ihre nicht vorhandene Ausarbeitung zu retten, doch er hatte den Jungen aufgehalten, bevor sich dieser komplett für etwas verausgabte, was sich nicht retten lassen wollte.
Noch immer herrschte eine beklemmende Stille in der Klasse. Man hätte einen Bleistift fallen hören können, in der Leere, welche ihre aller Erwartung hinterlassen hatte.
Touya war sich nur zu gut des ein oder anderen schamlosen Blickes bewusst, welcher ihm zugewurfen wurde, doch er blieb genau so reglos sitzen, wie alle anderen auch.
Nicht einmal Shuichi, der sonst für jeden dummen Scherz zu haben war, erhob sich von seinem Platz.
Nach einem Moment verschränkte Aizawa-Sensei schließlich die Arme vor der Brust und schnaufte belustigt.
>>Schon verstanden, Streberklasse. Wollen wir doch mal sehen, ob ihr tatsächlich so gut seid.<<
Ohne weiter um den heißen Brei herumzureden, bat der Lehrer die erste Gruppe nach vorn.
Zwei eher zurückhaltende, doch disziplinierte Mädchen. Innerhalb ihrer Präsentation hatten sie es sich zur Aufgabe gemacht, zu ergründen, ob wir nur dafür lebten, um dieselben Wege zu beschreiten, welche bereits von jeder vorherigen Generation erkundet wurden waren und die gleichen Fehler immer und immer wieder zu wiederholen.
Touya war niemand, der denselben Fehler zweimal beging. Er hatte auf die schmerzhafte Art gelernt, wie wichtig es war, schnell zu lernen und sich anzupassen.
Und doch hatte er selbst das Gefühl, im Kreis zu laufen. Ständig in dieselben Fallen zu treten und denselben Räubern zu begegnen.
Manchmal hatte er das Gefühl, sein Leben drehte sich im halsbrecherischen Tempo in einem schrecklichen Karussell, aus welchem es kein Aussteigen gab ...
Es handelte sich um eine gute und tiefgründige Präsentation, welche in jeder anderen Situation sicher sein Interesse geweckt hätte. In diesem Moment konnte er sich jedoch auf nichts anderes konzentrieren, als auf das flaue Gefühl in seinem Magen und darauf, wie unglaublich nervös er war.
Diese Anspannung steigerte sich nur noch mit jeder weiteren guten und tiefgründigen Präsentation, welcher er zuhörte. Es war ungefähr nach dem dritten makellosen Vortrag, als Tomura schließlich neben ihm die Arme vor der Brust verschränkte und sich schnaufend in seinem Stuhl zurücklehnte.
>>Verdammt. Langsam bekomme ich das Gefühl, all diese Leute haben sich gegen uns verschworen!<<
Touya blieb still, während sein Blick stumm auf der leeren Tischfläche vor ihm haftete.
Die vorletzte Präsentation aus ihrer Klasse, welche unmittelbar vor der von Tomura und ihm gehalten wurde, stammte von Shuichi und Atsuhiro Sako. Touya glaubte nicht, sich die langen Blicke der beiden Jungen nur einzubilden, als diese ihre Positionen vor dem Rest der Klasse einnahmen.
Als die zwei schließlich zu sprechen begannen, wusste er auch wieso.
Ihr Thema handelte davon, zu beurteilen, ob die Taten eines Menschen wirklich alles waren, was ihn als Person ausmachte oder ob mehr dahinter steckte. Touya bildetete sich die Blicke definitv nicht ein, welche Shuichi ihm daraufhin zuwarf.
Er war nicht wütend darüber. Auf eine seltsame Art und Weise fand er es sogar witzig.
Die bittersüße Ironie des Schicksals ...
Mit jeder verstrichenen Sekunde schien die Zeit vor ihm immer mehr und mehr zu verschwimmen. Es fühlte sich so an, als wäre lediglich ein Moment vergangen, bevor Shuichi und Atsuhiro sich schließlich wieder zu ihren Plätzen begaben und sich alle neugierigen Augenpaare gebannt auf Tomura und ihn richteten.
Die Stille, welche sich daraufhin in dem Raum ausbreitete, fühlte sich noch eisiger und beklemmender an, als zuvor.
Er benötigte seine doppelte Kraft und Willensstärke, als er einen tiefen Atemzug nahm und sich dann langsam erhob. Das Getuschel setzte augenblicklich ein, als weder er selbst, noch Tomura nach einem Notizzettel griff. Stattdessen traten sie als Einzige aus der gesamten Klasse mit leeren Händen nach vorn.
Er spürte die Blicke. Die Art, mit welcher jede ihrer Bewegungen bis ins kleinste Detail überwacht und analysiert wurde. Sie bohrten sich wie Pfeile in seine Haut und trafen genau die Stellen, an denen es am Meisten wehtat.
Verdammt! Er hatte diesen Scheiß zu lange mitgemacht, um sich jetzt noch zu kümmern ...
Er hatte all diese Blicke und das heimliche Geflüster bereits erwartet. Es war genau so schmerzhaft, wie vorhersehbar. Was er nicht erwartet hatte, war die fremde Handfläche, welche sich vollkommen unerwartet von der Seite aus auf seinen Arm legte. Nicht, um ihn festzuhalten, sondern lediglich um ihn in seiner Bewegung zu stoppen.
Als sein überraschter Blick zur Seite wanderte, erkannte er Aizawa-Senseis dunkle Augen, welche ihn mit einer ungewohnten Schärfe und Intensität betrachteten. Der Mann ließ sich nur schwer lesen. Touya hatte jedoch oft genug Mitleid und Reue in den Gesichtern seiner Mitmenschen gesehen, dass er diese Emotionen auf den ersten Blick erkannte.
>>Touya, Tomura. Ihr müsst nicht - <<
Dies war ein Angebot, welches er nicht von jemandem wie Aizawa-Sensei erwartet hatte. Der Lehrer schätzte Sonderbehandlungen genau so wenig, wie Touya selbst. Seine Schüler waren vor ihm gleich, egal wo sie herkamen und was ihre Hintergrundgeschichte war.
Aizawa-Sensei hatte Touya aufgrund seines Aussehens oder seines verschreckten, zurückhaltenden Verhaltens nie anders behandelt. Nicht einmal, nachdem der Lehrer ihn damals mit tränenverschmierten Wangen und brüchiger Stimme in der Schultoilette aufgefunden hatte. All das hatte sich niemals auf Aizawa-Senseis Unterricht oder dessen Bewertung ausgewirkt.
Er hatte Touya nicht bevorzugt, weil er klein und fragil war.
Dies war eine Eigenschaft, welche Touya zutiefst an dem Mann schätzte.
Er benötigte keine Zeit zum Nachdenken, um seine Antwort zu kennen. Er wusste, dass Aizawa-Sensei ihm niemals ein solches Angebot unterbreitet hätte, wenn der Lehrer nicht fest davon überzeugt gewesen wäre, dass Touya die Hilfe benötigte.
Es überraschte ihn selbst ein wenig, wie zielstrebig sein Verstand dagegen hielt, doch ...
Er wollte nicht anders behandelt werden, nur weil seine Mitmenschen ihn für schwach und zerbrechlich hielten.
Vielleicht würde diese Entscheidung in einem reinen Desaster enden, doch er wollte einmal in seinem Leben das tun, was sich richtig anfühlte.
>>Ist schon okay. Niemand muss die Spielregeln für uns ändern.<<
Mit dieser direkten Antwort befreite er sich aus dem Griff des Lehrers und nahm zielsicher seinen Platz vor der Klasse ein.
Hinter ihm hörte er Tomuras schlurfende Schritte, während der Andere nur widerwillig seinen Platz neben Touya einnahm. Als sein Blick flüchtig zu dem Jungen hinüberwechselte, erkannte er die Anspannung und Nervösität in jeden von dessen Zügen. Es stellte einen extremen Kontrast zu dem selbstbewussten Verhalten und dem gesunden Ego dar, welches Tomura vorhin vor der Klasse zur Schau gestellt hatte.
Die jetzige Situation war jedoch anders.
Es fühlte sich so an, als würden Tomura und er gemeinsam zu ihrer Hinrichtung laufen, während sie von den Blicken der hungrigen Meute um sie herum geradezu verschlungen wurden. Er konnte es Tomura nicht verübeln, dass dieser am liebsten eine scharfe Kehrtwende hingelegt hätte.
Der Junge hatte Touya jedoch versprochen, ihm auf seinem Weg beizustehen und seine Entscheidungen zu unterstützen, so hart und schmerzhaft sich dieser Pfand auch gestalten mochte.
In diesem Fall war seine Entscheidung längst gefallen.
>>Du übernimmst die Einleitung. Sag ihnen unsere Namen und unser Thema. Ich übernehme den Rest.<<, murmelte er Tomura von der Seite aus zu.
Es handelte sich um keine Frage, sondern vielmehr um eine Anweisung. So angespannt und verkrampft, wie der andere Junge jedoch in dieser Situation neben ihm wirkte, bezweifelte er, dass dieser dazu in der Lage war, eigenständig eine logische Entscheidung zu treffen.
Tatsächlich beobachtete er, wie dessen Schultern nach Touyas Worten erleichtert ein Stück nach unten sackten. Der Ausdruck in Tomuras roten Augen war noch immer kritisch, doch er erkannte einen gewissen Hauch der Dankbarkeit darin.
>>Hast du denn überhaupt einen Plan?<<
Er antwortete ehrlich.
>>Nein. Vertrau mir einfach.<<
Im ersten Moment wirkte sein Gegenüber bereit zum Protestieren. Dann fiel Tomuras Blick jedoch erneut auf die Reihen an aufmerksamen Schülern, welche sie mit ihren intensiven Blicken an Ort und Stelle fixierten, während ihm die Lage, in der sie beide sich befanden, erst jetzt wirklich bewusst zu werden schien.
Sie beide waren längst an ihrem Umkehrpunkt vorbeigestürmt. Es existierte nur noch der Weg nach vorn.
Mit einem Gesichtsausdruck, welcher viel zu verkrampft war, um noch als gelassen durchzugehen, streckte Tomura den Rücken durch und warf einen letzten, gequälten Blick in Touyas Richtung.
>>So wie ich dich kenne, zauberst du jetzt den besten Vortrag, den ich je gehört habe, von irgendwo hervor. Wehe, du enttäuschst mich. Dann muss ich wohl leider glauben, dass du auch nur ein normales, sterbliches Wesen bist, wie wir alle.<<
>>Wenn das deine Art ist, um mir viel Glück zu wünschen ... <<
>>Wahrscheinlich schon. Viel Glück, Touya.<<
Nach diesen Worten richteten Tomura und er nun endgültig ihre volle Aufmerksamkeit auf die Klasse vor ihnen. Jeder einzelne Blick war auf sie beide gerichtet. Es gab keine Person, die sich in diesem Moment für etwas anderes interessierte, als die zwei Freaks im Scheinwerferlicht, welche das nächstbeste Spektakel garantierten.
Die Stille war so eisig, dass ihm unweigerlich die Härchen abstanden. Selbst Aizawa-Sensei hatte aufmerksam das Kinn auf den Fingern abgestützt, während der Lehrer einen absolut grottigen Job damit hinlegte, sein Interesse hinter seiner üblichen unbeeindruckten Maske zu verstecken.
Die gesamte Welt stand still und wartete nur auf Tomura und Touya.
Mal wieder.
Er wusste nicht, wie viel Zeit verging, bis er endlich das Hüpfen von Tomuras Adamsapfel erkannte und das Räuspern des Jungen die angespannte Stille durchschnitt.
>>So, äh ... Hi. Ich bin Tomura - keine Ahnung, wieso ich euch das überhaupt noch sagen muss - und das hier ist mein Gruppenpartner Touya. Wir beide haben die Aufgabe bekommen, darüber zu philosophieren, was Glück ist. Also ... äh ... <<
Touya hatte keine Ahnung, wie Tomura vorhin so viel Selbstbewusstsein aufgebracht hatte, währen dessen Stimme nun wie eine wacklige Seite zitterte. Touya war die Art zu gut vertraut, mit der Tomura den Kopf einzog und sich hinter seinen eigenen Schultern versteckte.
Der Junge wirkte klein und verletzlich. Wie ein Beutetier, welches genau wusste, dass seine Jäger es von allen Seiten umzingelt hatten.
Als Tomura ihm schließlich einen hilflosen Blick von der Seite aus zuwarf, entschied er sich dazu, Gnade walten zu lassen.
>>Wie Ihr sehen könnt, haben Tomura und ich keine bildliche Präsentation oder Notizen vorbereitet. "Was ist Glück?" Diese Frage lässt sich in keinem einfachen Satz beantworten. Man kann nicht einfach dazu googeln und sich die passenden Lösungen herauskopieren. Die Antwort darauf zu finden, ist ein weitaus komplizierterer Prozess.<<
Nach seinem letzten Satz ließ er eine kurze, dramatische Pause. Hauptsächlich dafür, dass er einen Atemzug nehmen und seine Gedanken sammeln konnte.
Er wusste, was er diesen Leuten sagen wollte.
Tomura gegenüber hatte er erwähnt, dass er keinen Plan hatte, doch das stimmte nicht ganz. Die letzte Nacht hatte er stundenlang wach gelegen und darüber gegrübelt, wie er seine Botschaft am Besten vermitteln konnte.
Er wusste, was er sagen wollte. Er benötigte lediglich die richtigen Worte, um seine Zuhörer verstehen zu lassen.
>>Glück ist eine fragile Empfindung. Es ist subtil und flüchtig. Es taucht schnell und völlig unerwartet auf, doch verschwindet auch genau so plötzlich wieder. In einigen Momenten zieht es einfach an uns vorbei, ohne dass wir uns tatsächlich über seine Gegenwart bewusst waren. Manchmal muss man erst spüren, was es bedeutet, unglücklich zu sein, um zu wissen, wie sich Glück anfühlt.<<
Die Klasse schwieg.
Er hatte erwartet, dass spätestens ab diesem Moment irgendein Raunen oder heimliches Getuschel durch die Reihen hallen würde. Stattdessen war die Stille so intensiv, dass er Tomuras angespannte Atemzüge neben ihm hören konnte.
Er konnte nicht beschreiben, was er selbst in diesem Moment empfand. Er fühlte sich nicht gestresst oder ängstlich, jedoch auch nicht überschwänglich freudig. Es war mehr eine Art der ... inneren Ruhe und Erleichterung, welche sich in ihm ausgebreitet hatte, nachdem ihm bewusst gewurden war, dass man ihm zuhörte.
Die Menschen achteten nie darauf, was er zu sagen hatte. Es ging immer nur darum, wie er aussah oder für welchen Skandal er gesorgt hatte.
Am Anfang hatte es ihm noch etwas ausgemacht. Das waren die Zeiten gewesen, in welchen er sich noch verteidigt und den Leuten widersprochen hatte.
Solange, bis ihm schließlich schmerzhaft bewusst gewurden war, dass egal, was er zu sagen hatte oder wie wahr seine Worte waren, es niemals eine Rolle spielen würde. Die Leute glaubten nur das, was sie glauben wollten. Es machte keinen Unterschied, ob Touya ihnen jeden Tag widersprach und ihnen unermüdlich bewies, dass sie mit ihren Annahmen und Thesen falsch lagen.
Das Bild von Touya Todoroki, dem vernarbten Freak, hatte sich viel zu klar in die Köpfe dieser Menschen eingebrannt, um es jetzt noch ändern zu können.
Also hatte er sich auf die Zunge gebissen und die Rolle angenommen, welche die Gesellschaft so unerbitterlich in ihm erkennen wollte.
Es hatte nicht lange gedauert, bis er selbst nicht mehr gewusst hatte, welcher Teil von ihm einer Rolle und welcher seinem wahren Ich angehörte. Irgendwann war er genau zu dem gewurden, was er immer verachtet hatte und was doch jeder in ihm sehen wollte.
Er war so lange stumm geblieben, dass er nicht daran geglaubt hatte, dass man seine Stimme noch hören würde ...
>>Ich kann euch weder beschreiben, wie es sich anfühlt, unglücklich zu sein, noch wie sich Glück anfühlt. Das kann ich nicht. Es ist schlichtweg nicht möglich. Es gibt vermutlich nichts intimeres und verborgeneres, als die Gefühle eines Menschens. Wir können sie mit Worten beschreiben und versuchen, sie mit anderen Menschen zu teilen, doch am Ende werden immer nur wir selbst wirklich verstehen, was und wie wir empfinden.<<
Er dachte an seine eigenen Empfindungen.
An all die Nächte, in denen die Tränen auf seinem Kopfkissen ein salziges Meer gebildet hatten, während er sich selbst eingeredet hatte, dass es ihm gut ging. An all die Tage, an denen er das Gefühl gehabt hatte, nicht mehr aus dem Bett hochzukommen und sich dennoch hochgemüht hatte, um seiner Familie das perfekte Lächeln auf seinen Lippen zu präsentieren, welches bei genauerem Hinschauen schon längst eingefroren war.
>> Gefühle können verwirrend und beängstigend sein. Manchmal verstehen wir selbst nicht, was wir empfinden. Es kann Zeit und Geduld kosten, sich wirklich damit auseinanderzusetzen, was wir fühlen. In einigen Momenten ist es leichter, eine Rolle anzunehmen, von der wir glauben, dass sie uns besser steht, als in den Spiegel zu schauen und uns damit zu konfrontieren, wer wir wirklich sind.<<
Heh, ironisch von ihm dies zu sagen.
Touya war viel zu gut darin, eine Rolle anzunehmen und sich an diese anzupassen ...
>>Glück ist oft subtil und teilweise sehr kurzlebig. Meist wirst du nicht so heftig und abrupt davon erfasst, wie von anderen Emotionen, wie Wut oder Trauer. Eher schleicht es sich im Stillen an dich heran und packt dich, ohne dass du es bemerkst. Das kann dazu führen, dass wir das Gefühl haben, unser Glück noch nicht gefunden zu haben, obwohl es in Wahrheit die ganze Zeit über neben uns stand. Glück ... Glück ist keine Empfindung, die sich lautstark ankündigt und die man mit der passenden Zeit und Situation erzwingen kann. Eher schleicht sie sich genau in den Momenten an dich heran, in welchen du am wenigsten damit rechnest. Manchmal haben wir alles erreicht, von dem wir geglaubt hatten, dass es uns glücklich machen würde und fühlen uns dennoch leer. Und manchmal ... Manchmal suchen wir ein Leben lang danach, ohne zu wissen, dass es nur einen Blick nach Hinten kostet, um es zu finden.<<
Er hatte nicht erwartet, von genau den Emotionen überwältigt zu werden, von denen er gerade noch gesprochen hatte. Er wusste jedoch, dass er nicht der Einzige war, welcher das Zittern in seiner Stimme hörte.
Sein Blick klebte derweil auf der leeren Bank ganz hinten im Raum. Er versuchte, niemanden seiner Mitschüler direkt anzusehen und seine Gedanken ganz allein auf seine Aufgabe zu fokussieren. Er wusste nicht, wohin sie wandern würden, wenn er ihnen erlaubte, zu driften ...
>>Oftmals erwarten wir, unser Glück in der Ferne zu finden. Statt im Hier und Jetzt zu leben und zu erkennen, dass wir schon jetzt so viele unscheinbare Dinge haben, welche uns ein Lächeln auf das Gesicht zaubern, fokussieren wir uns nur auf all die Möglichkeiten, welche die Zukunft bietet. Also fangen wir an zu rennen. Wir suchen und suchen nach all den Dingen, von denen wir erwarten, dass sie uns mehr Glück bringen werden, als all das, was wir jetzt schon haben.<<
>>Manchmal gibt es Zeiten, in welchen es uns im Hier und Jetzt schlecht geht. Oft versuchen wir dann nicht einmal, eine Lösung für die Gegenwart zu finden, sondern reden uns ein, dass es uns in der Zukunft besser gehen wird. Die Zukunft ist jedoch immer nur eine Sekunde von uns entfernt. Sie macht uns nicht glücklicher oder zu anderen Menschen. Meist ist sie nur eine naive Ausrede, in welche wir uns flüchten, weil wir Angst davor haben, unseren Problemen in der Gegenwart entgegenzutreten. Oftmals fällt es uns viel zu leicht, zu vergessen, welche Chancen und Möglichkeiten wir jetzt schon haben, wenn wir unseren Blick nur ein wenig erweitern. Unser Glück liegt nicht immer in der Ferne. Manchmal steht es genau neben uns und wir haben uns nur zu sehr vor dem Hier und Jetzt versperrt, um es zu bemerken.<<
Seine Stimme brach ab und er ließ den Atem hinaus, von dem er nicht gewusst hatte, dass er ihn angehalten hatte.
Er benötigte eine Minute für sich. Ein wenig Zeit, um seine Augen zu schließen und sich ganz allein auf das stetige Heben und Senken seines Brustkorbes zu konzentrieren. Mit der eintretenden Ruhe und Schwärze konnte er seine Gedanken nun nicht mehr davon abhalten, zu schweifen. Der Ort, an welchem sie Halt machten, fühlte sich so vertraut und gleichzeitig so fremd an.
Das Todoroki Anwesen hatte sich auf einer einsamen Lichtung im Wald, direkt am Fuß eines Berges befunden.
Enji hatte diese Wahl damit begründet, dass er die Ruhe und Isolation gegenüber seinem lauten und hektischen Berufsleben bevorzugte. Vermutlich war es für ihn ein willkommener Bonus gewesen, wenn keine Nachbarn die wutentbrannten Schreie in der Nacht oder das Weinen gehört hatten, welches das Haus stetig zu erfüllen schien.
Die Stelle, an der das Anwesen damals aufgeragt hatte, wurde heutzutage von roten Schildern abgezäunt, welche Wanderer und Touristen vor der Einsturzgefahr innerhalb der Ruine warnten, welche noch immer wie ein Geist seiner Vergangenheit dort thronte.
Touya war nach dem Feuer nur ein einziges Mal Richtung Norden gelaufen.
Es war an einem gewöhnlichen Donnerstag Nachmittag, zwei Jahre nach dem „Unfall" gewesen. Es hatte lange gedauert, bis sich langsam und schleppend die ersten Anzeichen von Struktur und einem gewissen Hauch von Normalität zurück in seinen Alltag geschlichen hatten. Die ersten zwei Jahre waren schweißtreibend und ermüdend gewesen.
Seine Mutter war von einem Tag auf den nächsten auf sich allein gestellt gewesen. Ohne Beruf, Zuhause oder Perspektive. Dafür mit vier zu tiefst verstörten und traumatisierten Kindern, von denen eines noch nicht mal das Kleinkindalter erreicht hatte und das andere drei Monate lang im Koma gelegen hatte.
Diese Zeit war hart und voller Schmerz gewesen.
Die Sozialwohnung, welche für sie als Notunterkunft gedient hatte, war klein und schäbig gewesen. Er erinnerte sich an all die unzähligen Momente, in welchen er seine Mutter schluchzend und mit zerzaustem Haar im Flur gefunden hatte, weil die kaputte Waschmaschine mal wieder das Badezimmer unter Wasser gesetzt hatte oder weil ein Termin im Gericht anstand und Shoto schreiend im Zimmer nebenan lag, welches sich dieser mit Fuyumi und Natsuo teilte.
In diesen Augenblicken hatte es sich so angefühlt, als würde sein Leben niemals wieder normal werden, doch ...
Es hatte den ersten winzigen Hoffnungsschimmer dargestellt, welchen er seit Jahren voller versteckten Leid und Schmerz gehabt hatte.
Die Sozialwohnung war klein und chaotisch gewesen und hatte Rei nicht nur einmal in den Wahnsinn getrieben, doch alles war besser gewesen, als in einem Haus zu leben, welches sich nicht wie ein Zuhause anfühlte.
Es war genau so, wie er gesagt hatte. Manchmal war Glück flüchtig und subtil. Es konnte deinen Weg wie eine sanft glühende Laterne in den finstersten Nächten erhellen und erschien immer genau in den Momenten, in welchem man es am wenigsten erwartete.
Die ersten Jahre nach dem Feuer waren zerstreut und schweißtreibend gewesen. Dennoch erinnerte er sich an all die Abende, in welchen er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern an einem viel zu kleinen Tisch voller Kerben und Kratzer gesessen hatte und ihr Lachen die gesamte Wohnung erfüllte hatte. Es hatte unzählige schmerzhafte und brutale Momente in seinem Leben gegeben. Das hieß jedoch nicht, dass es nicht auch Tage gegeben hatte, an denen das Leben gut zu ihm gewesen war. Es war eigenartig, wie leicht es manchmal fiel, sich an all die schlechten Augenblicke zu erinnern, während die guten im Hintergrund verblassten.
Er konnte sich nicht daran erinnern, wann jemals unbeschwertes Gelächter durch das Todoroki Anwesen gehallt war ...
Damals hatte er geglaubt, von seinen Gefühlen überwältigt zu werden. Von Wut und Trauer gleichermaßen.
In dem Moment, in welchem er jedoch vor der Ruine gestanden hatte, welche die Überreste eines einst so prachtvollen Anwesens wiederspiegelte, hatte er seltsamerweise nur Leere empfunden. Statt in zornige Schreie oder Tränen auszubrechen, hatte er einfach nur davorgestanden und wie ein Fremder von außen das Zuhause betrachtet, welches ihn immer weggestoßen hatte.
Als Kind hatte er all die Dinge nicht wirklich verstanden, welche sich vor seinen Augen zwischen seiner Mutter und Enji abgespielt hatten. Er war noch zu klein gewesen, um die Zusammenhänge zu begreifen. Damals hatte er lediglich gewusst, wie schmerzhaft und ungerecht das Leben sein konnte.
Er war noch ein Kind gewesen und hatte geglaubt, dass er niemals glücklich werden würde. Dass der Schmerz niemals enden würde.
Nun war er beinahe erwachsen und tat sich immer noch mit der Möglichkeit schwer, all die Last, welche seit Jahren auf seinen müden Schultern ruhte, loszulassen und stattdessen nur noch nach vorn zu blicken.
Glück konnte sich schon längst still und heimlich in dein Leben eingeschlichen haben. Dennoch fiel es an einigen Tagen schwer, es auch zu erkennen, wenn dein damaliges Leben von so viel Unglück geprägt gewesen war ...
Als er endlich wieder zu sich fand und die Augen öffnete, waren alle Blicke zäh auf ihn gerichtet.
In dem Klassenzimmer herrschte eine Totenstille, wodurch ihm bewusst wurde, wie laut und zittrig seine eigenen Atemzüge waren. Unsicher ließ er seinen Blick zur Seite wandern, auf der Suche nach einer Stütze, einem Anker. Der sanfte und verständnisvolle Ausdruck in dem Rot von Tomuras Augen gab ihm genau den Halt, welchen er brauchte.
Er nahm sich eine weitere Sekunde Zeit, in welcher er tief einatmete und sich einfach in dem Blick des Jungen verlor. Vermutlich musste irgendein Zucken oder ein Ausdruck in seinem Gesicht Tomura ganz genau verraten haben, was gerade in ihm vorging, denn der Andere trat behutsam einen Schritt näher und flüsterte ihm ein paar sanfte Worte zu.
>>Beende deine Worte. Ich weiß, dass du das schaffst. Sag ihnen, wie du dich fühlst. <<
Ja. Seine Worte beenden. Das war vermutlich das einzig Richtige, was er in dieser Situation tun konnte.
Er wusste, was er sagen wollte. Er benötigte lediglich die geeigneten Worte dafür.
Mit einem tiefen Atemzug drehte er sich erneut zu der erwartungsvollen Klasse vor ihm um. Die Standhaftigkeit in seiner Stimme überraschte ihn selbst.
>>Früher habe ich geglaubt, dass es sich bei Glück um eine Empfindung handelt, welche nur bestimmten Personen vorenthalten ist. Wie ein VIP-Ticket, welches man nur mit einer bestimmten Abstammung und einem bestimmten Lebensstandard erhalten kann. Meine Blutlinie war zwar damals in dieser Gegend noch sehr angesehen, doch ich hatte nie das Gefühl, dieses VIP-Ticket zu besitzen. Meine ... Meine Kindheit war so oft von Unglück geprägt gewesen, dass ich irgendwann fest davon überzeugt war, dass ich niemals mein Glück finden werde. <<
Er schluckte, als der Kloß in seiner Kehle drohte, seine Stimme zu ersticken. Er schluckte all die dunklen Erinnerungen seiner Vergangenheit und alles Schlechte herunter. Stattdessen rief er sich all die Erinnerungen an Abende voller Lachen und lächelnden Gesichtern herbei.
An Abende voller Glück.
>>Heute weiß ich, dass Glück nichts mit deiner Abstammung oder deiner Vergangenheit zu tun hat. Du kannst höchstpersönlich durch die Hölle gelaufen sein und Satan die Hand geschüttelt haben. Das heißt jedoch nicht, dass die Gegenwart und alles, was danach kommt, zwangsläufig von demselben Schmerz geprägt sein muss. Ich meine, seht mich an! <<
Er konnte das leise Lachen nicht aufhalten, welches daraufhin über seine Lippen rutschte. Er wollte es nicht aufhalten.
Die fremde Hand, welche von der Seite aus nach der seinen griff, überraschte ihn im ersten Moment. Als er jedoch zu Tomura blickte und den sanften und zuneigungsvollen Ausdruck in dessen roten Augen erkannte, war es nur Wärme, welche ihn erfüllte. Mit einem Lächeln auf den Lippen drückte er die Hand des Jungen in ihrem umschlungenen Griff fester, bevor er sich ein letztes Mal zu der Klasse vor ihm drehte.
>>Ich habe so viel Scheiße in meinem Leben durchmachen müssen. Mein Vater hat mich und meine Geschwister gehasst. Unsere „Familie" war nur eine leere Fassade für den guten Todoroki Namen. Als ich an meinem ersten Schultag an diesem Gymnasium die Narben an meinen Armen und in meinem Gesicht frei gezeigt habe, dachte ich, ich würde von all den Beleidigungen und bösen Blicken sterben. Ich hatte so oft das Gefühl, am tiefsten Punkt meines Lebens angekommen zu sein und doch ... Und doch stehe ich heute hier und halte euch eine Präsentation darüber, was Glück ist. Es fühlt sich verrückt an, aber ich weiß, dass es nichts ist, was für mich unmöglich ist. <<
Er nahm einen tiefen Atemzug und ordnete seine zerstreuten Gedanken. Als er die Luft wieder durch seine Lunge herausströmen ließ, fühlte er sich leichter, als noch vor einem Moment.
Befreiter.
>>Glück ist keine Empfindung, welche nur bestimmten Menschen vorenthalten ist. Sie kann jeden von uns erreichen, egal wer wir sind und an welchem Punkt wir in unserem Leben stehen. Mein Leben war von so unendlich vielen Tiefpunkten geprägt. Dennoch habe ich so viele Dinge, für die ich mich dankbar und glücklich schätzen kann. Meine Mutter und meine Geschwister. Unsere Wohnung. Dass ich frei herumlaufen kann, ohne mich verstecken zu müssen und die Wege einschlagen kann, welche ich erkunden möchte. Das gilt für jede Person da draußen. Egal, was ihr erlebt habt. Egal, wo ihr herkommt. Es braucht immer nur einen Blick in die andere Richtung, um euer Glück zu erkennen. Vielleicht fällt es euch schwer, es im ersten Moment zu erkennen, doch irgendwo ist immer ein Lichtstrahl in der Nähe. Wenn wir unsere Blicke nur ein wenig öffnen, statt die Augen zu verschließen und uns davor zu versperren, ist es gar nicht so schwer, ihn auch zu sehen. <<
Seine Worte hallten in der Stille nach.
Seine Rede war nicht annähernd so dramatisch und euphorisch gewesen, wie er sie sich in einigen, optmistischen Momenten vorgestellt hatte. Er erwartete nicht, dass die Klasse johlend aufsprang und in kreischenden Jubel ausbrach oder dass Aizawa-Sensei ihnen mit Tränen in den Augen erklärte, dass es sich hierbei um den besten Vortrag handelte, welchem der Lehrer in seiner gesamten Berufszeit zuhören durfte.
Bei dieser Vorstellung handelte es sich um eine gutherzig, naive Fantasie, welche nicht in der Kälte und Härte der Realität bestehen würde.
Dennoch verleugnete er nicht den Funken von Stolz, der in seinem Inneren aufgeflammt war.
Er wusste nicht, wie lange er gesprochen hatte. Ob fünf Minuten oder eine Stunde.
Seine Rede war keinem roten Faden gefolgt, hatte keinen Aufbau und keine Struktur.
Seine Worte waren jedoch ehrlich gewesen.
Rein und ungefiltert, statt sorgsam ausgewählt und auf die passenden Teile reduziert.
Er hatte es vielleicht nicht in der erwarteten Form getan, doch er hatte eine Botschaft vermittelt. Seine persönliche Botschaft, statt die endlosen Wiederholungen von unzähligen, namenlosen Philosophen aufzugreifen und lediglich die Worte darin auszutauschen.
Er hatte das gesagt, was er hatte sagen wollen.
Seine Worte waren weder säuberlich ausgewählt, noch perfekt einstudiert gewesen, doch die Menschen, welche ihm tatsächlich zugehört hatten, würden ihn verstehen.
Noch immer hing ein erwartungsvolles Schweigen in der Luft.
Die gebannten Blicke seiner Mitschüler hatten in der gesamten Zeit nicht ein einziges Mal seine Gestalt verlassen. Auch jetzt noch wurde er von dutzenden Augenpaaren fixiert, während die gesamte Klasse erwartungsvoll Touyas nächsten Worten entgegen fieberte.
Statt ihnen jedoch genau das zu geben, was sie von ihm erwarteten, entschied er sich dazu, die Welt noch ein weiteres Mal zu überraschen.
Mit erhobenem Haupt und ohne ein weiteres Wort streckte er den Rücken durch und lief schweigend zu seinem Platz in der letzten Reihe zurück. Im ersten Moment spürte er, wie sich Tomuras verdutzter Blick zu dem Rest der Klasse gesellte. Eine Sekunde später zuckte der Junge jedoch nur mit den Schultern und trottete stumm hinter ihm her.
Die perplexe Stille, welche daraufhin den Raum erfüllte, gepaart mit all den irritierten Blicken seiner Mitschüler, waren eine Komödie für sich.
All diese Menschen waren es gewohnt, dass Touya sich unterordnete und genau die Rolle spielte, in welcher sie ihn erwarteten. Es musste geradezu unvorstellbar für diese Leute erscheinen, wenn Touya ihnen bewies, dass er noch immer nach seinen eigenen Regeln spielte ...
Es benötigte ein Räuspern von Aizawa-Sensei, bis sich all die weiten Augenpaare allmählich wieder nach vorn richteten. Abwägig bemerkte er, wie Shuichi grinsend einen Daumen nach oben in Tomura und seine Richtung streckte, bevor auch der Junge ihnen den Rücken zuwandte.
Ein winziges Schmunzeln schmückte Aizawa-Senseis Lippen, während dessen amüsierter Blick ganz klar auf Tomura und ihm lag.
Er würde es nicht laut benennen, doch er erkannte ebenfalls den Ausdruck von Stolz, welcher sich zu der Belustigung dazu gesellte ...
>>Ich habe dir doch gesagt, dass du von irgendwoher den besten, verdammten Vortrag herbei zauberst ... <<, stichelte Tomura ihn von der Seite aus an.
>>Halt doch die Klappe.<<
Seine Worte waren belustigt, während ein stolzes und dankbares Lächeln seine Lippen schmückte.
°
>>Touya? Darf ich dich kurz sprechen?<<
Die Frage überraschte ihn nicht.
Das Stundenklingeln war bereits vor gut zwei Minuten erloschen. Er hatte nur darauf gewartet, dass die erste Person endlich ihren Mut zusammennahm und den Weg zu ihm fand.
Als er nun aufsah, erkannte er die dunkelbraunen Augen und kastanienfarbenen Locken Atsuhiro Sakos, Tomuras ehemaligen Banknachbarns. Normalerweise handelte es sich bei Atsuhiro um eine ruhige und selbstsichere Person, welche nicht sonderlich auffiel. Statt im Zentrum des Scheinwerferlichts zu glänzen, wanderte der Junge lieber am Rand der Bühne entlang und hob sich das Ass in seinem Ärmel bis zum bitteren Schluss auf.
In dieser Hinsicht waren sie sich wohl beide nicht so unähnlich ...
Trotz, dass Atsuhiro sich ihm gegenüber nie offen feindselig gezeigt hatte, hatte ihre bisherige Beziehung lediglich aus höflichen Begrüßungen und gelegentlichen Wortwechseln bestanden.
Touya war niemand, der andere Menschen leicht an sich heranließ. Er war zu oft in seinem Leben verletzt wurden, um seine Schutzwalle in leichtsinniger Naivität herunterzulassen. Er kannte Atsuhiro nicht gut, doch wenn man von dessen gewöhnlich zurückgezogener Art ausging, vertrat der Junge in diesem Fall wohl dieselbe Denkweise.
Als sein Blick nun jedoch vorsichtig über Atsuhiro glitt, erkannte er die offene Verletzlichkeit, mit welcher der Junge vor ihm stand. Er erkannte es an der zögerlichen Haltung des Anderen und dessen scheuem, beinahe schon ängstlichem Blick. Atsuhiro hatte die Schultern nach vorn geschoben und ließ den Kopf hängen, als würde er sich hinter seinem eigenen Körper verstecken wollen. Dessen Arme hingen starr und verkrampft an seinen Seiten herunter. Auf der einen Seite aus Fleisch. Auf der anderen Seite aus Metall und Silikon.
>>Ja, du darfst.<<, antwortete er weitaus gelassener, als sein Gegenüber es in diesem Moment war.
Vermutlich war Touya doch zu gutmütig, wie Tomura und seine Mutter es immer behaupteten, denn ein kleiner Teil seines Verstandes, welchen er nicht stumm schalten konnte, hoffte darauf, Atsuhiro mit seiner Gelassenheit zu beruhigen.
Dieser zögerliche und verschreckte Junge vor ihm hatte nichts mit dem sonst so ruhigen und selbstsicheren Atsuhiro zu tun. Dennoch war es der Junge gewesen, welcher als Erster den Mut dazu aufgebracht hatte, Touya anzusprechen.
Sie kannten sich vielleicht nicht gut, doch er würde nicht das Arschloch sein, welches den Anderen mit Schweigen oder Ablehung bestrafte.
Es war beinahe witzig, mitanzusehen, wie Atushiro nach seiner Antwort ein erleichterter Atemzug entwich, während sich dieser mit seiner gesunden Hand auf Touyas Bank abstützte.
>>Danke. Ich weiß nicht, ob im Moment der passendste Zeitpunkt ist, um zu reden. Falls ich stören sollte, dann sag es mir bitte direkt ins Gesicht.<<
>>Oh. Nein, keine Sorge. Tomura und ich waren gerade dabei zum Mathematikraum zu laufen, aber dafür ist ja noch genug Zeit übrig.<<
Ihm entging der flüchtige Blick nicht, welchen Atsuhiro daraufhin Tomura zuwarf. Sein Banknachbar bemerkte es ebenfalls und zuckte einmal lässig mit den Schultern.
>>Ich kann euch allein lassen, wenn ihr in Ruhe reden wollt ... <<, bot Tomura an.
Dessen aufmerksamer Blick ruhte dabei hauptsächlich auf Touya. Er nickte, als stummes Zeichen, dass er okay war und Tomuras Verständnis schätzte.
Atsuhiro winkte jedoch beschwichtigend ab.
>>Nein, mach dir bitte nicht die Mühe. Was ich sagen möchte, könnte ich genau so gut auf einer Bühne mit einem Mikrofon in der Hand tun. Diese Worte sind sowieso schon längst überfällig.<<
>>Ähm ... Okay?<<
Falls Atsuhiro die Skepsis in Touyas Stimme aufgefallen war, so kommentierte dieser sie nicht.
Stattdessen fuhr sich der Junge mit einer Hand durch seine braunen Locken, während er gequält den Kopf schüttelte. Das Metall, welches dessen Arm ersetzte, glänzte im hereinscheinenden Sonnenlicht.
>>Gott, ich komme mir mieser, als das schlimmste Arschloch vor, während ich hier vor dir stehe und versuche, mich bei dir zu entschuldigen, Touya! Genau das ist es nämlich, was du schon viel zu lange von uns allen verdient hast. Eine Entschuldigung. Lass mich also der Erste sein und es laut aussprechen. Es tut mir Leid, Touya. Dafür, dass ich die gesamte Zeit über geahnt habe, dass du in Schwierigkeiten steckst und dennoch nichts unternommen habe, um dir zu helfen. Ich habe die Augen verschlossen und dafür schäme ich mich. Bitte verzeih mir.<<
Im ersten Moment war er so sprachlos, dass ihm der Mund offen stehen blieb.
Er hatte viel über die möglichen Reaktionen seiner Mitschüler auf die Ereignisse von letzter Woche und seine Präsentation nachgedacht. Dabei hatte er sich vorallem die schlechten ausgemalt.
Eine aufrichtige Entschuldigung, stellte nicht die Reaktion dar, welche er erwartet hatte.
>>Ich weiß, dass diese Worte viel zu spät kommen. Dennoch möchte ich, dass du sie hörst. Naja ... Das bedeutet, wenn du bereit dazu bist?<<
Atsuhiro wirkte klein und verletzlich, während er seinen letzten Satz als Frage formulierte. Dessen braune Augen waren erwartungsvoll und funkelten voller heller Hoffnung.
Touya hatte nicht die Macht dazu, diese Hoffnung zu zerstören.
>>Okay. Sag, was du sagen möchtest. Ich ... ich bin bereit dazu.<<
Es handelte sich um kein kurzes Aufflackern von Erleichterung in Atsuhiros Gesicht, sondern um einen ganzen Ansturm davon. Nach Touyas Bestätigung verschwendete der Junge keine Sekunde, um seine Seele vor ihm auszuschütten.
>>Es tut mir Leid, Touya. Musculars Ausraster von letzter Woche und deine Worte heute haben mich endlich wach gerüttelt und mir die Augen geöffnet. Es ist nicht so, als hätte ich nie mitbekommen, wie absolut scheiße sich Muscular dir gegenüber verhalten hat. Die ganze Schule weiß, was für ein unsensibler Bastard er ist! Ich habe mir nur niemals vorgestellt, dass seine Aktionen solche ... Ausmaße annehmen würden.<<
>>Das hättest du nicht wissen können. Muscular hat sich oft wie ein absoluter Idiot verhalten, aber er war fast immer vorsichtig. Er ... Er hat immer nur die Stellen genommen, an denen ein blauer Fleck oder eine Prellung nicht auffallen würden.<<
Er schluckte, um gegen die plötzliche Trockenheit in seiner Kehle anzukämpfen.
Atsuhiros wissender Blick glitt von der Prellung an seiner Stirn zu den dunklen Fingerabdrücken, die seinen Hals zierten.
>>Bis auf letzte Woche, nehme ich an?<<
Es war seltsam, dass er sich nach diesen Worten fast schon ertappt fühlte.
Natürlich wusste die gesamte Schule von dem Vorfall von letzter Woche. Jeder hatte die dunklen Abdrücke an Touyas Kehle und Tomuras blaues Auge gesehen. Das, was passiert war, stellte bei Weitem kein Geheimnis mehr dar, doch in diesem Moment fühlte es sich so an, als würde Atsuhiro mit groben Händen durch Touyas schmutzige Wäsche wühlen.
>>Ja ... Bis auf letzte Woche.<<
Atushiros Augen wurden ein wenig weicher und verständnisvoller, als dieser Touyas leise Antwort hörte.
Im nächsten Moment wurde der sanfte Ausdruck jedoch von einer Welle an Reue und Bitterkeit weggespühlt.
>>Ich schäme mich dafür, Touya. Ich schätze, dass ich immer so eine kleine Vermutung hatte, doch niemals genug Mut dazu besaß, dieser Vermutung nachzugehen. Es tut mir Leid, dass ich die Augen verschlossen habe, während es dir so offensichtlich schlecht ging. Bitte halte mich nicht für jemanden, der das Mobbing seiner Mitmenschen toleriert.<<
>>Atsuhiro, ich - <<
Seine Worte liefen ins Leere aus, als er bemerkte, dass er nicht wusste, was er darauf antworten sollte. Atsuhiro schien sein Schweigen als Ablehnung zu betrachten und senkte reuevoll den Kopf.
>>Ich bitte dich nicht darum, mir zu verzeihen. Dazu besitze ich nicht das Recht. Alles, um das ich dich bitte, ist mir zu glauben, wie sehr ich mich in diesem Moment schäme und wie sehr mir meine Ignoranz Leid tut.<<
Aus dem Mund von jeder anderen Person hätte Touya diese Worte als gestellt und überdramatisch abgestempelt. Bei Atsuhiro jedoch ... Da existierte eine Aufrichtigkeit in dessen Mimik und Stimme, welche ihm klarmachte, dass der Andere jede Silbe ernst meinte.
Es wäre einfacher gewesen, wenn Atsuhiro ihn angeschrieen oder verspottet hätte. Touya hatte gerlernt, mit Hass und Verachtung umzugehen. Atsuhiros Empathie und dessen Verständnis ließen ihn stattdessen mit einem alles einnehmenden Gefühl der Überforderung und Hilflosigkeit zurück.
>>Atsuhiro, es ist in Ordnung. Du bist sicher nicht der Einzige, der keine Ahnung davon hatte, was Muscular tut. Ich gebe dir nicht die Schuld dafür. Das habe ich nie.<<
Er wusste nicht, wie er Atsuhiro von diesen Worten überzeugen sollte, wenn er selbst nicht wirklich daran glaubte.
Es hatte viele Momente gegeben, in welchen er weinend auf dem schmutzigen Boden gelegen und die ganze Welt für sein Elend verflucht hatte. Er erinnerte sich an all die Augenblicke, in denen er sich die Lippe blutig gebissen hatte, um nicht vor Schmerz und Ungerechtigkeit zu schreien.
So oft hatte er sich gewünscht, dass die Welt das klaffende Loch in seiner Brust spürte.
Dass die Menschen um ihn herum endlich den Schmerz teilen würden, welcher Touya auf Schritt und Tritt begleitete.
Als Atsuhiro jedoch in diesem Moment voller Scham und Reue vor ihm kniete, so als würde dieser auf die letzten Worte seiner Hinrichtung warten, war es keine Befriedigung, welche ihn erfüllte.
>>Das mag sein. Du verurteilst mich nicht, weil du ein guter Mensch bist, Touya. Ich verdiene deine Vergebung nicht, aber ich schätze sie. Mehr, als alles andere.<<
>>Atsuhiro, wirklich. Bitte mach dich nicht für eine Sache fertig, auf die du keinen Einfluss hattest.<<
Sein Versuch, sein Gegenüber zu beschwichtigen, endete eher im Gegenteil. Mit einem trockenen und humorlosen Lachen schüttelte Atsuhiro den Kopf, während die Verzweiflung und Rastlosigkeit in dessen Mimik zu einem Crescendo anschwollen.
>>Es ist leicht zu sagen, dass wir keinen Einfluss auf all die Dinge haben, welche unseren Mitmenschen passieren, nicht wahr? Genau das habe ich mir auch eingeredet. Dass ich eh nichts ändern könnte, sodass ich es gar nicht erst versuchen musste. Jetzt, wo ich jedoch vor dir stehe, wird mir schlagartig bewusst, wie einfach es gewesen wäre, den ersten Schritt zur Veränderung zu machen. Ich hätte einfach nur auf dich zugehen müssen. Es war nie meine Absicht, dich zu meiden. Es war nur ... Wir hatten außerhalb der Schulzeit nie Kontakt zueinander und ich wusste nicht, ob du die Hilfe eines Fremden überhaupt möchtest.<<
Die Hilfe eines Fremden.
Vermutlich hatte Atushiro nicht die geringste Ahnung davon, wie sehr er mit seinen Worten ins Schwarze getroffen hatte.
Touya hatte jahrelang die Rolle des Einzelgängers perfektioniert. Des einsamen Wolfes, welcher seine Wege stets allein beschritt. Die Wahrheit war jedoch, dass er sich nach ein wenig Empathie und Zuneigung verzehrt hatte. Sein Stolz und seine Paranoia hatten ihn davon abgehalten, danach zu fragen, doch er hatte sich so sehr nach einer helfenden Hand gesehnt, dass es physisch weh getan hatte.
>>Ich hätte deine Hilfe gewollt. Auch, wenn ich es vermutlich nie laut zugegeben hätte.<<
Im ersten Moment wirkte Atsuhiro ein wenig sprachlos, so als hätte dieser nicht mit einer so ehrlichen Antwort gerechnet. Eine Sekunde später erweichten dessen kastanienfarbene Augen, während der Junge ihm eine Hand aus Metall entgegenstreckte.
>>Ich möchte dir noch immer helfen, Touya. Wenn es dafür nicht schon zu spät ist. <<
Er konnte nicht anders, als die ihm entgegen gestreckte Hand, perplex und skeptisch zu betrachten.
Er hatte siebzehn Jahre seines Lebens ohne echte Freunde verbracht. Es war schwer, Gleichgesinnte zu finden, wenn seine gesamte Existenz auf einer Lüge aufbaute. Damals hatte Enji es ihm verboten, Kontakt zu anderen Kindern außerhalb der Schulzeit zu halten. Sein Vater hatte seine Entscheidung mit der Ausrede begründet, dass Touya die Zeit Zuhause dafür nutzen sollte, seine schulischen Leistungen zu verbessern und sich auf seine zukünftige Karriere vorzubereiten, wie Enji selbst es im Kindesalter bereits getan hatte.
Es war eine Lüge gewesen. Touya hatte von Anfang an gewusst, dass es eine Lüge gewesen war.
Enji hatte Angst davor gehabt, dass er oder eines seiner Geschwister anfangen würde, zu plaudern. Darüber, was wirklich hinter den prächtigen Wänden des Todoroki-Anwesens vor sich ging.
Auch in den Jahren danach, in denen Enji bereits hinter Gittern gesessen hatte, hatten sein Traumata und seine Paranoia ihn davon abgehalten, sich einem Fremden zu öffnen. Sein entstelltes Äußeres und seine zerbrochene Psyche hatten ohnehin alle Personen abgeschreckt, welche genug Mut gehabt hatten, um Touya einen Moment länger zu betrachten.
Dies war der Grund, weshalb ihn Atsuhiros einfache Geste der Nahbarkeit so unvermittelt traf, während zugleich ein warmes Kribbeln in seiner Brust erblühte.
Er war so viele Jahre lang auf sich allein gestellt gewesen. Irgendwann hatte er damit begonnen, sich selbst einzureden, dass es besser so war. Dass es sicherer war, Niemanden nah an sich heranzulassen.
Auf diese Weise konnte er weder enttäuscht, noch verletzt werden. Tief in seinem Inneren hatte er jedoch niemals damit aufgehört, sich nach einer aufmerksamen Person zu sehnen, welche den Schmerz in Touyas Seele erkannte und ihm eine helfende Hand entgegenstreckte.
>>Ich glaube nicht, dass es jemals zu spät ist, um das Richtige zu tun. <<, erwiderte er mit einem aufrichtigen Lächeln.
Trotz des Metalls, fühlte sich Atsuhiros Hand warm an, als er danach griff. Es handelte sich lediglich um eine kleine Geste. Ein behutsamer Händedruck zwischen zwei Personen, welche sich vor wenigen Momenten noch kaum gekannt hatten.
Für Touya bedeutete diese kleine Geste jedoch die Welt.
>>Ich unterbreche euch zwar nur ungern in der Mitte eurer sentimentalen Versöhnung, aber ich wollte nur anmerken, dass der Mathematikunterricht in vier Minuten beginnt und Nedzu-Sensei uns tausend Mal den Satz des Pythagoras aufsagen lässt, wenn wir zu spät kommen. <<
Es handelte sich um Tomuras Räuspern und dessen raue Stimme, welche die sanfte Stille zwischen ihnen durchschnitt. Dessen Worte waren so taktlos und so typisch für Tomura, dass er nicht anders konnte, als zu lachen.
>>Du wurdest von einem Butler erzogen. Ich dachte, du wüsstest, was Taktgefühl ist.<<
Augenblicklich färbten sich Tomuras Wangen purpurrot. Die Farbe kroch bis zu dessen Ohren hinauf und ließ dessen blasse Haut erstrahlen.
Süß ...
>>Taktgefühl wird sowas von überbewertet, wenn es darum geht, Nedzu-Sensei zu entkommen ... <<
>>Damit liegst du richtig. Erinnert ihr euch noch daran, als Nedzu-Sensei uns diese Sünde eines Liedes über Exponentialfunktionen hat laut singen lassen, weil die Hälfte der Klasse die Hausaufgabe vergessen hatte? Ich will nicht wissen, wie seine Strafe für Zuspätkommen aussieht ... <<, warf Atsuhiro mit einem gequälten Gesichtsausdruck ein.
Dieser Einwand ließ Tomura nur noch mehr erröten, während der Andere quasi von seinem Stuhl aufsprang.
>>Oh, verdammt! Erinnere mich nicht daran! Könnt ihr euch noch an Nedzu-Senseis sadistisches Grinsen erinnern, die gesamte Zeit während wir singen mussten? Ich dachte schon, dass ich mich mit Wahnsinnigen abgebe, aber der Mann ist noch mal eine Nummer größer .... <<
>>In seinem Jahrgang geht seit einiger Zeit das Gerücht herum, dass er Salz, statt Zucker in seinen Tee gibt, um den Geschmack der Früchte damit zu verfeinern. <<
>>Oh, halt die Klappe! Je mehr ich über diesen Typen erfahre, desto weniger will ich eigentlich wissen. <<
>>Oh, es gibt noch so viel mehr zu wissen ... <<
>>Ich habe gesagt, halt die Klappe! <<
Touya schwieg, während er schmunzelnd die beiden streitenden Jungen vor sich betrachtete.
Es handelte sich um keinen ernsthaften Streit. Dafür waren der Ausdruck in Atsuhiros Gesicht zu weich und Tomuras Reaktion zu übertrieben. Er wusste nicht, wie gut sich die beiden ehemaligen Banknachbarn tatsächlich kannten, doch er hatte erlebt, wie Tomura sich gegenüber seiner wahren Freunde verhielt.
Der Junge machte gegenüber Atsuhiro keine Ausnahme ...
Touya hatte noch nie echte Freunde gehabt. Vermutlich fühlte es sich genau so an.
Mit einem warmen Kribbeln im Bauch richtete er sich schließlich auf und griff nach seinem Rucksack, bevor sein Blick zu Atsuhiro glitt.
>>Atsuhiro, möchtest du Tomura und mich bis zum Zimmer begleiten? <<
Es war ein simples Angebot, doch die Art, mit der Atsuhiros braune Augen nach seiner Frage aufleuchteten, war eindeutig.
Bevor der Junge jedoch zu einer Antwort ansetzen konnte, wurden sie von einem vertrauten Stimmenwirrwarr im Hintergrund unterbrochen.
>>Hey, Guys! Euer Vortrag hat eingeschlagen, wie eine Bombe! Habt ihr das Alles echt gefreestylt? Mir wären nie im Leben so viele gute Argumente eingefallen! Ich muss zugeben, deine Worte haben mich irgendwie berührt ... <<
Als er sich herumdrehte, erkannte er Shuichi, welcher mit strahlenden Augen auf ihn einredete.
Die zwei Personen, welche sich angeregt hinter dem Jungen unterhielten, konnte er auf den zweiten Blick als Himiko und Jin identifizieren.
In ihrer Gegenwart legte sich noch immer ein gewisses Gefühl der Nervosität und des Misstrauens über Touya. Er ermahnte sich jedoch selbst dazu, Shuichi, Jin und Himiko so zu sehen, wie sie in diesem Moment vor ihm standen. Drei unbeschwerte Teenager, welche hier waren, um ein wenig Zeit mit ihren Freunden zu verbringen und sich gegenseitig zu unterstützen.
„Freunde", zu denen nun wohl auch Touya gehörte.
Er wusste, dass keiner von ihnen darauf aus war, ihm weh zu tun. Sie alle hatten sich mehr bei ihm entschuldigt, als ihm angenehm gewesen war. Sie hatten sich Muscular in den Weg gestellt, um Touya zu verteidigen und waren soweit gegangen, ihn bis zum seinem Polizeiverhör zu begleiten und ihre eigene Schuld laut zuzugeben.
Dennoch konnte er die ängstliche Stimme in seinem Inneren nicht vollständig davon überzeugen, dass ihm seine alten Dämonen plötzlich gut gesinnt waren. Diese Angst und das Misstrauen, sobald er sich in Jin, Shuichis und Himikos Gegenwart befand, würden vermutlich niemals verschwinden. Diese Gefühle bildeten einen unausweichlichen Begleiter, welcher ihn bis zu seinem Lebensende daran erinnern würde, was damals geschehen war.
In der Vergangenheit zu leben, hatte seinen Schmerz jedoch noch nie gelindert. Stattdessen hatte er sich selbst versprochen, seine Augen zu öffnen und all die Gefühle und Möglichkeiten der Gegenwart zu akzeptieren, statt sich davor zu verschließen.
Sich seinem Glück zu öffnen.
>>Danke. Ich hatte gehofft, dass meine Worte zumindest ein bisschen zum Nachdenken anregen. <<
>>Das haben sie wirklich! Scheiß auf all diese aufgeblasenen Philosophen da draußen! Touya sollte derjenige sein, der unsere Lehrbücher schreibt. <<
Huh, so etwas Ähnliches hatte er schon einmal gehört ...
>>Hey, meintest du nicht, dass Yamada-Sensei dein Songtext so gut gefallen hat, dass er dir eine Karriere als Autor vorgeschlagen hat? <<
Tomuras Sinn für Taktgefühl musste wirklich irgendwo unter der Erde vergraben liegen.
>>Ich habe dir nicht von diesem Gespräch erzählt, damit du es vor allen Leuten laut ausplauderst ... <<
Er rümpfte die Nase, doch hinter seinen Worten steckte kein echter Biss. Den schockierten Ausdruck in Tomuras Gesicht war es jedoch allemal wert.
>>Oh, sorry ... <<
>>Shu hat uns von deinem Vortrag erzählt. Hut ab, das war mutig. <<, wandte Jin mit ehrlicher Stimme ein.
Er schätzte dessen aufmerksamen Versuch, das Thema zu wechseln. Die ängstliche Stimme in seinem Inneren, welche ihn anschrie, wegzurennen, ignorierte er dabei gewissenhaft.
>>Uh ja! Shu war echt begeistert. Normalerweise brauchen wir einen Gecko oder eines seiner Lieblings-Videospiele, um diese Emotion aus ihm herauszulocken! Denkst du, dass du deine Worte noch einmal für uns wiederholen kannst? Bitte! Ich würde sie mir wirklich gern persönlich anhören! <<
>>Hey! <<, ertönte im Hintergrund Shuichis Protest.
Himiko ignorierte den Jungen gewissenhaft, während sie enthusiastisch auf und ab hüpfte. Tomura hatte nicht gelogen, als er das Mädchen einmal scherzhaft als überdimensionales Krippenkind bezeichnet hatte.
>>Ähm, ich weiß nicht, ob - <<
Er war dankbar darüber, als Tomura beschützend einen Arm um seine Schultern legte und seine wacklige Erklärung unterbrach.
>>Touya muss sich nicht wiederholen. Shuichi hat euch doch schon erzählt, was er gesagt hat. Wer halt nicht den Philosophiekurs gewählt hat, hat Pech gehabt. <<
>>Och, komm schon, Tomu ... <<, bettelte Himiko mit großen Augen.
Wenn Tomura jedoch in einer Sache gut war, dann war es darin, seinen Dickkopf durchzusetzen.
>>Versuch gar nicht erst, mir deine runden Katzenaugen aufzudrehen. Der Scheiß funktioniert bei mir nicht. Außerdem beginnt gleich der Mathematikunterricht. Nedzu-Sensei bringt uns um, wenn wir zu spät kommen! <<
Tomuras Einwand schien alle Anderen schließlich wieder ins Hier und Jetzt zurückzuholen. Er hatte nicht erwartet, dass Himiko sich so schnell geschlagen geben würde, doch das Mädchen seufzte nur einmal. Eine Sekunde später schüttelte sie den Kopf, als ob sie die Negativität von sich abschütteln würde und präsentierte ihnen ihr übliches, strahlendes Zahnpastalächeln.
Nun, das war zumindest bevor Atsuhiros unsichere Stimme sie alle in ihren Gedanken unterbrach.
>>Ähm, Leute? Nach meiner Uhr hat der Mathematikunterricht schon vor einer Minute begonnen ... <<
Gut eine Sekunde lang blieben sie alle schockstill.
>>Das ist ein Scherz, oder? <<, hakte Tomura langsam nach.
>>Ich muss dich enttäuschen. Meine Scherze sind nicht so brutal. <<, erwiderte Atsuhiro.
>>Tja, ich glaube, wir sind am Arsch.<<, war Shuichis intelligente Antwort darauf.
Einen Moment später brach die verdammte Hölle aus.
Er war überrascht, dass Tomura ihn nicht einfach umrannte, als dieser mit voller Geschwindigkeit zu seinem Rucksack sprintete, sich die Tasche mit mehr Wucht als nötig über die Schultern warf und dann die Beine in die Hand nahm, um schnellstmöglich zur Tür zu gelangen.
Die Anderen taten es dem Jungen gleich. Er hörte Shuichi angestrengt schnaufen, während dieser versuchte, mit Tomura mitzuhalten. Himiko und Jin quietschten und kicherten vor Aufregung, während Atsuhiro noch immer wie die Gelassenheit selbst wirkte.
Touya nahm sich eine Sekunde, in welcher er stehen blieb und die Personen vor ihm betrachtete.
Der aufrichtige Jin, der seine Gefühle immer offen darlegte.
Der chaotische Shuichi, der unbedingt eine harte Schale wahren wollte, doch dessen weicher Kern so vollkommen offensichtlich war.
Die energische Himiko, der nie die Kraft und der Optimismus ausgingen.
Der sanftmütige Atsuhiro, der noch lange nicht das Ass in seinem Ärmel offenbart hatte.
Und Tomura. Einfach nur Tomura ...
Touya atmete tief ein, während er all diese Personen vor ihm betrachtete. Dann ließ er seinen Atem heraus, trat einen Schritt nach vorn und begann ebenfalls zu laufen.
Er hatte diesen Raum allein betreten, doch verließ ihn mit fünf weiteren Seelen an seiner Seite.
°
>>Wenn du mir gestern erklärt hättest, wie reibungslos der Tag heute verläuft, hätte ich dir vermutlich den Vogel gezeigt. <<
Tomuras Worte glichen einem amüsierten Murmeln, während dessen Gesicht in Touyas dichtem Haar vergraben lag.
Touya fühlte, wie der warme Atem seines Gegenübers sein Ohrläppchen kitzelte und eine Gänsehaut auf seinem Körper erzeugte.
>>Ich meine, come on! Nicht einmal Nedzu-Sensei hat sich irgendeine ausgefallene Strafe für uns überlegt. Als wir zum Mathematikzimmer gerannt sind, war ich der festen Überzeugung, dass er uns gleich die Hölle heiß macht! <<
Tomuras Worte waren schroff, während der Junge ihn im Gegensatz dazu so sanft und beschützend hielt. Wie etwas Wertvolles, was dieser unter keinen Umständen zerbrechen wollte.
>>Klingt fair. Es ist leichter, vom Schlimmsten auszugehen. So kann man nicht enttäuscht werden. <<, antwortete er.
Er konnte das leise und wohltuende Seufzen nicht unterdrücken, welches seine Lippen verließ, als Tomuras Arme ihren beschützenden Griff um seine Taille verstärkten und ihn noch enger zu dem Anderen zogen.
Sie waren sich so nah, dass er jede von Tomuras Reaktionen fühlen konnte. Er spürte das ruhige Heben und Senken von dessen Brust an seinem Rücken. Das im Gegensatz dazu so schnelle Pochen von dessen Herz. Er spürte es, wenn Tomura tief einatmete und fühlte, wie dessen weicher Atem seine Haut streifte.
Sie waren sich so nah, dass die Grenzen ihrer Körper allmählich verschmolzen. Touya konnte Tomura auf seiner Haut fühlen und spürte jede von dessen Bewegungen als Vibrieren in seinen Knochen. So, als wären sie ein Ganzes, statt zwei Individuen.
Abwegig fragte er sich, ob Tomura ebenfalls fühlen konnte, wie rastlos Touyas Finger in seinem Schoß lagen und wie schnell sein Herz schlug ...
>>Vom Schlechtesten auszugehen, hat noch niemals dafür gesorgt, dass wir nicht enttäuscht werden. Es zieht den Schmerz nur unnötig in die Länge. <<
Er schnaufte, während sein Blick auf seinem Schoß lag.
Das war so typisch für Tomura. Die Worte, welche bei Touya direkt ins Schwarze trafen, so beiläufig auszusprechen.
>>Ich brauche deine weisen Ratschläge nicht. Meine Psyche wurde bereits gründlich von meiner Therapeutin durchleuchtet. <<
Er versuchte gar nicht erst, den schnippischen Ton aus seiner Stimme herauszuhalten.
Enji hätte ihn für ein solch unangebrachtes Verhalten mit Sicherheit bestraft. Seine Therapeutin hätte Touyas Reaktion mit klugen Fachbegriffen und den Geschehnissen aus seiner Vergangenheit begründet. So, als wäre ein stumpfes Forschungsobjekt, welches man nach Belieben auseinandernehmen und wieder zusammenbauen konnte.
Tomura seufzte jedoch nur einmal, ohne richtigen Biss dahinter. Auf eine seltsame Art und Weise handelte es sich um dessen Gelassenheit, welche Touyas Schuldgefühle hervorlockte.
>>Sorry, ich wollte nicht ... <<
>>Ist schon okay. Du hast nur die Wahrheit gesagt. <<
Er schürzte die Lippen, während er verlegen in Tomuras Armen hin und her rutschte.
>>Es war unangebracht ... <<
>>Wieso? <<
Diese simple Frage erwischte ihn völlig aus dem Kalten heraus und rüttelte mit unfairer Kraft an den standhaften Säulen, auf denen seine Prinzipien aufgebaut waren.
Er benötigte eine Sekunde, um eine passende Antwort zu finden.
>>Weil ich ... Du wolltest mir mit deinen Worten nur helfen. Es war nicht angebracht, so feindselig zu reagieren. <<
Er erwartete sicher nicht das kurze Lachen, welches daraufhin über Tomuras Lippen rutschte.
>>Süßer. Wenn das alles an Feindseligkeit ist, die du zu bieten hast, dann könntest du mir niemals weh tun. <<
Es war unfair, wie rot und verlegen er nach Tomuras Kommentar wurde, während sein Gegenüber noch immer wie die Ruhe selbst wirkte.
>>Versuch jetzt nicht, mich mit deinen Schmeicheleien zu besänftigen! Du weißt ganz genau, was ich meine. <<
Er zog verwirrt die Brauen zusammen, als jegliche Belustigung nach seinem Kommentar aus Tomuras Gesicht erlosch. Stattdessen zeugte dessen neuer Ausdruck von reiner Ernsthaftigkeit.
>>Ja, ich weiß, was du meinst. Und es ist in Ordnung, Touya. <<
>>Du bist ... nicht sauer deswegen? <<
Seine Stimme klang ganz anders, als noch vor einem Moment, während er in Tomuras todernstes Gesicht starrte. Kleinlaut und fragil, statt aufgebracht.
>>Nein, ich bin nicht sauer deswegen. Ich interessiere mich nicht dafür, was angebracht ist und was nicht. Ich interessiere mich für die Wahrheit. Ich will wissen, was du wirklich denkst und fühlst. Dafür brauche ich keine süßen Lügen. <<
>>Ich denke, dass du ein gefühlsdussliger Trottel bist ... <<
Es fiel ihm schwer, diese Worte zu glauben.
Sein ganzes Leben hatte auf einem fragilen Konstrukt aus Lügen und Geheimnissen aufgebaut. Die Wahrheit stellte ein gefährliches Gut dar. Sie auszusprechen war noch sehr viel riskanter. Es war so viel leichter, zu lügen und die Rolle zu spielen, welche für seine Mitmenschen am angenehmsten war.
Als er jedoch Tomuras echtes, authentisches Lächeln auf seine Worte erkannte - seine reinen und ungefilterten Worte - begann ein kleiner Teil in ihm zu hoffen. Darauf, dass Tomuras Kommentar nicht nur weichgespültes Geplänkel darstellte, um Touya zu besänftigen, sondern dass der Junge es so meinte.
Dass dies auch Tomuras Wahrheit wiederspiegelte, statt einer süßen Lüge.
>>Wenn das deine ehrliche Meinung ist, dann nehme ich das so an. <<
Es wäre sinnlos gewesen, etwas darauf zu erwidern. Nicht, wenn jede von Tomuras Antworten seine Wangen nur noch röter und ihn nur noch verlegener gemacht hätte.
Stattdessen seufzte er und wandte sich erneut von dem Anderen ab. Er wusste nicht mehr, wieviel Zeit vergangen war, doch es musste sich um Stunden handeln, in denen Tomura und er nun schon so dagessen und nebeneinader existiert hatten.
Die Wölbung von seinem Rücken schmiegte sich perfekt an Tomuras Brust, während der Junge ihn wie eine warme, atmende Decke umgab. Tomuras Arme lagen eng um seine Taille. Dessen Wange schmiegte sich sanft an seinen Kopf, während dessen langsame Atemzüge seine Haut streiften.
An jedem anderen Ort hätte diese intime Zärtlichkeit ihn so nervös gestimmt, dass er vor Aufregung wie ein Flummiball auf und ab gehüpft wäre. Hier, auf seinem Bett, in der vertrauten Sicherheit seines Zimmers, mit der Gewissheit, dass Rei gemeinsam mit seinen Geschwistern irgendwo in der Statd beschäftigt war, fühlte er jedoch nur Wärme und Geborgenheit.
In diesem Moment existierten nur Tomura und er.
Sie mussten nicht sprechen, um die Stille zwischen ihnen zu füllen. Statt eine gähnende Leere zu bilden, wirkte ihr Schweigen beruhigend. Wohltuend.
Wahrscheinlich war es das, was die Menschen als emotionalen Bund bezeichneten. Mit einer anderen Person schweigen zu können, ohne ein klaffendes Loch zu hinterlassen.
Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis einer von ihnen erneut die Stille durchbrach.
>>Das war heute mutig von dir, weißt du? <<
>>Hmm? <<, hakte er murrend nach.
An irgendeinem Punkt musste er wohl die Augen geschlossen haben, denn die Welt um ihn herum war in einen weichen Schleier aus Dunkelheit gehüllt.
Er spürte Tomuras behutsame Handfläche, welche in langsamen Zügen seine Wirbelsäule hinauf und hinunter streichelte. Die Art, mit welcher sich sein Körper instinktiv näher zu Tomura lehnte, statt vor dessen Berührung zurückzuscheuen, überraschte ihn selbst.
>>Du hättest nicht so viel über dich preisgeben müssen. Hölle, du hättest dich nicht einmal vor diese Klasse stellen müssen! Du schuldest keinem von diesen Leuten irgend etwas. Und du hast es dennoch getan. Das war mutig. <<
Er benötigte einen langen Moment, um über seine Antwort darauf nachzudenken.
>>Ich hatte das Gefühl, dass wenn ich es nicht getan hätte, ich es am Ende bereut hätte. <<, erklärte er.
Er vernahm Tomuras zustimmendes Brummen, doch ansonsten blieb sein Gegenüber still. Ließ ihm Raum, um seine Gedanken zu sammeln und etwas Ordnung in sein wirres Gefühlsleben zu bringen.
Als er antwortete, war es mit ruhiger Stimme.
>>Ich hätte es niemals laut zugegeben, doch ich habe mir immer gewünscht, dass die Menschen verstehen, wie ich mich fühle. Dass sie ... den Schmerz in meinem Inneren begreifen. Wenn auch nur zu einem kleinen Teil. Ich hatte mich so sehr danach gesehnt, dass endlich jemand zuhören würde. Irgendjemand. Dabei hatte ich vergessen, dass es für jemanden, der zuhört, auch eine Person benötigt, die spricht. <<
Seine Augen blieben geschlossen, während er an all die Menschen dachte, welche ihm heute zugehört hatten. Eine ganze Schulkasse, welche nun die Wahrheit kannte.
Zumindest einen kleinen Teil davon.
Der frühere Touya wäre an diesem Wissen verzweifelt. An dem Gedanken daran, wievielen Menschen er seine verletzlichste Seite präsentiert hatte. Wieviele nun über die Macht dazu verfügten, dort zuzustechen, wo es am meisten weh tat.
>>Irgendwie handelt es sich um einen verdammt, miesen Zufall, doch ohne Musculars Aktion von letzter Woche hätte ich mich niemals geändert. Ich ... Ich glaube, es war genau die Art eines einschlagenden Ereignisses, welches ich gebraucht habe. Muscular hätte mich noch tausend Mal still und heimlich in irgendeiner Ecke verprügeln können. Ohne so eine offensichtliche Aktion, aus der es sowieso kein Zurück gab, hätte ich niemals den Mund aufgemacht. <<
>>Dein Schweigen war kein Fehler, Touya. Sicher, es hat deinen Schmerz in die Länge gezogen, aber du besaßt jedes Recht dazu. Das besitzt du heute noch. Niemand sollte dich dazu zwingen, zu sprechen, wenn du nicht dazu bereit bist. Du selbst und die besserwisserische Stimme in deinem Kopf miteingerechnet. <<
Tomuras Stimme war ruhig, beinahe hätte man sie für gleichgültig halten können. Touya kannte den Jungen jedoch zu gut, um sich so leicht täuschen zu lassen.
Er wusste, wieviel Tomura diese aufrichtigen Worte bedeuteten. Es handelte sich um ein stummes Versprechen, dass der Junge für ihn da war. Dass er Touya zuhören würde, wenn er sprach und schweigen würde, wenn auch Touya es tat.
Dieses stille Versprechen sagte für ihn mehr, als tausend schöne Worte es jemals gekonnt hätten.
>>Der Punkt ist, ich wollte reden. So oft stand ich kurz davor, mit einem Mal alles auszusprechen, doch irgend etwas hat mich schlussendlich immer davon abgehalten. Wie eine Wand, gegen die ich jedes Mal gerannt bin. Es hat sich so frustrierend angefühlt, jedes Mal kurz davor zu stehen, das Richtige zu tun und dann doch wieder einzuknicken. Manchmal habe ich mich selbst für meine eigene Feigheit gehasst. <<
Seine Zunge war belegt, während er diese Worte aussprach. Er konnte nicht zählen, wie viele schlaflose Nächte er damit verbracht hatte, sich in seinem Bett herumzuwälzen und zu überlegen, an welcher Kreuzung er falsch abgebogen war. Ob es irgendwo einen Weg gegeben hätte, der ihn zu einem anderen Schicksal geführt hätte. Zu einem besseren Ort. Ohne Schmerz und Scham.
Diese Ungewissheit hatte ihn umgebracht.
Er wollte nicht darüber nachdenken.
Seine Vergangenheit bot ihm tausend Gründe, zu weinen. Zu Lächeln war jedoch besser. Also tat er genau das.
>>Auch, wenn ich nie erwartet habe, dass es auf diese Art und Weise passieren würde, bin ich froh, dass endlich alles gesagt ist. Nun, vielleicht nicht alles. Zu viele unnötige Details heitzen die Gerüchteküche an. <<
>>Oh, glaub mir, die ist schon längst am brodeln! <<, scherzte Tomura.
Er war dankbar über dessen gelassene Reaktion. Dass sie beide über seine Worte scherzen konnten, statt in ein ernstes und zähes Schweigen auszubrechen.
>>Wo wir einmal dabei sind. Ich möchte mit dir noch über eine Sache sprechen. <<
Diesmal öffnete er seine Augen und drehte sich zu Tomura herum. Er wollte sein Gegenüber ansehen, wenn er mit ihm über diese Sache sprach.
Aufmerksam musterte er den Junge vor ihm und achtete auf jede Reaktion. Er erkannte es, als Tomuras Kehlkopf auf und ab hüpfte und dessen Schultern sich anspannten. Ansonsten blieb sein Gegenüber jedoch ruhig. Aufmerksam.
Gut.
Es war wichtig, dass er Tomura nicht auf dem falschen Fuß erwischte, wenn er mit ihm über diese Sache sprach.
>>Okay. <<, erwiderte sein Gegenüber.
Ruhig. Geduldig.
Touya hatte lange darüber nachgedacht, wie er seine nächsten Worte am besten vermitteln konnte. Er hatte sich für den kurzen und schmerzlosen Prozess entschieden.
>>Es war nicht mein Vater, welcher damals unser Haus in Brand gesteckt hat. <<
Stille.
Er beobachtete, wie Tomura langsam blinzelte und all die Rädchen in dessen Kopf zu rattern begannen.
Ein, zwei Minuten lang schien die Welt still zu stehen. Er zog bereits in Erwägung, dass Tomura ihn akustisch nicht richtig verstanden hatte, bevor der Junge schließlich mit irritierter Stimme nachhakte.
>>Was genau meinst du damit? <<
Er seufzte, während Tomura ihn mit verwirrt zusammengezogenen Brauen musterte.
Ein kleiner, optimistischer Teil von ihm hatte gehofft, dass er seine Aussage nicht näher erklären musste. Dass sie beide es einfach dabei belassen und diese wenigen Worte als ihre Wahrheit annehmen würden.
Dieser kleine, optimistische Teil seiner Seele hatte jedoch nicht beachtet, dass es Tomura war, welchem er sich in diesem Moment anvertraute. Derselbe Tomura, welcher sein altes Leben über Bord warf, nur um Platz für Touya darin zu schaffen. Der so verzweifelt versuchte, das Chaos in Touyas Innerem zu verstehen, welches er nicht einmal selbst begriff.
>>Du weißt bereits von dem Vorfall damals. Das Feuer in unserem Haus, welches mir diese Narben gegeben hat. Kurogiri hat dir davon erzählt, richtig? <<
>>Mein ... mein Vater. Er hat gesagt, er kannte Enji. <<
Er schürzte die Lippen.
Unter den hohen Tieren und all diesen fetten, einflussreichen Männern in Japan war Enji Todoroki kein unbekannter Name gewesen. In dem Arbeitszimmer seines Vaters hatte eine ganze Wand die Bilder Enjis gezeigt, auf denen er Politikern die Hand schüttelte und Seite an Seite mit den einflussreichsten Menschen in ihrer Heimat posierte.
Damals hatte man seinen Vater nie allein angetroffen.
Er fragte sich, wieviele dieser Leute tatsächlich den Mann hinter dem Todoroki Namen gekannt hatten ...
>>Ich verstehe nicht ganz. Mein Vater hat mir gesagt, dass Enji aufgrund von Brandstiftung und ... versuchten Mordes verurteilt wurde. Wenn er es nicht gewesen ist, wer ... <<
Wer war es dann?
Die unausgesprochene Frage hing schwer zwischen ihnen.
>>Mein Vater war ein brutaler und skrupelloser Mensch, keine Frage. Er war die Art eines selbstgefälligen Bastards, welcher sich nur um seine eigenen Bedürfnisse und Wünsche gekümmert hat. Was die Menschen um ihn herum wollten, hat ihn einen Scheißdreck interessiert. Das einzige, was tatsächlich seine Aufmerksamkeit bekommen hat, war er selbst. Und seine Arbeit. Das Anwesen hat ihn viel Geld und Mühe gekostet. Er hätte niemals all das, für das er so hart gearbeitet hat, in einem einzigen Moment zerstört. <<
Tomuras rote Augen waren intensiv und voller unausgesprochener Fragen.
Er musste den Blick abwenden, um weitersprechen zu können.
>>Enji hätte das Anwesen niemals in Brand gesetzt. Für ihn hat es ein Symbol des Statuses und all der Dinge, welche er erschaffen hat, dargestellt. <<
Er hasste das Zittern in seiner Stimme.
Er hasste die vertraute Art, mit der sein Körper zusammenschrumpfte und instinktiv versuchte, sich kleiner zu machen, sobald Enjis Name fiel.
Er hasste Tomura und dessen verständnisvolle Geduld.
Er wollte seinen Satz nicht beenden und die Wahrheit laut aussprechen, welche ihn seit seinem zwölften Lebensjahr verfolgte.
Wann hatte er jemals das getan, was er selbst wollte?
>>Er war es nicht. Das war ich. <<
Die Stille, welche sich daraufhin zwischen sie beide legte, war so dick, dass er befürchtete, daran zu ersticken.
Er hätte es lieber gehabt, wenn Tomura in diesem Moment lautstark aufgesprungen wäre und ihn mit harten Worten verurteilt hätte. Dessen Schweigen und der durchdringende Blick des Jungen trafen Touya härter, als jedes böswillige Wort es jemals gekonnt hätte.
Anschuldigungen hätten ihn lediglich verurteilt und ihm den Rest dieses Gespräches erspahrt. Tomuras Schweigen forderte ihn jedoch in stummer Erwartung dazu auf, sich selbst zu erklären. Die ganze, hässliche Wahrheit auszusprechen, welche ihn bis zu seinem Tod verfolgen würde.
>>Es sollte nicht so kommen. Ich wollte nicht, dass ... Es ... Es war nie meine Absicht ... <<
Er versuchte, es zu erklären. Er versuchte es wirklich.
Jedes Mal, wenn er jedoch den Mund aufmachte, sah er erneut das brennende Haus vor sich. Spürte die Flammen auf seiner Haut. Den gleißenden Schmerz. Hörte Enjis verächtliche Stimme in seinem Ohr.
Es war alles, was er brauchte, um den Mund wieder zu schließen.
Es war peinlich und verdammt frustrierend. Es erinnerte ihn an all die unzähligen Momente, in denen er kurz davor gestanden hatte, die Wahrheit über Musculars Taten auszusprechen und in letzter Sekunde doch zurückgescheut war.
>>Touya ... <<
Es war Tomuras sanfte Stimme, welche ihn aus seinen zerstörerischen Gedanken riss. Er hatte diese Sanftheit nicht erwartet. Den warmen und verständnisvollen Ausdruck in dem Gesicht des Jungen, während dessen rote Augen ihn geduldig - nicht fordernd - betrachteten.
>>Nur er hätte ... <<, versuchte er es erneut.
Seine Stimme verlief in den Wind, noch bevor er etwas gesagt hatte.
Um ihn herum stand die Welt in Flammen. Ein roter Dämon, welcher sich vor seinen Augen auftürmte und alles in seiner Reichweite verschlang.
Das Feuer war groß und verheerend gewesen. Ein Inferno.
>>Touya. <<, wiederholte Tomura.
Diesmal war dessen Stimme fester und standhafter. Als er aufblickte, sah er direkt in Tomuras intensive, rote Augen.
>>Schon gut. Es ist alles okay. Nimm einen tiefen Atemzug. Ich weiß, dass du das schaffst. <<
Er befolgte Tomuras sanfte Anweisung quasi auf Autopilot. Dessen Worte waren wie eine Rettungsleine, an welcher er sich verzweifelt festklammerte, um nicht den Halt zur Realität zu verlieren.
Er hatte nicht bemerkt, dass sein Körper angefangen hatte, zu zittern, während sich seine Hände haltsuchend in das Bettlaken unter ihm krallten.
>>Tomura ... <<
>>Schon gut. Es ist alles gut, Touya. Atme einfach. Hier. <<
Er zuckte nicht mehr zusammen, als Tomura nach seiner zitternden Hand griff und diese auf seinem Brustkorb ablegte. Er spürte die Wärme von dessen Haut und den weichen Stoff von dessen Shirt unter seinen Fingern.
>>Atme langsam ein. <<
Er fühlte es, als Tomuras Brust sich langsam hob. Zischend sog er die Luft durch seinen Mund ein.
>>Gut so. Halte sie für ein paar Sekunden an. <<
Er kannte diese Übungen. Die Maßnahmen, welche Therapeuten ergriffen, wenn ihre Patienten vor ihnen in Panik verfielen.
Auch Tomura kannte diese Übungen viel zu gut, um nur ein Außenstehender sein zu können ...
>>Jetzt atme langsam aus. <<
Tomuras Brust senkte sich und er ließ die angestaute Luft aus seiner Lunge entweichen.
>>Gut so. Atme einfach. <<, murmelte Tomura ihm beruhigend zu.
Sie wiederholten den Prozess schweigend noch einige Male. Solange, bis Touya nicht mehr das Gefühl hatte, an dem Rauch in seiner Lunge und der Asche in seinem Mund zu ersticken.
Es dauerte eine Weile, doch allmählich verfeinerten sich die Konturen, während die Welt um ihn herum wieder klarer wurde.
Er befand sich auf seinem Bett. In seinem Zimmer. Mit Tomura an seiner Seite.
Die Luft war kühl und angenehm, statt brennend heiß. Es gab kein Feuer. Nur die schemenhaften Flammen aus seiner Erinnerung.
Sein Körper fühlte sich schwer und träge an, als er sich schließlich mit einem erschöpften Seufzen auf den Rücken fallen ließ. Eine Sekunde lang starrte er schweigend die Zimmerdecke an. Einen Moment später spürte er, wie sich die Matratze neben ihm senkte und fühlte Tomuras warmen Körper an dem seinen.
Er zählte nicht die Minuten, welche vergingen, während sie beide einfach still nebeneinander existierten, bevor Tomura schließlich die Stille durchbrach.
>>Du warst derjenige, der das Feuer gelegt hat. <<
Es handelte sich um eine simple Aussage und keine Frage.
Eine Frage hätte ihn dazu aufgefordert, sich selbst zu erklären. Tomura gab ihm stattdessen eine Wahl.
>>Ja. Das war ich. <<
>>Okay. <<
Ein Moment der Stille verging. Dann:
>>Das tut mir Leid, Touya. <<
Dies waren schließlich die Worte, die ihn einknicken ließen. Die den Wall brachen, sodass all seine Emotionen in einem chaotischen Strudel herausströmten.
Von einem Moment auf den anderen sprudelte all das aus ihm heraus, was er so lange verborgen gehalten hatte. Plötzlich war er wieder der kleine, zwölfjährige Junge in einem brennenden Haus, aus dem es keinen Ausweg gab.
Er roch den Rauch in der Luft. Schmeckte die dicke Asche auf seiner Zunge. Seine Sicht war in einen Schleier aus orange und rot gehüllt, während er spürte, wie die erbarmungslose Hitze die Härchen auf seinem Körper versengte.
Er wusste ganz genau, dass es kein Entkommen gab. Dass jeglicher Versuch dazu sinnlos war.
Dennoch fühlte er, wie sich sein Körper instinktiv in Bewegung setzte. Wie jede Faser in ihm schrie, dass er kämpfen solle.
Vor seinen Augen türmte sich das Feuer zu einem Flammenmeer auf. Dennoch lief er weiter. Die Hitze kroch unter seine Kleidung und biss in die nackte Haut seiner Fußsohlen. Der Rauch ließ seine Augen tränen und raubte ihm die Luft zum Atmen. Dennoch lief er weiter. Immer weiter und weiter.
Er hatte sich selbst oft genug aufgegeben. Jahre seines Lebens hatte er mit der festen Überzeugung verbracht, dass es nichts mehr für ihn gab, für das es sich zu leben lohnte. Dass er keine Angst davor hatte, dem Tod ins Gesicht zu blicken.
Er hatte falsch gelegen.
Die Augen des Todes waren rot und glühend gewesen und dessen Hände sengend heiß. Noch nie zuvor hatte Touya eine solche knochentiefe Angst verspürt, wie in diesem Augenblick.
Logik und Verstand hatten in dieser Situation keine Rolle gespielt. Sein Körper hatte instinktiv ganz genau gewusst, was er wollte.
Er wollte leben.
>>Ich war zwölf, als ich das Feuer gelegt habe. Es ist kurz nach Shotos Geburt passiert. Ich ... Ich weiß nicht mehr genau, was der Auslöser für ... all das war. <<
Seine Therapeutin hatte es als einen Schutzmechanismus seines Körpers bezeichnet. Die schlimmsten, traumatischen Erlebnisse zu verdrängen, sodass sie ihn nicht bis zum dem Punkt quälen konnten, an dem er endgültig die Kontrolle verlor.
Alles, was ihm von diesem Tag geblieben war, waren schemenhafte Fragmente seiner Erinnerung und verworrene Bilder. Ein Streit mit seinem Vater. Schreie und harsche Worte. Schmerz, an seiner linken Schläfe. Dort, wo Enji zugeschlagen haben musste. Blut und Übelkeit. Dieses ständige Ringen in seinen Ohren.
Dann kam das Feuer.
Sein Körper war ein verdammt, mieser Verräter, denn an das Feuer erinnerte er sich noch glasklar.
>>Vielleicht war es etwas, was Enji gesagt hat. Vielleicht hat er mich und meine Geschwister an diesem Tag für irgendetwas bestraft, was wir getan haben. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, was den Auslöser dargestellt hat. Ich weiß nur noch, wie falsch mein Leben bis zu diesem Punkt verlaufen ist. Ich stand dauerhaft unter Stress und Schmerzen. Ich kann mich an keinen Tag in meinem zwölften Lebensjahr erinnern, an dem ich mich nicht frustriert und elendig gefühlt habe. Ich war noch ein halbes Kind und hatte schon jetzt den absoluten Tiefpunkt erreicht. <<
Er musste stoppen, um den Kloß in seiner Kehle herunterzuschlucken. Tomura schwieg neben ihm und wartete solange, bis Touya die Kraft dazu fand, weiterzureden.
>>Irgendwann ... Irgendwann hat es einfach gereicht. Ich hatte keine Freunde. Mein Vater hat mir und meinen Geschwistern quasi jegliche Beziehungen zu anderen Menschen verboten. Meine Mutter hatte er schon längst in dem Anwesen isoliert. Von außen kam keine Hilfe ... <<
>>Also hast du aufgehört, darauf zu warten. <<
Tomuras Worte hinterließen einen bitteren Nachgeschmack auf seiner Zunge. Der Junge verstand ganz genau, was Touya damit aussagen wollte.
Er nahm einen zittrigen Atemzug und wandte den Blick ab. Die Scham und die Schuldgefühle brannten heiß in seinem Inneren. Wie eine offene Flamme auf der Haut.
>>Ich hatte oft darüber nachgedacht, wie ich meinen Vater am besten verletzen konnte. Ich wollte so sehr, dass er dafür bezahlt, was er mir und meiner Familie angetan hat. Ich wollte nicht einfach nur, dass er aufhört. Hätte er lediglich von einem Tag auf den anderen damit aufgehört, uns zu misshandeln, hätten ihn niemals Konsequenzen für seine Taten erreicht. Ich wollte, dass er bezahlt. Dass er genau so leidet, wie wir alle gelitten haben. <<
Er ballte die Hände zu Fäusten, als er heiße Tränen in seinen Augenwinkeln brennen spürte. Neben ihm ertönte ein beunruhigter Laut von Tomura, doch er schüttelte den Kopf, während er seinen Blick auf die gegenüberliegende Wand richtete.
Er brauchte kein Mitleid und keine trostspenden Worte.
Das, was er brauchte, war jemand, der ihm zuhörte. Der die Wahrheit mit ihm teilte und ein Stück der Last schulterte, die jahrelang auf Touyas Rücken gelegen hatte.
>>Mein Vater hat meine Familie und mich jeden Tag unseres Lebens gequält und erniedrigt. Wir haben für ihn keine Personen dargestellt, sondern lediglich seinen Besitz. Objekte, mit denen er tun und lassen konnte, was er will. Meine Mutter war in seinen Augen nur ein Stück Fleisch. Ihre Familie hat sie mit neunzehn Jahren aus Geldnot an ihn verkauft, sodass sie heiraten und miteinander Kinder zeugen konnten. Zwangsehen sind normalerweise längst verboten, doch natürlich hat kein Außenstehender je davon erfahren, dass meine Mutter nicht freiwillig ihr altes Leben und ihre Selbstständigkeit aufgegeben hat. Als all das nach der Verhaftung meines Vaters herauskam, war das Ansehen der Himura Familie ein für alle Mal zerstört. Gut so. Ich habe keine Ahnung, was aus diesen Heuchlern geworden ist. Meine Mutter hat uns aus gutem Grunde nie ihren Verkäufern vorgestellt. <<
Die Beleidigungen stapelten sich auf seiner Zunge, doch er biss fest die Zähne aufeinander und stieß zischend die Luft durch seine Nase aus.
Neben ihm erklang ein Rascheln, als sich Tomura auf dem Bett bewegte. Dann hörte er dessen leise und unsichere Stimme.
>>Wieso hat Enji das alles getan? Eine Zwangsehe, all die Misshandlungen. Wie krank kann ein Mensch sein, um all das ohne Grund zu tun? <<
>>Es gab einen Grund. Einen verdammt dämlichen Grund. Mein Vater wollte den perfekten Nachfolger für sein Imperium erschaffen. <<
Er spuckte die Worte voller Bitterkeit und Verachtung aus. Noch immer fixierten seine Augen die gegenüberliegende Wand. Er spürte auch so, wie sich Tomuras ungläubiger und irritierter Blick in seinen Rücken bohrte.
>>Warte kurz. Ich glaube, dass musst du mir genauer erklären. Enji hat ... Er hat deine Geschwister und dich gezeugt, weil er sich krankhaft nach einem Erben gesehnt hat und dennoch ... Dennoch hat er euch alle jahrelang misshandelt und gedemütigt? <<
Tomuras Worte waren bedächtig und säuberlich ausgewählt. Er verstand, dass der Junge seine Vorsicht bewahrte, um Touya nicht unachtsam zu verletzen oder in eine weitere Panikspirale hineinzumanövrieren.
Ein kleiner Teil von ihm wünschte sich jedoch, dass Tomura die Fakten einfach so nehmen würde, wie sie vor ihm lagen.
Enji Todoroki war ein fanatischer Misshandler gewesen, dessen Taten durch keinen Grund und keine Logik auf dieser Welt gerechtfertigt wurden.
Punkt.
>>Er wollte nicht nur irgendeinen Nachfolger. Derjenige, den er würdig dazu erklärt hätte, sein Erbe anzunehmen, hätte perfekt sein müssen. Würdig genug, um den Todoroki Namen zu tragen. Natürlich kamen dafür nur sein eigenes Fleisch und Blut in Frage. Ich wurde ungefähr ein Jahr nach der Zwangsehe meiner Eltern geboren. Ich stellte quasi das erste Experiment dar. Naja, und zu Beginn sah auch noch alles blendend aus. Ich war der erstgeborene Sohn meines Vaters. Der neue Stolz des Todoroki Namens. Enji war ... Ganz am Anfang hat er sich noch nicht so grausam meiner Mutter und mir gegenüber verhalten. Er hatte immerhin alles das erreicht, auf das er so lange hingearbeitet hatte. Ein großes Anwesen, eine züchtige Ehefrau und einen würdigen Nachfolger. Das war das einzige Mal in meinem Leben, in dem ich meinen Vater wirklich zufrieden erlebt habe. <<
Er seufzte und ließ den Atem heraus, welchen er unbewusst angehalten hatte.
Es fühlte sich falsch an, so über Enji zu sprechen.
Er wusste, dass sein Vater nicht immer das Monster aus seinen Erinnerungen gewesen war. Er war schon immer streng und herrisch gewesen, doch am Anfang hatte sich sein Vater niemals grausam verhalten. Es hatte ... gute Zeiten gegeben. Zeiten, in denen sein Vater noch sein Vater gewesen war.
Diese wenigen und kurzlebigen, positiven Momente wurden jedoch von all den Erinnerungen an Tränen und Schmerzen verdrängt. Wenn er an seinen Vater dachte, konnte er sich nichts anderes vorstellen, als das Monster, welches nachts durch das Anwesen gepoltert war und seine Familie heimgesucht hatte.
>>Was hat sich verändert? <<
Tomuras Frage war leise und unschuldig. Dennoch spürte er den Kloß, welcher in seiner Kehle anschwoll.
>>Ich habe mich verändert. Ich bin gewachsen und älter geworden und irgendwann kam mein eigener Körper nicht mehr hinterher. Meine physische Konstitution war schon immer schwach. Noch, bevor ich diese Narben bekommen habe. Normalerweise bemerke ich es nicht sonderlich. Wenn ich genug Schlafe und mich ausruhe, fühle ich mich nicht anders, als irgendein beliebiger Junge in meinem Alter. Wenn ich jedoch zu sehr unter Stress stehe, betätigt mein Körper die Notbremse. Licht aus. Ich glaube, ich war fünf, als mein Kreislauf zum ersten Mal zusammengebrochen ist. <<
Damals war er noch zu klein gewesen, um zu verstehen, was mit seinem Körper passierte.
Er erinnerte sich an das Gefühl der Trägheit in seinen Gliedern. An die Statik in seinem Kopf, so als hätte man seinen Verstand mit Watte gefüllt. An den Moment, in dem schließlich alles schwarz wurde.
An irgendeinem Punkt war er schließlich auf dem rauen Holzboden seines Kinderzimmers aufgewacht. Benebelt und orientierungslos.
Allein.
Seine Zunge hatte sich schwer und taub in seinem Mund angefühlt. Es war nicht leicht gewesen, einzelne Wörter zu formulieren, doch die Panik in seinem Inneren war stärker gewesen, als der Schmerz.
Vermutlich hatte es sich nur um ein paar Minuten gehandelt, doch die Zeit, bis seine Eltern ihn endlich erreicht hatten, hatte sich in seiner kindlichen Angst, wie eine Ewigkeit dahingezogen. Er erinnerte sich an die Besorgnis in dem Gesicht seiner Mutter und die sanfte Art, mit welcher sie ihn beruhigend auf und ab gewiegt hatte.
Mehr, als das noch, erinnerte er sich jedoch an Enjis Reaktion.
Sein Vater hatte wie ein Fremder vor Touyas Türschwelle gestanden, während er die Szene vor ihm mit kalten Augen analysiert hatte. Enji hatte ihm keine liebevollen Worte oder sanften Gesten geschenkt. Stattdessen hatte er ihn mit kalten Augen von oben herab betrachtet, bevor er sich endgültig von ihm abgewandt und ihm den Rücken zugekehrt hatte.
Dies war das erste Mal gewesen, an dem sich Touya seinen Vater als grausam vorgestellt hatte ...
>>Wenn mein Vater eine Sache mehr als alles andere verachtet hat, dann war es Schwäche. Körperliche oder geistige. Enjis Meinung nach litt ich an beiden Symptomen. Am Anfang hat er versucht, diese Schwäche in mir auszumerzen. Er hat auf mich eingeprügelt und es „Training" genannt, um meinen Körper gegen den Schmerz und den Stress resistent zu machen. Es hat nicht funktioniert. Natürlich hat es das nicht. Eher ist alles im Gegenteil gemündet, sodass meine physische und psychische Konstitution nur noch fragiler geworden ist. <<
Er ballte die Hände zu Fäusten und atmete tief ein, als die brutalen Bilder aus seiner Erinnerung ihn zu überwältigen drohten.
Das erste Mal, als Enji die Hand gegen ihn erhoben hatte, hatte sich am Schlimmsten angefühlt. Es war so unerwartet gekommen. So abrupt und schmerzhaft. Sein Vater hatte eine strenge Miene aufgesetzt und ihm mit bedeutenden Worten erklärt, dass sie sich in einer Trainingsphase befanden, um Touya auf seine neue Rolle als Polizeichef Kyushus vorzubereiten.
Er war noch ein Kind gewesen. Naiv und gutgläubig, wie er gewesen war, hatte er Enjis Worte voller Eifer entgegengenommen.
Der Mann, der vor ihm gestanden hatte, war sein Papa gewesen. Sein Papa würde ihm niemals weh tun ...
>>Meine Mutter fand seine Methoden zu grausam. Sie hat versucht, mich zu verteidigen, also hat er auch die Hand gegen sie erhoben. Das Ganze ging für eine Weile auf diese Art hin und her. Damals besaß meine Mutter noch genug Kraft und Hoffnung, um sich in Enjis Weg zu stellen. <<
Rei war nicht von Anfang an gebrochen gewesen.
Die Zwangsehe mit Enji hatte ihr alle Möglichkeiten zu einem freien Leben geraubt. All die Chancen und Ziele, auf welche sie so lange hingearbeitet hatte. Dennoch hatte sie verzweifelt versucht, optimistisch zu bleiben. Ihre Stärke und ihren Mut zu bewahren.
Enji hatte es lange versucht, doch er hatte es bis zum Ende nicht geschafft, Rei vollständig zu brechen ...
>>In einer Nacht hat sie schließlich all ihren Mut zusammengenommen und ihre Chance genutzt. Ich erinnere mich noch daran, dass es sich um einen Samstagabend gehandelt hat. Normalerweise hat sich mein Vater an den Wochenenden eher Schluss genommen, um für seine Familie da zu sein. An diesem Abend wurde er jedoch über einen dringenden Notfall alarmiert. Er hat sich ohne zu Zögern auf den Weg gemacht und meine Mutter und mich allein Zuhause gelassen. Sie hat diese Chance genutzt und ist mit mir abgehauen. Nur mein Vater besaß ein Auto, also sind wir mitten in der Nacht bis zur Zugstation gelaufen, in irgendeine Bahn gestiegen, welche uns hoffentlich weit wegbringen würde, und erst an der letzten Station ausgestiegen. Dort haben wir uns in dem einzigen Hotel eingebucht, dessen Rezeption zu dieser Zeit noch geöffnet hatte. Wir hatten beide jeweils eine Tasche mit dem Nötigsten dabei. Meine Mutter muss diese Taschen schon sehr lange in ihrem Schrank versteckt haben. <<
An diesem Punkt machte er eine Pause, während er gegen die plötzliche Trockenheit in seiner Kehle ankämpfte.
Die Stille zwischen Tomura und ihm war zäh und schwer. Sie flehte förmlich darum, gefüllt zu werden.
>>Was ist danach passiert? <<, hakte Tomura vorsichtig nach.
Am Klang von dessen Stimme erkannte er, dass der Junge nicht wirklich die Antwort auf seine eigene Frage erfahren wollte.
>>Es hat nicht lange gedauert, bis Enji uns beide gefunden hat. Wir haben - Gott, ich weiß nicht mehr - eine ... vielleicht zwei Wochen ausgehalten? Es hat sich um eine spontane Aktion gehandelt, ohne ausgereiften Plan dahinter. Meine Mutter hatte ihre Chance gesehen, von ihrem gewalttätigen Ehemann wegzukommen und hat sie genutzt, ohne sich Gedanken darum zu machen, wie es danach weitergehen würde. Ich bezweifle jedoch, dass es etwas geändert hätte. Meine Mutter besaß weder einen Job, noch ein eigenes Konto. Nach Hilfe fragen konnten wir nicht. Das Risiko war zu hoch, dass man sofort Enji alarmiert hätte. Sowieso hätte uns keiner unterstützt. Mein Vater war der oberste Polizeichef in ganz Kyushu, was bedeutet, dass kein einziger Polizist sich auf unsere Seite gestellt hätte. Selbst, wenn einer es gewagt hätte, wäre der Versuch sinnlos gewesen. Wir saßen in der Falle, wie die Maus und Enji war die Katze. <<
Dies war die bittere Wahrheit, welche ihn seine gesamte Kindheit lang verfolgt hatte. Sein Vater war ein Gott gewesen. Verehrt und gefürchtet gleichermaßen. Touya und seine Familie hatten nur unbedeutende Bauern dargestellt, welche man leicht ersetzen konnte.
Niemand würde sich dafür interessieren, was mit ihnen geschah.
>>Touya ... Ich ... Es tut mir so leid, dass du das alles erleben musstest. <<
Tomuras Worte waren ein heißeres Flüstern hinter seinem Rücken.
Diesmal drehte er sich zu dem Jungen herum. Er erkannte die aufgewühlten Emotionen in Tomuras Gesicht und das ehrliche Bedauern in den roten Augen.
Touyas eigener Ausdruck blieb kühl und hart. Er wollte Tomuras Mitleid nicht.
>>Hör auf. <<
>>Nein, ich ... Es tut mir wirklich leid, Touya. <<
Er schnaufte und verschränkte die Arme vor der Brust.
>>Ich weiß, dass es das tut. Und ich will dein Mitleid nicht. <<
Er sah, wie sein Gegenüber die weißen Brauen zusammenzog und wie dieser den Mund öffnete, um zu protestieren. Bevor ein einziges Wort Tomuras Kehle verlassen konnte, unterbrach er den Jungen.
>>Du hast noch nicht das Ende der Geschichte gehört. <<
Damit schloss Tomura seinen Mund wieder, während der Junge ihn in zögerlicher Erwartung betrachtete. Tomura rechnete mit dem Schlimmsten.
Hah, wie Recht dieser doch hatte ...
>>Jedenfalls hat diese Aktion so etwas wie den Startschuss für den ganzen Wahnsinn, der daraufgefolgt ist, dargestellt. In den Tagen unseres Verschwindens war mein Vater der festen Überzeugung, dass einer seiner Feinde meine Mutter und mich entführt hat. Dass wir ihn brauchen, um uns zu "retten". Als ... <<
Er schluckte den Kloß herunter, welcher in seinem Hals anschwoll und seine nächsten Worte zu ersticken drohte. Der bittere Nachgeschmack auf seiner Zunge blieb.
>> ... als er herausgefunden hat, dass wir freiwillig abgehauen sind, ist er durchgedreht. Er hat meine Mutter so sehr geschlagen, dass sie Tage lang nicht mehr aufrecht gehen konnte. Das war jedoch nicht einmal das Schlimmste. Das Schlimmste waren die „Vorsichtsmaßnahmen", welche er ergriffen hat, um zu verhindern, dass wir überhaupt nur auf die Idee kommen, diese Aktion zu wiederholen. Meine Mutter hat er im Nordflügel des Anwesens - in seinem Bereich - eingesperrt, während er mich im Südflügel isoliert hat. Ich durfte nur noch mit ihr sprechen oder auch nur kurz in ihre Richtung schielen, wenn er anwesend war. Was fast ausschließlich abends zu meinen Bettzeiten der Fall war. Natürlich hat er seine Arbeit nicht wegen uns aufgegeben. Dafür hätte es mehr gebraucht, als eine eigenwillige Ehefrau und einen unwürdigen Sohn ... <<
Er erwartete fast, dass Tomura ihm erneut sein Beileid dazu bekunden würde.
Der Andere blieb jedoch still und musterte ihn lediglich aufmerksam.
Tomura schenkte ihm kein süßes Mitleid und packte ihn in Watte, sondern hörte einfach zu. Das war alles, was Touya brauchte.
Eine Person, die zuhörte.
>>Zwei Jahre später kamen dann Fuyumi und Natsuo zur Welt. In Enjis Augen stellte ich ein gescheitertes Experiment dar, also stieß er mich einfach zur Seite und versuchte weiter, seinen perfekten Nachfolger zu erschaffen. Fuyumi hat er sofort aussortiert. Sie ist ein Mädchen. In Enjis Welt hat das bedeutet, dass sie einmal die Rolle der Ehefrau und Mutter einnehmen würde. Nicht die der neuen Polizeichefin Kyushus. An Natsuo hat er sich etwas länger festgebissen. Als ein Arzt jedoch mit zwei Jahren chronisches Asthma bei meinem Bruder festgestellt hat, hat er die beiden schließlich auch aussortiert. <<
>>Verdammt ... <<, hörte er Tomura im Hintergrund murmeln.
Er stimmte diesem im Stillen zu, bevor er fortfuhr.
>>Mich hatte er zu diesem Zeitpunkt schon seit zwei Jahren isoliert. Enji hat mir immer nur dann Beachtung geschenkt, wenn er seinen Frust an mir ausgelassen hat. Was danach mit mir passiert ist, war ihm egal. Ich war ein fehlgeschlagenes Experiment. Eine fehlerhafte Kreation. Ich war sowieso schon gebrochen, also hat es keine Rolle gespielt, ob er mich noch mehr brechen würde. Fuck! Das erste Mal, als ich wirklich Zeit mit meinen Geschwistern verbringen durfte, war, als er sie ebenfalls als nutzlos abgestempelt und weggeworfen hat! <<
Er schwur in die Luft.
Es dauerte eine Weile, bis er sich genug beruhigt hatte, um mit leiser Stimme weiterzusprechen.
>>Irgendwie war es das von all den Misshandlungen, was mich am härtesten getroffen hat. Diese Ignoranz. Den Hass und die Schläge konnte ich ertragen, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich mit dieser Einsamkeit umgehen sollte. Das ... Das hat mich krank gemacht. <<
Er presste die Augen zusammen und nahm einen zittrigen Atemzug.
Noch immer spürte er das klaffende Loch in seiner Brust. Diese endlose Leere, gepaart mit dem stechenden Schmerz. Ausgelöst durch diese alles einnehmende Einsamkeit, welche damals jeden Zentimeter seiner Seele erfüllt hatte.
>>Als schließlich Shoto zur Welt kam, habe ich es nicht mehr ausgehalten. Ich ... ich konnte all das einfach nicht mehr ertragen. Also habe ich dafür gesorgt, dass es aufhört. <<
Er erinnerte sich noch daran, wie er das Feuer gelegt hatte.
Sein Vater hatte ihm verboten, außerhalb der Schulzeit, allein das Anwesen zu verlassen. Zuerst hatte er dagegen protestiert und sich geweigert, diesen Befehl anzunehmen. Später, mit einem blauen Auge und einer blutigen Lippe, hatte er beschlossen, dass wenn er schon in einem Käfig feststeckte, er wenigstens jeden Winkel davon kennen wollte.
Er hatte ganz genau gewusst, in welcher Ecke ihres Kellers sich der Benzinkanister befunden hatte.
In der Dunkelheit und der Stille der Nacht war es beinahe schon zu einfach gewesen, das Feuer zu legen. Als der erste helle Funken vor seinen Augen entfacht war, hatte ein seltsames Gefühl der Euphorie jede Zelle seines Körpers erfasst. Eine schmutzige Befriedigung, die ihn genauso stark beschämt, wie sie ihn beflügelt hatte.
Sein Plan war es gewesen, das Feuer zu entfachen und dann gemeinsam mit seinen Geschwistern und seiner Mutter in dem Chaos und der Verwüstung zu flüchten. Er erinnerte sich jedoch noch genau an das Gefühl, welches ihn erfasst hatte, als er Angesicht zu Angesicht mit der roten Bestie gestanden hatte. An die Art, mit der das Blut durch seine Adern gerauscht war und sich mit dem kribbelnden Adrenalin in seinen Venen getroffen hatte.
Zum ersten Mal in seinem Leben war nicht er es gewesen, welcher der Gefahr ausgesetzt war. Er selbst war die Gefahr gewesen.
In diesem einen Moment hatte er Macht besessen. Kontrolle.
Es hatte sich um ein berauschendes Gefühl gehandelt, dem er sich nicht hatte entziehen können.
Also hatte er weitergemacht.
Mit jeder Sekunde war er immer leichtsinniger und rücksichtsloser geworden. Der gutmütige und kindliche Teil seines Verstandes hatte darum gebeten, dass seine Familie es heil aus der Verwüstung herausschaffen würde. Ein viel größerer Teil von ihm hatte jedoch nur an all die Wege gedacht, mit denen er Enji Leid zufügen konnte.
>>Mein Vater hat mich gefunden, als ich sein Arbeitszimmer erreicht habe. Er hat das Feuerzeug und den Benzinkanister in meinen Händen erblickt und sich seine Schlüsse daraus gezogen. Er hätte mich einfach aus dem Haus herauszerren und mich später grün und blau schlagen können. So war mein Vater jedoch nicht. Er wollte mich bestrafen. Also hat er mich in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen und ist mit dem Rest meiner Familie geflohen. Ich weiß nicht mehr, wie ich es herausgeschafft habe. Ich bin durch das Fenster im ersten Stock gesprungen, um den Flammen zu entkommen. <<
Seine Stimme blieb hart und unverändert, während er über diese Ereignisse sprach. Er hatte die Emotionen weggeschlossen, damit sie ihn nicht weiter quälen konnten.
Tomura dagegen hielt sich erschrocken eine Hand vor den Mund, während der Junge die Augen weit aufriss.
>>Touya, oh fuck ... <<
Der Andere präsentierte ihm seinen Schock und seinen Kummer so vollkommen frei und offen. Er erkannte das Zittern in Tomuras Lippe und die vertraute Art, mit welcher dieser die Hand hob, um sich damit in alter Gewohnheit im Nacken zu kratzen.
Er selbst kniff lediglich die Augenbrauen zusammen und blieb hart.
Die brodelnden Emotionen in seinem Inneren glichen einem Sog. Würde er sich einmal von ihnen mitreißen lassen, würde es kein Entkommen mehr geben.
>>Ich habe gesagt, dass ich dein Mitleid nicht will. <<, flüsterte er im kalten Ton.
Der Satz hing schwer in der Stille zwischen ihnen. Zäh und eisig.
Er erkannte es, als Tomuras Kehlkopf auf und ab hüpfte, bevor dieser die Schultern straffte. Dann beugte sich Tomura zu ihm herüber und tat genau das, was Touya am wenigsten erwartet hatte.
Er schloss ihn in seine Arme.
Die Geste kam so abrupt und unvorhergesehen, dass er dem ersten Instinkt seines Körpers folgte, zurückzuschrecken. Tomuras Griff blieb jedoch standhaft und erlaubte es ihm nicht, sich zu verstecken. Nicht so, wie Touya sich vor seinen eigenen Gefühlen und Tomuras Empathie versteckt hatte.
>>Hey, hör mal ... <<
Er wusste selbst nicht genau, was er dem Anderen erklären wollte.
Dass er niemanden brauchte, der sich um ihn sorgte und ihm sein Mitgefühl aussprach?
Dass er siebzehn Jahre seines Lebens auf sich allein gestellt gewesen war und noch immer gut allein zurechtkam?
Er bezweifelte, dass Tomura ihm diese Worte glauben würde, wenn Touya es nicht einmal selbst tat.
So oder so unterbrach ihn der Junge, bevor er sich ein weiteres Mal aus dieser Situation herausreden konnte.
>>Nein, hör du mir zu. Denkst du wirklich, dass ich nicht ganz genau weiß, was du tust, Touya Todoroki? Du verschließt dich vor deinen eigenen Gefühlen und jeder Art von Empathie, welche dir deine Mitmenschen entgegenbringen. Du redest dir selbst ein, dass es auf diese Weise leichter - sicherer - ist. Dadurch, dass du niemandem erlaubst, dich von deiner verletzlichsten Seite zu sehen, kann dir auch niemand weh tun. <<
Tomuras Stimme war laut und fest. Unerschütterlich.
Dessen rote Augen starrten direkt in Touyas Seele und sahen alles.
Sein Mund stand offen, doch kein Wort drang über seine Lippen. Er schluckte, um gegen die plötzliche Trockenheit in seiner Kehle anzukämpfen.
>>Ich weiß das alles, weil ich mich früher genauso verhalten habe. Glaub ja nicht, dass du dich vor mir verstecken kannst. Ich weiß, wie es aussieht, seine Dämonen im Verborgenen zu bekämpfen und still vor sich hin zu leiden. Und ich weiß, wie verdammt weh es tut. Ich weiß, dass jeder Tag eine Qual darstellt, an dem du allein mit dem Schmerz umgehen musst. <<
Er erkannte, wie die Emotionen in Tomuras Gesicht überschwappten. Wie der harte Ausdruck wich und stattdessen von etwas so Offenem und Verletzlichen abgelöst wurde.
>>Ich bitte dich, tu das nicht, Touya. Ich ertrage es nicht, dich im Stillen leiden zu sehen. Ich bin genau hier, bei dir, und ich möchte dir helfen. Bitte lass mich dir helfen. <<
Es waren diese reinen und aufrichtigen Worte. Tomuras Arme, welche eng und beschützend seine Taille umschlangen, so als würden sie ihn nie wieder loslassen wollen. Der verletzliche und flehende Ausdruck in dem Rot von Tomuras Augen.
Irgendwo in seinem Inneren hörte er das Klirren, als ein Stein aus der schweren Mauer herausbrach, welche er um seine Seele gebaut hatte.
Er hielt dem Blick seines Gegenübers nicht mehr länger stand, sodass er den Kopf senkte. Seine Unterlippe begann zu zittern und seine Stimme hörte sich selbst in seinen eigenen Ohren heißer an, als er schließlich antwortete.
>>Ich weiß nicht, wie ... <<
Tomura hatte sich ihm offen und verletzlich präsentiert. Das mindeste, was er dem Jungen im Gegenzug dafür geben konnte, war ein ehrliche Antwort.
>>Das ist in Ordnung. Wir finden es heraus. Gemeinsam, okay? <<
Er schwieg und ließ Tomuras Worte in der Stille nachhallen. Nahm das Versprechen an, welches der Junge ihm geschenkt hatte.
Eine Weile lang sagte keiner von ihnen ein Wort. Stattdessen saßen sie gemeinsam in der Stille und hielten sich gegenseitig fest umschlungen, so als würden sie ohne den Halt des jeweils anderen auseinanderfallen.
Es fühlte sich seltsam an, ihr gesamtes Gespräch noch einmal in seinem Kopf Revue passieren zu lassen. Da war so viel, was er Tomura bereits offenbart hatte, doch noch immer wurde Touyas Seele von so vielen Geheimnissen und Dämonen beherrscht.
Falls der andere Junge wirklich vorhatte, Touyas reines und ungefiltertes Selbst kennenzulernen, würde er eine verdammte Menge an Geduld und Verständnis mitbringen müssen. So, wie er Tomura jedoch kannte, würde dieser ihm nur erwidern, dass er eine Ewigkeit für Touya warten würde.
Huh, sentimentaler Trottel ...
Der Gedanke brachte ihn unerwartet zum lachen.
>>Was denn? <<, hakte Tomura irritiert, jedoch nicht unfreundlich, nach.
Er schüttelte lediglich den Kopf, während er mit der Hand abwinkte.
>>Es ist nur ... Sieh uns beide an! Wir sind die perfekten Trauma-Buddys. <<
Im ersten Moment wirkte sein Gegenüber verblüfft. Dann stahl sich ein Lächeln auf Tomuras Lippen, welches viel zu sanft und rein für diese Situation erschien.
>>Touya? <<
>>Ja? <<
Noch immer musste er sich ein Lachen verkneifen, während er an die skurrile Situation dachte, in welcher Tomura und er sich befanden.
Der Andere nahm ihm seine Belustigung nicht übel. Stattdessen war der Ausdruck in Tomuras roten Augen so mild und rein.
>>Mein echter Name ist Tenko Shimura. <<
Tomura - Nein, Tenko - sprach die Worte so beiläufig aus, dass Touya im ersten Moment bezweifelte, dass er den Anderen richtig verstanden hatte.
Was zur Hölle?
>>Warte, du ... Was? <<
Sein Verblüffen und die dümmliche Verwirrung in seinem Gesicht schienen Tomura - Tenko, was zum Teufel - nur zu amüsieren.
>>Du warst so verdammt ehrlich zu mir. Ich dachte, das mindeste, was ich im Gegenzug tun kann, ist dir meinen echten Namen zu verraten. <<
Er benötigte einen Moment, um dieses Geständnis zu verarbeiten. Die Rädchen in seinem Kopf liefen auf Hochtouren.
>>Tenko ... Shimura? <<, wiederholte er langsam.
Er kostete jede Silbe auf seiner Zunge aus, während er vergeblich versuchte, einen Bezug von diesen zwei fremden Worten zu dem Jungen vor ihm herzustellen. Sein erfolgsloser Versuch sorgte dafür, dass sich ein Schmunzeln auf Tomura-Tenkos Lippen ausbreitete und dieser eine leichte Verbeugung andeutete.
>>Ganz recht. Es tut gut, dich endlich richtig kennenzulernen. Ich habe diesen Namen abgelegt, weil er mich zu sehr an meine Vergangenheit und meine alte Familie erinnert hat. Shigaraki ist der Nachname meines Adoptivvaters und Tomura sein Zweitname. Ich bevorzuge es, unter diesem Namen angesprochen zu werden, aber ... Ich glaube, bei dir würde es mir nicht so viel ausmachen, wieder Tenko zu sein. <<
Einen Moment lang war er sprachlos.
Vermutlich hätte er etwas Sentimentales sagen sollen. Etwas Sanftes und Verständnisvolles.
Touya hatte jedoch glasklar gemacht, dass er nichts von sentimentalen Bekundungen hielt, also sprach er genau die Worte aus, welche ihm auf der Zunge lagen.
>>Sag bloß nicht, dass du dir auch noch die Haare gefärbt hast, weil sie dich zu sehr an deine Vergangenheit erinnert haben? <<
Tomuras Lachen daraufhin war perplex, doch nicht weniger aufrichtig.
>>Du auch? <<
Er konnte nicht anders, als ungläubig den Kopf zu schütteln, während ein eigenes Lachen aus ihm herausbrach.
>>Ja, ich auch. <<
Einen Moment lang starrten sie sich einfach an. Ungläubig und perplex.
Dann brachen sie schließlich zeitgleich in ungefiltertes Gelächter aus.
Es handelte sich um keinen guten Scherz, eher um die bittere Ironie des Schicksals. Dennoch lachten sie solange miteinander, dass Touyas Lunge anfing zu brennen und Tomura sich keuchend die Seite hielt.
>>Sieht so aus, als hättest du Recht. Wir beide sind tatsächlich die perfekten Trauma-Buddys. <<, scherzte Tomura mit vom Lachen rauer Stimme.
Touya sparte sich eine Antwort darauf.
Stattdessen bewahrte er das Lächeln auf seinen Lippen, beschützte es, wie etwas Kostbares. Das war es. Er war dankbar darüber.
Tomura und er lagen hier, in der geborgenen Vertrautheit seines Zimmers, auf seinem Bett und lachten in einer Situation, in welcher die meisten Menschen wohl geweint hätten.
Seine Vergangenheit bot ihm tausend Gründe zu weinen. Er hätte genauso gut schreien und in zornige Tränen ausbrechen können.
Zu lachen war jedoch besser. Also tat er genau das.
- the end -
Fuck, dieses Kapitel ist verdammt lang geworden! Ich hoffe, ihr bringt genug Geduld mit.
Nächsten Monat folgt dann schließlich das finale Kapitel.
I hope, you are ready!
Bis dahin!
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