15. Weiße Räume

Playlist:

- Wonderwall
- Oasis

Melancholie:

"Ein von großer Niedergeschlagenheit und Traurigkeit gekennzeichneter Gemütszustand."

~ by julislifestyle ~

Touya

Touya konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie er in das Krankenhausbett gekommen war.

Der Raum war weiß, dies war ihm als Erstes aufgefallen.

Er war irgendwann aufgewacht, hatte die Augen aufgeschlagen und ... weiß gesehen. Weiße Decke. Weiße Wände. Weißer Boden. Selbst sein Bettzeug war weiß, als er sich nun vorsichtig darin bewegte.

Er befand sich in einem Krankenhaus.

Er hatte ungefähr 5 Sekunden gebraucht, um dies festzustellen. Wenn der deprimierende Mangel an Farben nicht Hinweis genug dafür war, dann wohl das leise rauschende EKG-Gerät neben ihm, welches stetig seinen Herzschlag maß.

Fünf Minuten lang lag er einfach da und starrte auf die Kurve seiner Herzfrequenz, während er sich daran zu erinnern versuchte, wie er hier gelandet war. Es war nicht das erste Mal, dass er in einem Krankenhausbett aufwachte, ohne eine Ahnung davon zu haben, was ihn in diese Lage versetzt hatte.

Touyas physische Konstitution war von Geburt an fragiler gewesen, als die von anderen, "normalen" Menschen. Als dann noch die Schäden seiner Verbrennungen dazu gekommen waren, war es für seinen Körper beinahe unmöglich geworden, normal zu funktionieren. Er war immer genau einen Schritt von einem Kreislaufzusammenbruch oder einer Ohnmacht entfernt.

Wie es schien, hatte ihn diesmal irgend etwas - oder jemand - in genau die passende Richtung geschubst ...

Sein Körper erfüllte einige der altbekannten Kriterien. Blackout, taube Glieder und diese gottverdammten, elendigen Kopfschmerzen. Andere Symptome waren dagegen neu. Er konnte sich nicht daran erinnern, woher das breite Wundpflaster auf seiner Stirn oder der Verband um seinen Hals stammte.

Er wusste nur, dass sich seine Kehle verdammt rau und geschunden anfühlte. Jeder Atemzug entzündete ein kleines Feuer in seinem Rachen. Es fühlte sich so an wie die schlimmsten Halsschmerzen, welche er jemals in seinem Leben gehabt hatte. So als hätte ihn jemand mit groben Händen gepackt und gewürgt.

Gewürgt ...

Das Wort löste ein kurzes Aufflackern seiner Erinnerung aus. Ein verschwommenes Bild vor seinem Inneren Auge. Er versuchte, sich zu fokussieren, die Erinnerung zu greifen, doch sie verblasste wie Rauch zwischen seinen Fingern.

Verdammt, er war im Moment zu müde, um klar zu denken!

Mit einem leisen Stöhnen ließ er sich zurück in die weißen Kissen sinken, die sofort bereitwillig unter ihm nachgaben.

>>Guten Morgen, mein Schatz. Du hast ganz schön lange geschlafen.<<

Er zuckte zusammen, als die leise Stimme ihn vollkommen unvermittelt aus seinen Gedanken riss. In Sekundenschnelle wirbelte sein Kopf herum, sodass er erst jetzt die schmale Gestalt bemerkte, welche ruhig auf dem Fensterbrett, einige Meter von ihm entfernt, saß.

>>Keine Sorge, es bin nur ich.<<

Er blinzelte und starrte.

Er schob es auf seine Kopfschmerzen, dass er so unwahrscheinlich lange dafür brauchte, um zu erkennen, wer dort neben ihm saß. Erst allmählich gewannen die glatten, weißen Haare, die ovale Gesichtsform und die aufmerksamen, grauen Augen ihre Vertrautheit zurück.

Seine Mutter saß völlig ruhig auf der gepolsterten Fensterbank, wodurch er sie erst so spät bemerkt hatte. Ihre Füße baumelten entspannt über dem weißen, glatt polierten Boden, während sie ihre Hände in den Taschen ihres dunkelblauen Blazers versteckt hatte.

Ihr Blazer ...

Sie trug im Alltag nie solche formelle Kleidung.

Sie sagte, damit würde sie "Wie eines dieser frommen und züchtigen, japanischen Weiber aussehen, die sich auf der Straße vor jedem vorbeilaufenden Mann verneigten". Diesen Blazer trug sie ausschließlich für bedeutende Termine auf Arbeit.

Oh Fuck ...

War er etwa zum zweiten Mal innerhalb dieser Woche in Ohnmacht gefallen, sodass seine Mutter von Arbeit aus mit den schlimmsten Befürchtungen zu ihm eilen musste? Sicherlich hatte ein Mitglied des Krankenhauspersonals Rei kontaktiert und ihr mitgeteilt, dass es Touya gut ging.

...

Ihm ging es gut, nicht wahr?

Er schluckte und starrte seine Mutter an, welche seinen Blick schweigend erwiderte. Ihre grauen Augen waren warm und sanft, doch beobachteten ganz genau jede von Touyas Bewegungen. Ihr Gesicht war mild und freundlich - typisch Rei Todoroki - doch irgend etwas stimmte nicht. Da lag ein Ausdruck, eine Emotion, in ihrem Gesicht, welche nicht zu alldem passte.

Irgend etwas Bedauerndes. Etwas Schmerzerfülltes und zu tiefst Trauriges.

Er konnte nicht genau benennen, was es war, doch es passte nicht in das Gesicht seiner Mutter.

Er öffnete den Mund und versuchte, ihr zu antworten, doch augenblicklich spürte er das Protestieren seiner Kehle, wodurch nur ein undeffinierbares Krächzen über seine Lippen drang.

>>Shh, schon gut. Geh es erst einmal ruhig an. Die Ärzte haben erwähnt, dass dir Sprechen noch für eine Zeit lang Probleme bereiten wird. Deine Kehle wurde ganz schön gequetscht.<<, erwiderte seine Mutter sofort.

Ihr Ton war entschuldigend, doch da war erneut diese deplatzierte Emotion, welche er nicht zuordnen konnte.

Langsam und anmutig ließ sie sich von der Fensterbank gleiten und lief dann mit vorsichtigen Schritten auf ihn zu. Fast so, als hätte sie Angst davor, ihn zu verschrecken.

"Deine Kehle wurde ganz schön gequetscht ... "

Erneut lösten diese Worte ein Aufflackern seiner Erinnerung aus.

Grobe Hände, welche sich fest um seinen Hals schlangen und zudrückten.

Ein Spiegel, gegen den er geradewegs mit der Stirn prallte.

Danach wurde alles verschwommen. Nachdenklich rieb er sich über den Verband an seinem Hals, bevor er vorsichtig von der Seite aus angestubst wurde. Er blinzelte und blickte zu seiner Mutter, welche ihm ein Glas Wasser hinhielt.

>>Hier bitte. Du solltest viel trinken, Spatz. Das dürfte dir zumindest ein bisschen helfen.<<

Er schluckte und starrte seine Mutter an.

Ihre Stimme, der Ausdruck in ihren grauen Augen ... Das alles war von einer unfassbaren Trauer erfüllt. Er war sich sicher, dass sie sich Mühe gab, diese ungewollten Emotionen zu überspielen, doch er kannte sie viel zu gut für Schauspielerei.

Sie war traurig. Nicht nur traurig, sondern richtig niedergeschlagen.

>>Da - Danke ... <<, presste er stotternd hervor, bevor er seine Hand nach dem Wasserglas ausstreckte.

Behutsam nahm er einen Schluck davon, während er nachdenklich den Ausdruck auf Reis Gesicht betrachtete. Das Bedauern darin, als sie sah, wie schwer es Touya fiel, das Wasser herunterzuschlucken.

Keine Frage, sie machte sich Sorgen um ihren Sohn, doch sie war noch niemals zuvor ... So gewesen.

Dies war nicht das erste Mal, dass er in einem Krankenhausbett aufwachte und sie neben ihm saß. Sie beide hatten diese Situation schon unzählige Male durchlebt. Zu oft, um noch mitzuzählen.

Davor hatte sie ihn nie so angesehen. Sie hatte dumme Scherze gemacht und versucht, ihren Optimismus auf Touya zu übertragen, egal wie schlecht es ihm ging.

Sie war noch nie zuvor so ... anders gewesen.

Der dunkelblaue Blazer. Die resignierte Art, mit der sie neben ihm stand. Der melancholische Ausdruck in ihrem Gesicht. Das alles war so ... falsch. So deplatztiert.

Rei Todoroki verhielt sich nicht so. Sie zeigte sich ihren Kindern gegenüber niemals so ... niedergeschlagen.

Er hustete, als er ihr das Glas zurückreichte und versuchte, die richtigen Worte für diese Situation zu finden.

>>Ist ... Ist etwas S - Schlimmes passiert?<<

Etwas Schlimmes.

Kein Kreislaufzusammenbruch oder eine Ohnmacht. Etwas, das diesen Ausdruck auf dem Gesicht seiner Mutter begründen würde.

Für eine Sekunde sah er etwas über ihr Gesicht huschen. Wortlos starrte sie ihn an. Ihre Unterlippe begann zu zittern, während ihre Augen groß und rund vor Trauer und schwer verstecktem Schmerz wurden.

Augenblicklich spürte Touya, wie sich jeder einzelne Muskel in seinem Körper anspannte. Seine Gedanken wirbelten wie ein Sturm durch seinen Kopf, als er Rei Todoroki in diesem Zustand betrachtete.

Seine Mutter war die stärkste Frau, die er kannte. Sie hatte mit dem Teufel in einem Bett geschlafen und war jeden Tag durch die Hölle gegangen. Ihre Seele war nicht weniger gebrochen als Touyas und doch hatte sie immer einen Funken Mut und Stärke in sich behalten. Es brauchte schon eine ganze Menge, um sie in ein derart emotionales Wrack zu verwandeln.

War das seine Schuld?

Seine Erinnerungen bestanden immer nur noch aus verschwommenen Bildern und kurzen Aufblitzen von Informationen. Nichts, was ihn wirklich weiter brachte.

Das Einzige, an das er sich glasklar erinnerte, war der Schmerz, welcher ihn erfasst hatte. Der Schmerz und die Panik. Ein Terrorgefühl, bis tief in seine Knochen hinein, welches er in diesem Ausmaß bisher nur eine handvoll Mal erlebt hatte.

Nur in den schlimmsten Momenten.

Egal, was passiert war, es musste so schlimm gewesen sein, um Touya in dieses Krankenhausbett zu manövrieren und seine sonst so starke Mutter in ein emotionales Wrack zu verwandeln ...

>>Mama ... ?<<, fragte er vorsichtig nach.

Er versuchte, seine Stimme genau so weich und sanft zu halten, wie wenn er mit einem verängstigten Shoto oder einer frustrierten Fuyumi sprach. Touyas Körper wäre jedoch nicht Touyas Körper gewesen, wenn er ihn nicht sogar in einer solchen Situation hintergangen hätte.

Stattdessen erklang seine Stimme als ein erbärmliches, raues Krächzen, welches in seiner geschundenen Kehle brannte wie ein offenes Feuer. Sofort zuckte der verschleierte Blick seiner Mutter zu ihm. Die Trauer darin schwoll an, wie eine schäumende Welle und schwappte schließlich in Form einer heißen Träne über.

Ein ersticktes Schluchzen brach aus Rei heraus, welches ihre gesamte Gestalt durchschüttelte. Ihre Knie knickten ein Stück ein und ihre Hände bedeckten instinktiv ihr Gesicht.

>>Tut mir Leid. Tut mir Leid, mein Schatz. Eigentlich wollte ich mich dir nicht so präsentieren. Bitte ignorier das einfach ... <<

Ihre Stimme zitterte und er beobachtete, wie sie sich auf die Lippe biss, um das Schluchzen zu stoppen.

Ignorieren ...

Er konnte das hier nicht ignorieren.

>>Wieso ... wieso weinst ... du?<<, krächzte er mühevoll.

Er verfluchte seinen verdammten Körper dafür, dass ihm gerade jetzt die Stimme wegblieb, wenn seine Mutter die beruhigenden Worte am meisten brauchte.

Ihre Schultern zitterten, während sie heftig den Kopf schüttelte. Ihre wackligen Hände rutschten von ihrem Gesicht. Anhand ihres gequälten Ausdrucks, erkannte er ganz genau, wie viel Anstrengung es sie kostete, keine weitere Träne zu vergießen.

>>Das ist jetzt nicht so wichtig, Touya. Wirklich nicht. Ich bin nicht diejenige von uns, die in einem Krankenbett liegt. Viel wichtiger ist jetzt erst einmal, wie es dir geht.<<

Er rümpfte die Nase. Es kostete Rei viel zu viel Kraft, die Worte möglichst gelassen herauszubringen, sodass es glasklar war, dass diese Situation ganz und gar nicht "egal" war.

>>Aber - <<

>>Touya - Shhh! Lass uns ein anderes Mal darüber reden. Du solltest dich jetzt erst einmal ausruhen.<<

>>Ich w-will doch ... nur wissen ... was passiert ist.<<

>>Das ist im Moment unrelevant. Du liegst im Krankenhaus und wurdest an ein EKG angeschlossen, Spatz. Jetzt gerade ist völlig egal, was passiert ist. Viel wichtiger ist, dass es dir gut geht.<<

Er setzte zum Protest an, doch der Ausdruck in Rei Todorokis Gesicht war stoisch. Zumindest war diese Strenge besser, als die Trauer und Melancholie. Sie wirkte noch immer niedergeschlagen und das feuchte Glitzern in ihren Augen war noch nicht ganz verschwunden, doch wenigstens ein Teil ihres Temperaments war zurückgekehrt.

Er sah das als Sieg an.

Mit einem Schnaufen ließ er sich zurück in die Kissen fallen. Ein schiefes Grinsen stahl sich auf seine Lippen, als er versuchte, die Situation wieder positiver zu stimmen.

>>Schön. Erklärst d-du ... mir wenigstens, war - warum man mich ... an dieses verdammte ... EKG angeschlossen ... hat?<<, beschwerte er sich.

Die Elektroden an seinem Arm störten ihn zwar nicht so sehr, wie er es darstellte - dafür hatte er sich schon zu oft in seinem Leben in so einer Lage befunden - doch das leichte Schmunzeln seiner Mutter war den Protest wert.

>>Ich fand es auch ein bisschen übertrieben. Dein Herz hat nicht mal Probleme gemacht, aber die Ärzte haben darauf bestanden. Ich zitiere: "In einem solchen Schockzustand ist es gut möglich, dass elementare Körperfunktionen zeitweise aussetzten. Wir sollten nichts riskieren." Schön und gut. Für mich hat es sich aber eher so angefühlt, als hätten sie dich am liebsten gleich in die Intensivstation verfrachtet, nachdem sie sich deine medizinische Vorgeschichte durchgelesen haben. Sowas macht mich wütend.<<

Er hörte die Empörung aus ihrer Stimme heraus und sah eine kleine Flamme in ihren Augen aufblitzen.

Er kannte diese Wut.

Die Todorokis waren keine normale Familie, das war in ganz Musutafu bekannt. Eine alleinerziehende Mutter, deren Ehemann im Gefängnis saß. Ein traumatisierter Sohn mit mehr Narben, als gesunder Haut auf dem Körper. Dazu drei kleine Kinder, welche die Sache nicht gerade einfacher machten.

Die Leute behandelten ihre Familie nicht wie alle anderen Menschen auch.

Sie waren überall die "speziellen" Personen. Die Außenseiter. Die Freaks.

Touya hatte sich schon lange daran gewöhnt. Der Todoroki Stempel ragte so fett auf seiner Stirn auf, dass niemand ihn übersehen konnte.

Seine Mutter nahm den Spott und die Verachtung jedoch nicht so leicht hin. Sie kämpfte solange weiter, bis schließlich auch der letzte Depp verstanden hatte, dass auch ein Todoroki "ganz normal" behandelt werden wollte. Er war sich nicht sicher, ob er ihre Stärke und Ausdauer bewundern oder sich fragen sollte, wie sie so viel Kraft in etwas scheinbar so aussichtsloses stecken konnte ...

>>Mich w-wundert es ... eher, dass ... sie meine medizinische Sit - Situation nicht schon auswendig kennen.<<

Seine Aussage war bittersüß. Er wusste selbst nicht, ob er darüber lachen oder weinen sollte ...

Seine Mutter schnaltzte nur geräuschsvoll mit der Zunge und schüttelte den Kopf. Einen Moment später ließ sie sich auf das weiße Krankenbett sinken. Die Wut in ihren Augen verblasste sofort, als sie Touyas Blick begegnete und wurde von einem sanften, wehmütigen Schimmer abgelöst.

Behutsam tastete ihre Hand nach Touyas und hielt sie in einem warmen, sicheren Griff. Ihre Finger strichen zärtlich über seine Haut und verweilten kurz auf der Stelle, wo sein Puls einen stetigen Takt schlug.

>>Wie geht es dir jetzt, mein Spatz? Man hat dich ganz schön lange nicht wachgekriegt.<<

Ihre Stimme war ein leises Flüstern voller schwerer Emotionen. Er schluckte und versuchte, die Situation zu analysieren. Aus ihrem Verhalten schlau zu werden.

Wenn er ehrlich zu sich selbst sein wollte, dann fühlte er sich so, als hätte der Teufel mit ihm Tango getanzt.

Was im Übrigen nicht sein konnte. Aus dieser toxischen Beziehung hatte er sich bereits vor fünf Jahren befreit ...

Für seine Verhältnisse bedeutete das jedoch nicht viel. In Touya-Sprache war ein: "Ich fühle mich so, als hätte mich ein Truck überfahren" fast dasselbe wie ein: "Ging mir schon besser".

Er könnte lügen und sagen, dass es ihm prächtig ging. Nur, dass diese Variante ihm nicht mal für fünf Sekunden geholfen hätte. Eigentlich hatte er keine andere Wahl, als seiner Mutter die Wahrheit zu sagen, auch wenn dies das Letzte war, was er eigentlich wollte. Die Wahrheit würde bedeuten, dass ihre Augen erneut mit Tränen anschwellen und sie sich wieder in ein emotionales Wrack verwandeln würde.

Fuck, wieso konnte ihn sein verdammtes Leben nicht zumindest in Ruhe lassen, wenn er in einem gottverdammten Krankenbett lag?

>>Erschöpft ... Mei - Mein Hals t-tut weh und ... Kopfschmerzen ... Aber hauptsächlich müde ... <<

Seine Mutter seufzte. Ein leiser, wehmütiger Laut, welchen Touya eigentlich vermeiden wollte. Ihr warmer Griff zitterte leicht, bevor sie seine Hand behutsam nach oben zog und ihre Stirn auf seinem Handrücken ablegte.

So, als würde sie sich vor ihm verneigen ...

>>Das dachte ich mir schon. Es tut mir Leid, dass es dir schlecht geht, Touya. Ich wünschte, ich könnte etwas dagegen tun. Dir geht es so oft so unfassbar schlecht und ich kann jedes Mal nur daneben sitzen. Das tut mir Leid.<<

Ihre Stimme wackelte, während eine frische Träne ihre Wange entlang rann, über seinen Handrücken lief und schließlich auf dem weißen Bettlaken landete. Touya fühlte, wie er innerlich zusammenkrampfte und sich ein unangenehmer, bitterer Geschmack in seiner Kehle ausbreitete.

Er war oft genug für seine Geschwister da, wenn sie krank im Bett lagen und es ihnen schlecht ging. Er wusste, wie es war, daneben zu sitzen und nicht viel tun zu können, um zu helfen. Das Gefühl der Schuld und Nutzlosigkeit, welches damit einherging. Er war es gewohnt, der große und beschützende Bruder zu sein, der sich selbst für seine Geschwister aufopferte. Dies war die Rolle, welche ihm das Leben gegeben hatte.

Dass die Positionen nun genau umgekehrt waren, fühlte sich ... irgendwie unnatürlich an.

Es machte ihn seltsam nervös und beschämt, diesmal derjenige zu sein, der gewissenhaft umsorgt wurde. Es ging ihm schlecht, ja, aber ... Er wollte nicht, dass man ihn bedauerte. Touya hatte sich oft genug in seinem Leben wie eine ungeliebte Reserve gefühlt, die zu schwach war, um für irgend etwas nützlich zu sein. Seine Schwäche hatte schon immer alles Gute in seinem Leben zerstört.

Seine Vergangenheit, sein Traumata, seine Narben ... Das alles waren Gründe, um ihn zu bedauern, doch das Mitleid seiner Mitmenschen hatte sich für ihn nie willkommen angefühlt. Für ihn war es wie Spott, dem man ihm mitten ins Gesicht schläuderte.

Ich bin nicht schwach ...

>>Mama ... hör auf! Du ... du tust g-genug. Es geht mir gut ... <<

Seine Kehle brannte mit jedem Wort, doch er musste ihr irgendwie klarmachen, dass er kein Mitleid brauchte!

"Nur Schwächlinge bekommen Mitleid, Touya! Hör auf, so zu tun, als würde es dir schlecht gehen, nur um Papas Aufmerksamkeit zu bekommen!"

>>Ganz genau das ist das Problem! Dir geht es nicht gut, Touya. Nicht nur heute ... Es ... Es geht dir schon so lange schlecht und ich ... Ich habe gemerkt, dass du dich anders verhältst, aber du hast nie etwas gesagt und ich wusste nicht ... Es tut mir so Leid, mein Schatz. Bitte verzeih mir! Ich hab nicht gesehen, wie schlecht es dir wirklich geht ... <<

Das hier war ... nicht die Reaktion, welche er sich erhofft oder mit welcher er gerechnet hatte.

Seine Mutter hielt seine Hand noch immer in einem zittrigen Griff gegen ihre Stirn gepresst. Heiße Tränen quollen nun unaufhörlich über ihre Wangen und sammelten sich auf Touyas Handrücken.

Er war vollkommen erstarrt. Er hatte seine Mutter noch nie zuvor - noch nie - so erlebt. Egal, was er nun sagen oder tun würde, würde es nur noch verschlimmern.

Er blieb also stumm und ... wartete ab.

In diesem Moment fühlte er sich mindestens genau so schuldbewusst und erbärmlich, wie Rei! Er wusste nicht einmal genau, wovon sie sprach. Sie konnte unmöglich so sehr die Fassung verloren haben, wegen eines ... eines ... Was genau eigentlich?

Er wusste immer noch nicht, was ihn in dieses Krankenhausbett gebracht hatte. Jedes Mal, wenn er versuchte, sich daran zu erinnern, verschwammen die Bilder vor seinem inneren Auge und ließen ihn völlig ahnungslos zurück.

>>Touya ... <<

Ihre leise, bebende Stimme erweckte sofort seine Aufmerksamkeit. Er blickte auf und begegnete ihren schmerzerfüllten, traurigen Augen, welche direkt auf ihn gerichtet waren.

>>Du weißt, dass nichts davon verändert, wer du bist, nicht wahr? Wer du für mich bist. Du musst keine Angst davor haben, mit mir über deine Gefühle und Probleme zu sprechen. Das weißt du, oder? Du bist mein Kind. Ich liebe dich über alles. Nichts und Niemand könnte das jemals ändern. Egal, was passiert.<<

>>Mama ... Es ist nicht - <<

>>Nein. Bitte widersprich mir nicht, Touya. Ich weiß, dass du sagen willst, dass es nicht so schlimm ist. Dass es dir gut geht, aber das ist nicht wahr. Wir beide wissen, dass das nicht wahr ist. Du bist keine Last für mich oder schwach, nur weil du Probleme hast, mit denen du nicht allein fertig wirst. Du musst nicht immer allein mit allem fertig werden, Touya. Ich bin hier. Ich kann dir helfen. Ich möchte dir helfen. Du musst mich nur lassen. Du musst dich nicht dafür schämen, Hilfe anzunehmen. Ich möchte nicht, dass du dich dafür schämst, Touya.<<

Ihre Hände hielten nun sein Gesicht auf beiden Seiten seiner Wangen fest, sodass er keine andere Wahl hatte, als direkt in ihre feuchten, grauen Augen zu blicken. Er schluckte und spürte ein Brennen in seiner Kehle, welches nicht von seiner gequetschten Luftröhre stammte.

Ihre Worte trafen etwas in ihm.

Etwas, das er lange verborgen gehalten hatte.

Seine eigenen Hände zitterten an seiner Seite und er wusste, würde er sie noch länger ansehen, würde er ebenfalls anfangen, zu weinen. Mit einem zittrigen Atemzug schloss er die Augen und versuchte, stark zu bleiben.

Ich bin nicht schwach. Bitte hör auf, mich zu bedauern. Ich bin nicht ... kaputt ...

>>Ich liebe dich, Touya. Ich liebe dich über alles. Du bist das Kostbarste auf dieser Welt für mich. Nichts und Niemand kann das ändern. Hast du mich verstanden? Ich liebe dich immer. Egal, was passiert.<<

Er schloss seine Augen und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie tief ihn diese Worte trafen. Wie sehr er sich danach gesehnt hatte, diese Worte zu hören. Stattdessen nahm er einen zittrigen Atemzug und versuchte, seine pulsierenden Emotionen herunterzuschlucken.

Es war schwer. Es war verdammt schwer.

Erst recht, als seine Mutter ihre warme Wange auf seinem Kopf ablegte. Ihre Hände strichen beruhigend seinen Rücken hoch und herunter, während sie sanfte Worte in sein Ohr flüsterte.

>>Keine Sorge, mein Schatz. Es wird alles gut. Es wird alles gut, das verspreche ich dir!<<

Er wusste noch immer nicht genau, wovon sie sprach, doch in diesem Moment hätte es ihm auch nicht egaler sein können.

Die Stimme seiner Mutter war leise und sanft, als sie beruhigend auf ihn einredete. Ihre Hände, welche behutsam seinen Rücken hinauf und hinunter strichen, fühlten sich wie ein Schutzwall an, welcher ihn vor all dem Schmerz und den Ungerechtigkeiten dort draußen abschirmte.

Es fühlte sich nach Liebe an.

Vor dieser Tür hätte jetzt gerade die Welt untergehen können und es wäre ihm egal gewesen. Hauptsache seine Mutter würde ihn weiterhin in ihren liebenden Armen halten.

>>Wie ... wie spät i-ist ... es?<<, fragte er schließlich mit rauer Stimme.

Ein Moment war vergangen, vielleicht auch eine halbe Ewigkeit - wer konnte das schon so genau sagen? Sein Blick wanderte aus dem breiten Krankenhausfenster und fing die Sonnenstrahlen ein, welche sich auf der Glasoberfläche spiegelten.

Wie lange war er nun schon hier?

Seine Mutter hatte erwähnt, dass man ihn für eine geraume Zeitspanne nicht wach gekriegt hatte. Hatte sie all die Stunden lang hier an seiner Seite gesessen und darauf gewartet, dass er aufwachen würde?

Sie folgte seinem Blick und für einen stillen Moment lang starrten sie beide ratlos nach draußen.

>>Es müsste jetzt kurz vor um drei sein. Zumindest war es vorhin halb gewesen, als ich Fuyumi und Natsuo angerufen habe, damit sie sich keine Sorgen machen.<<

Ein mildes Lächeln lag auf den Lippen seiner Mutter, doch er erkannte die Erschöpfung dahinter. Sie gab ihr Bestes, um es zu verbergen, doch all die turbulenten Gefühle und der Stress des heutigen Tages hatten sie mehr mitgenommen, als sie preisgab.

>>Okay ... Was ist mit S-Shoto? Ich hole ihn ... normalerweise i-immer ... um die Zeit aus dem ... Kindergarten ... <<, stotterte er.

>>Du musst mich nicht wegschicken, nur weil dein Bruder ein verwöhntes Nesthäkchen ist, was nicht länger warten kann. Ich bleibe hier, solange du mich da haben möchtest.<<

Das Angebot seiner Mutter war großzügig und ehrlich.

Es gab eine Menge Dinge, über die Touya in Ruhe nachdenken musste. Gleichzeitig fühlten sich Reis Arme so unglaublich warm und liebend an.

Er öffnete den Mund, um ihr zu antworten, als ein unerwartetes Klopfen die Stille durchschnitt. Eilig drehte er den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch erklungen war. Instinktiv löste er sich dabei aus der Berührung seiner Mutter, so als wäre es etwas Verbotenes, dass sie ihn umarmte.

Es war keine Sekunde später, als sich auch schon die Tür öffnete und sie von einem verdutzten Paar roter Augen angestarrt wurden. Besser gesagt, ein verdutztes, rotes Auge. Das Zweite war in eine dicke Schicht Verbandsmull eingepackt.

Warte ... Was zum Teufel ging denn hier ab?

>>Oh, sorry! Ich wollte nicht euren glücklichen Moment zerstören! Ich kann auch gerne später noch einmal vorbei schauen ... <<

Touyas Zunge lag vor Erstaunen schwer in seinem Mund. Selbst ohne das Brennen in seinem Rachen war er sich sicher, dass er in diesem Moment nicht dazu fähig gewesen wäre, einen anständigen Satz herauszubringen.

Seine Mutter beugte sich schmunzelnd näher zu ihm heran und flüsterte ihm schelmisch zu.

>>Sieh an. Anscheinend hast du auch ohne meine Anwesenheit beste Gesellschaft.<<

Touya war im Moment zu verdattert, um ihr zu antworten. Stattdessen starrte er völlig ratlos die Person an der Tür an, welche nach der andauernden Stille unbehaglich von einem Fuß auf den anderen trat. Die zerzausten, weißen Haare und die blutroten Augen, von denen diesmal nur eines zu erkennen war, waren in ganz Musutafu unverkennbar.

>>Tomura?<<

Perplex begegnete er dem einäugigen Blick des Jungen, welcher sich unsicher im Nacken kratzte.

>>Ist es gerade ungünstig, oder ... ?<<

Bevor Touya auch nur zu einer Antwort ansetzten konnte, kam ihm seine Mutter zuvor.

>>Nein. Tatsächlich kommst du gerade sogar sehr gelegen. Ich muss noch unseren Kleinsten aus der Kita abholen und Touya könnte ein wenig Gesellschaft gut vertragen. Der Dickkopf ist nur zu stur, um das zuzugeben.<<

Er sah Tomuras Grinsen auf die Provokation seiner Mutter und zog empört eine Augenbraue hoch.

Tomura war sein ... Kumpel, Freund, beinahe Lover ... Was auch immer!

Egal, ob sie sich gestritten hatten oder nicht, der Junge sollte auf seiner Seite sein und nicht auf der seiner Mutter!Auch Rei konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, während sie Tomura einmal geheimnistuerisch zuzwinkerte.

Was zum Teufel?

Bevor er weitere seiner Gehirnzellen an diese absurde Situation verschwenden konnte, berührten ihn zwei warme Handflächen an den Wangen und zogen sein Gesicht zur Seite, sodass er seine Mutter direkt anblickte.

>>Also dann, ruf mich an, wenn du etwas brauchst. Dabei ist es mir völlig egal, ob Besuchszeiten sind oder nicht. Ich bin deine Mutter, also habe ich auch verflixt nochmal das Recht dazu, meinen Sohn im Krankenhaus zu besuchen. Die Ärzte wollen dich zur Kontrolle einen Tag hier behalten. Wenn nichts passiert, hole ich dich morgen früh ab, okay?<<

>> ... Okay?<<

Seine Antwort war mehr eine Frage, während sein zögerlicher Blick erneut zu Tomura driftete. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte er das milde Lächeln seiner Mutter, bevor sich ihr Kopf zu Touyas Gesicht herab senkte und sie einen flüchtigen Kuss auf seiner Stirn ablegte. Der kratzige Verband schien sie dabei kein Stück zu stören.

>>Ich hab dich lieb, Spatz.<<

Er lief rot an, als er sah, wie Tomura sie beide verlegen beobachtete, doch murmelte ein paar leise Worte zurück.

>>Hab dich ... auch l-lieb ... <<

Rei betrachtete ihn voller Wärme, während sie ihm zum Abschied durch sein Bettzerzaustes Haar wuschelte. Dann erhob sie sich von seinem Bett, schnappte sich ihre Tasche und marschierte in Richtung des Ausgangs. Tomura machte ihr Platz, um sie durchzulassen.

Stattdessen blieb sie kurz vor dem Jungen stehen und bedachte ihn mit solch Ernsthaftigkeit in ihrem Blick, dass Touya am liebsten aufgesprungen wäre, um ihr Gespräch mitanzuhören. Er verstand die leisen und ernsten Worte nicht, welche die beiden wechselten, doch er sah, wie Tomuras Haltung automatisch gerader und strammer wurde. Der Andere nickte, während seine Mutter diesen voller untypischer Strenge musterte.

Nach einem Moment beobachtete er, wie Reis Schultern durch ein Seufzen herabsanken und sie den Raum endgültig verließ.

Das Quietschen der sich schließenden Türangeln hallte viel zu laut in der Stille nach. Dann waren es schließlich nur noch Tomura und er. Der Junge blickte zögerlich in seine Richtung, doch blieb genau dort stehen, wo er sich befand. Anscheinend war dieser sich unsicher darüber, ob Touya ihn tatsächlich hier haben wollte oder nicht.

Wenn er ehrlich war, dann wusste er es selbst nicht so genau. Einerseits gab es da ihren Streit, welcher noch nicht einmal eine Woche zurück lag. Er hatte Tomura noch immer nicht dafür vergeben, dass er sich das Recht dazu genommen hatte, Touyas Geheimnisse und die Dämonen aus seiner Vergangenheit zu offenbaren, ohne ihn vorher um Erlaubnis zu fragen.

Zumal es nicht die gesamte Wahrheit war, welche Tomura kannte ...

Andererseits wusste er, dass er heute Morgen auf dem Weg zur Schule gewesen war. Bei allem, was danach kam, verblassten seine Erinnerungen wie Rauch zwischen seinen Fingern und Tomura sah so aus, als hätte dieser ein paar Antworten für ihn.

Tja, es schien ganz so, als wäre er nicht das Arschloch, welches den Anderen schon wieder in dieser Woche ohne eine Erklärung wegschicken würde ...

Seufzend blickte er zur Seite und deutete auf den unbequemen Metallstuhl neben seinem Bett.

>>Komm schon ... her. Oder w-willst du ... noch ewig dort stehen bleiben?<<

Ein Ruck fuhr durch Tomuras Körper, als dieser sich schließlich auf ihn zu bewegte. Der Junge sagte nichts, doch Touya erkannte die Erleichterung in dessen Gesicht.

Er betrachtete sein Gegenüber etwas genauer, als dieser sich schließlich auf dem Stuhl neben ihm niederließ. Das Erste, was ihm auffiel, war die dicke Schicht aus Verbandsmull, welche dessen linkes Auge vollständig bedeckte. Der Wangenknochen darunter wirkte schmerzhaft geschwollen, während dessen Haut um den Verband herum einen bläulich-violetten Schimmer angenommen hatte. Tomuras Lippen waren aufgeplatzt und mit einer feinen Schicht aus altem Blut verkrustet, so als hätte dieser immer wieder nervös darauf gebissen.

Insgesamt wirkte der Andere verdammt blass und mitgenommen. Von was auch immer ...

>>Du siehst scheiße aus.<<, merkte er mit rauer Stimme an.

Seine trockene Aussage brachte Tomura zum Lachen, bevor dieser sich erschöpft über die gesunde Hälfte seines Gesichts fuhr.

>>Touché. Kuro ist vor Sorge fast aus der Haut gefahren, als er mich gesehen hat. Du wirkst aber auch nicht viel besser. Mann, die haben dich an ein EKG angeschlossen!<<

>>Nicht mein ... erstes Mal.<<, erwiderte er achtlos.

Womit er nicht gerechnet hatte, war das Mitleid, welches sich nach dieser Aussage auf Tomuras Gesicht stahl.

Das Mitleid, welches er heute bereits gesammelt hatte, reichte für eine gesamte Lebzeit aus, weshalb er sofort das Thema wechselte.

>>Was machst du ... hier?<<

Tomura blinzelte irritiert, während dieser kurz zu überlegen schien, ob Touya ihn tatsächlich hier haben wollte.

>>Naja, dich besuchen, schätze ich. Es hat echt verdammt lange gedauert, bis ich dein Zimmer gefunden habe. Erst wollten die Ärzte es mir nicht sagen, aus Datenschutzgründen und so 'nem Scheiß und selbst als ich es dann wusste, hatte ich das Problem, dass alle Gänge in diesem Gebäude gleich aussehen.<<

Tomura hatte ihn gesucht? Um ihn zu besuchen? Damit Touya nicht allein war?

Gegen seinen Willen löste dieses Wissen ein warmes Gefühl in seinem Bauch aus.

Verdammt. Wenn er geglaubt hatte, diese Gefühle hinter sich gelassen zu haben, dann hatte er sich schwer geirrt ...

>>In diesem ... Krank - Krankenhaus, meine ... ich.<<

>>Oh. Dasselbe wie du. Wir sind beide die Idioten mit der Gehirnerschütterung, die darauf warten müssen, dass unsere Eltern uns wieder abholen dürfen.<<

Gehirnerschütterung.

Im ersten Moment klang das nicht halb so schlimm, wie die Gedanken, welche ihm gekommen waren, als seine Mutter vor ihm angefangen hatte, zu weinen. Sein Hals war eher das von seinen Symptomen, welches ihn skeptisch machte.

Wie hatte er sich eine Gehirnerschütterung geholt und hatte gleichzeitig seine Luftröhre gequetscht?

>>Was ist ... passiert?<<

Aus irgendeinem Grund brachte die Frage Tomura zum Lachen. Ein ironisches und bitteres Lachen, gepaart mit dem abwertenden Ausdruck in dessen Gesicht.

>>Muscular hat mir eine reingehauen. Ich bin mit dem Kopf gegen das Waschbecken geknallt und bewusstlos geworden. Dadurch die Gehirnerschütterung.<<

Warte ... Muscular hatte was?!

Diesmal waren es Touyas Augen, welche groß und rund vor Entsetzen wurden. Er hatte noch niemals erlebt, dass Muscular die Hand gegen seine eigenen Leute erhoben hatte!

Der Tyrann war unberechenbar, doch das ... das musste selbst für ein Monster wie Muscular zu weit gehen!

Es musste einen Grund für diese Aktion geben. Das musste es.

Muscular konnte doch nicht so gewissenslos sein, dass er ...

Irgend etwas pochte in seinem Schädel, als er an den Muskelberg dachte. Wie ein Gedanke, welcher in den Tiefen seines Verstandes feststeckte und herauswollte. Er versuchte, sich zu fokussieren, doch erneut verblassten die Erinnerungen wie Rauch zwischen seinen Fingern.

Das einzige, das blieb, waren die Bilder von groben Händen, welche sich um seine Kehle schlangen und zudrückten. Ein ... Ein Spiegel, gegen den er geradewegs mit der Stirn prallte.

Hatte Muscular das getan?

Das konnte nicht sein. Muscular war bisher immer vorsichtig gewesen. Er hatte nie offensichtliche Körperregionen attackiert.

Andererseits ...

>>Hey. Ist alles in Ordnung?<<

Eine vorsichtige Hand auf seiner Schulter riss ihn aus seiner Misere. Tomura war ihm ein Stück näher gekommen, während Touya nachgedacht hatte. Sorge zeichnete hässliche Furchen in dessen Gesicht.

Stöhnend rieb sich Touya über die Stirn und spürte dabei den Stoff des Verbandes unter seinen Fingern.

Was zur Hölle war nur passiert?

>>Ich hab nur ... Kopfschmerzen. Wieso ... wieso hat Muscular ... dir eine reingehauen? Hat ... Hat er das vor - vorher ... schon mal gemacht?<<

Tomura betrachtete ihn besorgt, während Touya mühsam die Worte herausbrachte. Nach seiner Frage breitete sich eine schwere, unbehagliche Stille in dem Raum aus.

Tomura betrachtete ihn eine ganze Weile einfach nur. Der Junge wirkte erst vollkommen perplex, bevor allmählich die Skepsis und Irritation auf dessen Gesicht erschienen. Nachdenklich schoben sich dessen helle Brauen zusammen, während der Andere die Hand hob, um sich im Nacken zu kratzen.

>>Naja, weil ... <<

Tomura stockte und schien nach den richtigen Worten zu suchen.

Dann wanderte der Blick von dessen unverletztem, roten Auge zu Touya und bohrte sich so intensiv in den seinen, dass ihn ein mulmiges Gefühl beschlich.

>>Touya. An was erinnerst du dich noch von heute Morgen?<<

Die Art, wie Tomura ihn anstarrte - so bohrend und intensiv - gepaart mit dem ernsten Ton in dessen Stimme ließen ihn schlucken.

Seine Kehle brannte schmerzhaft, so als hätte jemand ein Feuer darin entzündet. Vermutlich war es nicht gerade ein Segen für Touyas Gesundheit, in diesem Moment so viel zu sprechen, doch er hatte viel zu viele Fragen, um zu schweigen. Seine Mutter hatte ihm die Wahrheit verschwiegen, doch Tomura wirkte nicht so zurückhaltend.

Er hustete. Der Schmerz brannte in seiner Kehle, dennoch zwang er seine Lippen dazu, die Worte zu formen.

>>Nicht ... viel. Eigen - Eigentlich an gar n - nichts. Meine ... Mutter wollte mir nicht ... sagen, was ... passiert ... <<

Das Ende seiner Rede wurde von einem weiteren feurigen Hustenanfall unterbrochen.

Verdammt, er war Schmerz gewohnt, doch sein Hals tat echt weh!

Sein Rücken krümmte sich nach vorn und salzige Tränen traten in seine Augen, während ein krächzendes Husten und Schnaufen aus seiner Brust drang.

>>Woah, alles okay? 'Tschuldige, ich sollte dich wahrscheinlich nicht so viel zum Reden bringen.<<

Im nächsten Moment spürte er eine fremde Hand auf seinem Rücken, welche seine Wirbelsäule in langen Zügen hinauf und hinunter strich. Tomura hielt ihn behutsam fest und zog seinen Körper vorsichtig in eine gerade Position, während Touya frustriert versuchte, nicht an seinem eigenen Atem zu ersticken.

Trotz Tomuras Bemühungen, seinen Rücken wieder gerade aufzurichten, konnte er nicht verhindern, dass er zusammenkrampfte. Es war eine instinktive Reaktion. So viele Jahre lang hatte er seinen Schmerz hinter einer falschen Maske aus Stärke und Mut verstecken müssen.

Als Kind hatte er keine liebevollen Worte oder fürsorglichen Gesten gekannt. Schwäche war ein Fehler und Fehler mussten bestraft werden. Er hatte nicht weinen oder aufgeben oder hustend in einem Krankenhausbett sitzen dürfen. Enji war nie in Touyas Zimmer gekommen, hatte ihn vorsichtig gehalten und ihm sanfte Worte zugeflüstert, wenn es ihm schlecht gegangen war.

Tomura jedoch ... Tomuras Gesten fühlten sich gut an.

Dessen Handflächen waren zwar eiskalt, doch sie waren ... sanft. Es hatte etwas beruhigendes, etwas erdendes, an sich, wie dieser über seinen Rücken strich. Langsam schloss er die Augen und konzentrierte sich ganz allein auf die wohltuende Geste, statt auf den Schmerz.

Ich habe diesem Idioten immer noch nicht dafür vergeben, was er getan hat ...

Es war seine eigene, warnende Stimme in seinem Kopf, welche ihn vergeblich an diesen Fakt erinnerte, obgleich es schon zu spät war. Tomuras Berührungen hatten irgend etwas einzigartiges, beinahe schon etwas magisches an sich. Der Junge musste ihn lediglich sanft halten und seinen Rücken hoch und herunter fahren, sodass Touya das Gefühl hatte, sich erneut in diesen zu verlieben.

Er öffnete die Augen erst wieder, als ihn etwas Kaltes an der Hand berührte.

Er hatte keine Ahnung, wie lange sie beide so da gesessen hatten, doch die Zeit musste ausgereicht haben, damit Tomura das Wasserglas von vorhin wieder aufgefüllt hatte und ihm nun schweigend hinhielt. Stumm nahm er diese kleine Geste der Hilfe an und versuchte, das Inferno in seiner Kehle zu löschen.

>>Du solltest echt nicht so viel reden. Ich will nicht, dass du dir unnötig weh tust. Warte kurz - <<

Mit diesen Worten griff Tomura in die Tasche seiner Jeans und holte ein glänzend schwarzes Smartphone heraus. Der Andere schaute nicht einmal mehr hin, als er den PIN eintippte, sodass Touya sich unweigerlich an ihr langes Gespräch über Tomuras League of Legends Erfolge erinnerte.

Tomuras Finger schwebten mit geübter Präzision über das leuchtende Display, bevor der Andere ihm das Smartphone hinhielt. Er konnte nicht anders, als die Nase zu rümpfen, nachdem er den verdammten Google Übersetzer von allen Dingen entdeckte.

Naja - Scheiß drauf!

Zumindest funktionierte diese Art der Kommunikation zuverlässiger, als seine Stimme.

Nachdenklich nahm er Tomuras Handy entgegen und tippte ein paar zögerliche Worte ein.

>>Was ist heute Morgen passiert? Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass ich auf dem Weg zur Schule war. Ist etwas dort passiert?<<

Nachdem er fertig getippt hatte, drehte er das Display zu Tomura, welcher sich seine Frage aufmerksam durchlas.

Ein Seufzen verließ den Jungen. Dieser wirkte nicht wirklich überrascht von Touyas Ahnungslosigkeit, doch dafür umso bedauernder. Er erkannte die Trauer und Sorge in dessen unverletztem Auge, welches sich nur zögerlich zurück auf ihn richtete.

>>Du weißt echt nicht mehr, was passiert ist?<<

Statt zu tippen, schüttelte er den Kopf.

Tomura biss sich auf die Lippe und grübelte stumm vor sich hin. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, dass der Andere so lange über seine Antwort nachdenken musste.

>>Tja, ich weiß nicht wirklich, wo ich anfangen soll. Der heutige Tag war echt verdammt scheiße in allen Definitionen von scheiße ... <<, druckste dieser herum, so als hätte er Angst vor Touyas Reaktion auf die Wahrheit.

Tja, Pech für Tomura, dass Touya ihn nicht ohne die Wahrheit gehen lassen würde ...

Er klopfte einmal auf die Matratze, um Tomuras Aufmerksamkeit zu erhalten. Überrascht stoppte der Andere sein Gebrabbel und beobachtete ihn stattdessen dabei, wie er eine kurze Frage in den Google Übersetzer eintippte.

>>Tomura. Was ist passiert?<<

Erneut betrachetete er, wie sich sein Gegenüber auf die Unterlippe biss. Er sah die Rädchen in dessen Kopf rattern, doch ließ diesem erst gar keine Zeit, um nachzudenken.

>>Tomura!<<

>>Schon gut, schon gut! Hetz mich nicht, sonst fühle ich mich so unter Druck gesetzt! Also ... Muscular wollte Rache dafür, dass du ihm angeblich uns, seine "Freunde", weggenommen hast. Deshalb hat er dir heute Morgen im Schulgebäude aufgelauert und ... Naja, dich gewürgt und verprügelt. Dieser kranke Bastard hätte dich beinahe umgebracht. Es war purer Zufall, dass Shuichi dich davor gesehen und uns Bescheid gesagt hat. Ich will mir gar nicht erst vorstellen, was dieser Kerl sonst mit dir gemacht hätte! Ich denke ... Ich denke, er hätte dich dort einfach ermordet. Kranker Bastard!<<

>>Jedenfalls haben Shu, Himiko, Jin und ich dich gerade so rechtzeitig gefunden. Wir haben versucht, Muscular aufzuhalten, aber der Typ ist sowas von ausgerastet, als er gesehen hat, dass wir dir helfen! Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass er mir eine reingehauen hat, sodass ich mit dem Kopf gegen das Waschbecken geknallt bin. Jin hat mir vorhin geschrieben. Er meinte, dass Aizawa-Sensei Wind von dem Krach bekommen und uns alle in der Schultoilette gefunden hat. Er hatte dann den Notarzt gerufen und die Polizei über Musculars Ausraster informiert. Der Kerl bekommt vielleicht endlich Mal 'ne Anzeige und Strafe für den Scheiß, den er abzieht! An der Schule soll jedenfalls vollkommen die Hölle ausgebrochen sein und ... <<

Tomura stoppte seine eigene, wilde Erzählung, als er Touyas überforderten Gesichtsausdruck sah. Nervös kratzte sich der Andere im Nacken und musterte ihn unsicher.

>>War ... war das zu viel auf einmal?<<

Touya antwortete nicht. Er hatte Mühe, diese ganzen Informationen zu verdauen.

Wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann hatte er sich schon so etwas in die Richtung gedacht. Er hatte es nur nicht wahr haben wollen.

Die pure Grausamkeit in Tomuras Erzählung war so erschreckend, dass es ihn sprachlos machte. Er hatte immer gewusst, dass Muscular keine Gnade oder Rücksicht walten ließ. Der Junge zog seinen Willen durch, egal was der Preis dafür war. Die schiere Brutalität in dessen Taten sollte ihn also nicht überraschen und doch ... Doch wusste er nicht, was er mit alldem anfangen sollte.

Er konnte nicht beschreiben, wie er sich in diesem Moment fühlte. Er war schockiert und sprachlos.

Zugleich fühlte er sich so ... leer.

Vermutlich hätte er mit einem großen Emotionsausbruch darauf reagieren sollen, dass Muscular ihn fast umgebracht hatte und nun die gesamte Schule über Touyas Scheiß Bescheid wusste. Jede andere Person wäre in dieser Situation wahrscheinlich in Tränen ausgebrochen oder hätte Alles und Jeden in ihrem Umfeld verflucht, doch er ... Er saß nur still da und ließ all diese Informationen sacken.

Er fühlte sich wie ein Geist.

Leer.

Unfähig dazu, nach Außen hin zu reagieren.

>> ... Oh.<<

Der Laut kam klein und gebrochen über seine Lippen.

Beinahe in Zeitlupe richtete sich sein Blick aus dem Fenster. Er sah die goldenen Sonnenstrahlen, welche sich elegant auf dem Glas spiegelten und die ganze Welt in Wärme und Licht einhüllten. Die Vögel, welche über das unendliche Blau des Horizonts zogen. Die fluffigen Wolken, wie Zuckerwatte, welche man vom Himmel pflücken konnte.

Das alles wirkte so ... harmonisch. So friedlich.

Es war ein kurzer Ausblick auf das Glück da draußen, während Touya hier drin saß. In einem viel zu weißen Raum mit viel zu weißen Wänden und viel zu weißen Möbeln.

Mit einer gequetschten Luftröhre und einer Gehirnerschütterung.

Beinahe Ermordet. Zum zweiten Mal in seinem Leben.

Er hatte den Eindruck, dass er nicht wirklich gesund auf diese Situation reagierte. Ein psychisch gesunder Mensch hätte nun vermutlich geschrieen und angefangen, zu weinen. Ein psychisch gesunder Mensch hätte nicht einfach ... da gesessen.

Touya wusste all das und doch ... doch fühlte er sich von einer eisigen Leere ausgefüllt.

Er empfand keine richtige Wut. Keine Trauer. Alles, an das er denken konnte, war seine Vergangenheit, welche sich so perfekt mit der Gegenwart zusammenfügte.

Beinahe ermordet. Von einem Mann mit zu groben Händen und zu hasserfüllten Augen. Schon wieder ...

>>Touya, hey! Ist alles in Ordnung? Du wirkst so ... <<

Tomuras besorgte Stimme brach ab, nachdem dieser in Touyas unbewegtes Gesicht blickte.

Im Gegensatz zu ihm selbst, war dessen unverletztes rotes Auge bis zum Rand mit schweren Emotionen gefüllt. Tomura wirkte lebendig und er selbst stumpf. Tot.

Weil du beinahe ermordet wurdest. Schon wieder ...

Die Stille zog sich hin, nachdem keiner von ihnen den Mut dazu aufbrachte, sie zu füllen. Ein kaltes und unbehagliches Schweigen, welches mit jeder vergangenen Sekunde intensiver wurde und geradezu danach flehte, gebrochen zu werden.

Nach einem Moment - vielleicht waren es auch fünf - räusperte sich Tomura, um seinen vorsichtig angefangenen Satz genau so vorsichtig zu beenden.

>>Du wirkst so apathisch. Ist ... Scheiße, natürlich ist nicht alles in Ordnung, aber ... War das zu viel? Brauchst du erst mal Zeit für dich?<<

Normalerweise hätte ihn Tomuras Verständnis gerührt, nachdem sich sein Ego genug über dessen Mitleid beschwert hätte.

Jetzt jedoch ... Jetzt fühlte er sich einfach leer.

Ein bitterer Geschmack lag in seiner Kehle, während seine müden Augen zu seinen Händen wanderten. Seine Finger waren eiskalt und taub. Er bewegte seine Handgelenke, um das Blut wieder zum Fließen zu bringen, doch diese Kälte war weder der Temperatur, noch seiner starren Haltung zu verschulden. Sie kam aus seinem Inneren und hatte sich tief in seine Knochen eingenistet.

>>Nein ... <<, flüsterte er.

Das Wort drang nur gedämpft und zusammenhangslos aus seiner Kehle. Im Hintergrund hörte er, wie der Junge neben ihm unruhig auf seinem Stuhl hin- und herrutschte, doch Touyas Blick wandte sich nicht von seinen kalten und tauben Fingern ab.

>>Wie bitte?<<

>>Nein.<<, wiederholte er genau so leise und zusammenhangslos wie beim ersten Mal.

Seine Gedanken waren eine endlose Schleife desselben abgehackten Stakkatos.

Du wurdest beinahe ermordet. Zum zweiten Mal in deinem Leben.

Jetzt weiß jeder an dieser Schule, in dieser ganzen verdammten Stadt, was mit dir falsch ist.

Deine Mutter weiß, was passiert ist.

Hast du sie weinen sehen?

Das ist deine Schuld, du elendiger Freak.

Wieso schockiert dich das nicht?

Was muss passieren, damit du endlich aus deinem verdammten Schneckenhaus herauskriechst?

Was -

>>Touya.<<

Er zuckte zusammen.

Tomuras Stimme war nicht sonderlich laut oder aggresiv. Vermutlich stellte sie deshalb so einen extremen Kontrast zu der hasserfüllten Stimme in seinem eigenen Kopf dar.

Sein Blick klebte auf seinen eigenen, tauben Händen, während er verzweifelt versuchte, irgendein Gefühl in seinen leblosen Körper zurückzuholen.

Verfluchter Mist! Wieso kann ich nicht einmal in meinem verdammten Leben ein normaler und gesunder Mensch sein? Wieso -

>>Okay, ich sollte dich wirklich allein lassen. Du brauchts jetzt erst einmal ein wenig Zeit für dich.<<

Es waren diese Worte, gemeinsam mit Tomuras warmer und schützender Aura, welche langsam von seiner Seite verschwand, die ihn schließlich aus seiner Starre herausholten.

Instinktiv streckte er seinen Arm zur Seite aus und griff nach Tomuras Hand. Sein Kopf wirbelte herum, während seine panisch geweiteten Augen dessen überraschtem Blick begegneten.

>>Nein. B-Bitte ... <<

Er wollte mehr sagen. So viele unausgesprochene Worte lagen auf seiner Zunge, doch seine Kehle brannte wie Feuer und er wurde von einem rauen Husten unterbrochen.

>>T-Tomura ... <<

Dieses eine, gebrochene Wort war alles, was ihm in diesem Moment blieb. Dies und das stumme Flehen in seinen Augen.

Bitte geh nicht. Lass mich nicht mit meinen Gedanken allein. Diese Stimme in meinem Kopf bringt mich um ...

Ohne Worte schien sein Gegenüber zu verstehen. Langsam nahm dieser erneut auf dem Stuhl neben Touyas Bett Platz.

Dessen Gesicht verriet nicht viel über Tomuras Gedanken und Gefühle, doch Touya wusste, worauf er achten musste. Dessen unbeschädigtes, rotes Auge war voller Wärme und Verständnis. Dinge, die so lange in seinem Leben gefehlt hatten und ihm nun so bedingungslos geschenkt wurden.

Er schluckte und versuchte, all die Worte, welche stumm auf seiner Zunge lagen, auszusprechen, doch das Feuer in seiner Kehle verbrannte jede Silbe, noch bevor sie über seine Lippen gerutscht war.

Alles, was ihm blieb, war die Hand des Jungen fester zu halten und zu hoffen, dass dieser ihn verstehen würde.

So, als hätte der Andere seine Gedanken gelesen, zeichnete sich ein mildes Lächeln auf dessen Lippen ab. Tomura erwiderte den Druck seiner Hand und hielt ihn mit genau der Wärme und Sicherheit, die er nun brauchte.

>>Schon gut, ich bleibe. Wir müssen nicht darüber reden.<<

Nach dieser Antwort war es, als würde eine tonnenschwere Last von Touyas Schultern fallen.

Beinahe sofort erschlafften seine angespannten Glieder, sodass er sich zurück in die Kissen an seinem Rücken sinken ließ. Tomura betrachtete ihn mit demselben milden Lächeln, so als würde Touyas schräges Verhalten ihm rein gar nichts ausmachen. Nach einem Moment glitt dessen Blick zu Touyas Hand, welche er fest umschlungen mit seiner eigenen hielt.

>>Deine Hände sind so kalt. Es ist, als würde die arktische Kälte von dort aufsteigen.<<, witzelte dieser sanft.

Damit hob der Junge ihre verschränkten Hände an sein Gesicht und blies seinen warmen Atem auf Touyas taube Finger.

Augenblicklich kamen all die wirren Gedanken in seinem Schädel über seine Vergangenheit und seine Zukunft zu einem abrupten Stillstand. Stattdessen lag sein gesamter Fokus auf der Hitze, welche in seine Wangen schoss und nun auch bei seinen Fingern ankam.

Er schwieg und sah dabei zu, wie Tomura seinen warmen Atem auf seine tauben Finger blies, bevor der Andere damit begann, seine Hand zu massieren, um das Blut wieder zum Zirkulieren zu bringen. Touya bezweifelte jedoch, dass sich überhaupt noch Blut in seinen Händen befand, nachdem alles in seine Wangen geschossen war.

Es fühlte sich so an, als hätte man ein Stoppschild in seinem Kopf aufgestellt. Alles, an das er plötzlich denken konnte, war:

"Fuck, das fühlt sich gut an."

>>Tomura ... <<, wisperte er.

Er wusste nicht, was er sonst hätte sagen sollen.

Der Andere lächelte nur weiter. Nachdem der Junge Touyas verlegenes Gesicht begutachtet hatte, verwandelte sich das Lächeln allmählich in ein Grinsen, verlor jedoch niemals an Wärme und Verständnis.

>>Ist das okay? Ich kann aufhören, wenn du es nicht möchtest.<<

Schweigend schüttelte er den Kopf.

Die Verlegenheit und der Schmerz in seiner Kehle machten ihn sprachlos. Tomuras Grinsen verbreiterte sich, nachdem dieser nun auch nach Touyas zweiter Hand griff und sie in demselben warmen und beschützenden Griff hielt.

>>Gut. Dann bringe ich deine eiskalten Händchen mal zum Schmelzen.<<

Es hätten fünf Minuten oder eine halbe Ewigkeit sein können, in der sie so da saßen.

Seite an Seite in einem viel zu weißen Krankenzimmer. Die Hände ineinander verschlungen, während sie einander betrachteten. Ohne Worte und doch voller Verständnis für ihr Gegenüber.

Bei ihrem beiden Glück war er schwer überrascht, dass niemand vom Krankenpersonal sie in dieser vertrauten Position entdeckt hatte, doch tatsächlich blieben sie ungestört.

Schließlich hörte er, wie sich Tomura räusperte und diesem stillen Moment, losgelöst von jeglichen Sorgen und Problemen, ein Ende setzte. Instinktiv spannten sich seine Muskeln an, sich auf das ernste Thema wappnend, welches folgen würde.

>>Also, naja es ist vielleicht gerade nicht der passendste Zeitpunkt dafür, aber ... <<

Tomura stockte und kratzte sich unsicher im Nacken.

Huh, das tat der Andere oft, wenn er nervös war ...

>>Wir müssen über die Zwischenprüfung in Philosophie reden.<<

Oh.

>>Ich weiß, dass das gerade absolut nichts mit dieser Situation zu tun hat und du wahrscheinlich gerade gar keine Gehirnzelle mehr dafür übrig hast, aber die Abgabe ist nächste Woche Freitag. Zusammen mit der mündlichen Vorstellung und einer Präsentation! Also, wenn du nicht ohne mich alles perfekt ausgearbeitet hast, würde ich sagen, dass wir ziemlich am Arsch sind.<<

Verzweifelt rieb sich der Andere über die Stirn, während Touya weiterhin nur da saß und starrte.

Diese Worte kamen ... unerwartet.

Nachdenklich kaute er auf der Innenseite seiner Wange, während er sich daran zu erinnern versuchte, wann er das letzte Mal an ihrer Zwischenprüfung gearbeitet hatte. Die Wahrheit war ... Er wusste es nicht mehr.

Es musste irgendwann gewesen sein, bevor Tomura und seine Beziehung so eine rasante Achterbahnfahrt erlebt hatte. Die letzten Wochen und Monate waren ein konstantes Auf und Ab gewesen. Erst hatte ihm sein Leben eine Ohrfeige nach der anderen verpasst, bevor ihm das Glück auf Erden geschenkt wurde, nur um es im nächsten Moment wieder aus seinen Händen zu reißen.

Er hatte das Gefühl, dass er seit Monaten gerannt, gefallen und weitergerannt war. Der qualvolle und endlose Sprint des Lebens. Er hatte mit seinen Mobbern, der Unzahl seiner Probleme und Sorgen und dem ganz gewöhnlichen Wahnsinn des Alltags fertig werden müssen, während er gleichzeitig versucht hatte, sein chaotisches Liebesleben zu managen.

Ein schier unerklimmbarer Berg aus Aufgaben und Pflichten.

Es war einfach keine Zeit mehr für andere Dinge geblieben ...

Vermutlich hätte er auch auf diese Erkenntnis mit einem stärkeren Gefühlsausbruch reagieren sollen, doch ... Er war zu erschöpft für irgendeinen Emotionsanfall.

Stumm saß er da und betrachtete den Jungen neben ihm, welcher sich frustriert mit den Händen über das Gesicht fuhr. Schließlich hob Tomura den Kopf und begegnete seinem Blick.

Eine gute Minute lang starrten sie sich einfach nur an, bevor Touya schließlich nicht mehr anders konnte, als mit den Schultern zu zucken.

Die gleichgültige Geste erntete ein kurzes und verzweifeltes Lachen aus seinem Gegenüber. Mit einem frustrierten Schnaufen vergrub der Junge erneut das Gesicht in den Händen, sodass Touya nur noch eine zerzauste Wolke aus weißen Haaren erkannte.

>>Oh Mann. Wir sind sowas von am Arsch!<<

Vermutlich hätte er nun etwas Aufmunterndes sagen sollen, doch die Wahrheit war, dass Tomura Recht hatte.

Sie hatten verkackt.

Eine Woche war nicht mal annähernd genug Zeit, um so eine umfangreiche Ausarbeitung abzuschließen. Jedenfalls nicht, solange sie beide mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus saßen und Zuhause wer weiß was auf sie wartete ...

Außerdem ... "Was ist Glück?"

Wie zur Hölle sollte er sich vor eine Klasse voller Menschen stellen und sinnvoll erklären, was Glück war, wenn er gerade zum zweiten Mal in seinem Leben beinahe ermordet wurden war?!

Es war irgendwie ironisch. Auf eine bittere und schmerzhafte Art und Weise.

>>Ich meine, wir könnten Aizawa- Sensei darum bitten, unsere Frist zu verlängern. Oder uns eine zweite Chance mit einer anderen Aufgabe zu geben. Naja, er hat uns immerhin alle in der Schultoilette gefunden, also kennt er auch unsere Gründe ... <<

Innerhalb eines Wimpernschlages weiteten sich seine Augen auf Tennisballgröße und er schüttelte so heftig den Kopf, dass ihm schwindelig wurde.

Mit den Händen tastete er wild über die Matratze, auf der Suche nach Tomuras Handy. Nachdem er das Gerät schließlich gefunden hatte, hielt er es dem Anderen sofort erwartungsvoll entgegen. Dieser schien erst nicht zu verstehen, doch gab sich schnell Touyas forderndem und ungeduldigem Blick geschlagen.

Er ließ dem Jungen gerade einmal genug Zeit, um seinen PIN einzutippen, bevor er sich das Smartphone auch schon wieder zurückschnappte und seine Finger wild über die Buchstaben des fucking Google Übersetzters fliegen ließ.

>>Auf gar keinen Fall! Wir werden nicht zu Aizawa-Sensei laufen, um uns irgendeine Sonderbehandlung abzuholen!<<

Schwungvoll drehte er das Display zurück in Tomuras Richtung, sodass sich dieser seine Antwort ganz genau durchlesen konnte. Schriftnachrichten wirkten zwar nicht so effektiv, wie Worte. Seine aggresive Art zu Schreiben und die Strenge in seinem Blick sollten jedoch genügen, damit die Botschaft bei Tomura ankam.

>>Ich verstehe, dass du daraus nicht so 'ne große Nummer machen willst, aber irgendwas müssen wir tun. Wir können uns nicht mit nichts vor die Klasse stellen! Bei sowas bin ich echt scheiße im Improvisieren und ich bezweifle, dass Aizawa-Sensei dafür viel Lob übrig hat. Die Zwischenprüfung in Philosophie ist zu wichtig, um sie einfach sausen zu lassen! Entweder, wir lassen also das Abgedatum verlängern oder wir nehmen eine neue Aufgabe.<<

Auf gar keinen Fall!

>>Nein. Das werden wir sicher nicht tun.<<

Er beobachtete, wie sich Tomuras weiße Brauen nach seiner trotzigen Antwort irritiert zusammenzogen und dieser die Nase rümpfte.

Sie waren beide stur bis zum Tod. Es ließ sich nur hoffen, dass einer von ihnen zuerst nachgab. Touya würde es schonmal nicht sein ...

>>Was schlägst du denn dann vor? Einfach abwarten und nichts tun?<<

Vermutlich lag es daran, dass sie beide erschöpft und nicht bei klarem Verstand waren, denn er wusste, dass sich Tomura sonst nie über ihn lustig gemacht hätte. Der Junge hörte ihm sonst immer aufmerksam zu und nahm Touya ernst.

Ein Tomura, der klar bei Verstand und nicht so erschöpft, frustriert und verzweifelt gewesen wäre, hätte ihm niemas mit so viel Spott in der Stimme geantwortet.

Ein Teil von ihm wusste, dass der Junge es nicht so meinte. Dass dieser ihm nicht absichtlich weh tat. Ein anderer Teil von ihm wurde dagegen von tausend kleinen Nadelspitzen durchbohrt.

Es tat weh.

Vielleicht reagierte er überempfindlich, doch er verabscheute es zu tiefst, wenn andere Menschen ihn und seine Meinung nicht ernst nahmen. Wenn sie auf ihren eigenen Vorstellungen beharrten, statt Touyas Meinung irgendeine Beachtung zu schenken. Wenn seine Gedanken zu wertlos waren, um sich mit ihnen weiter auseinanderzusetzen. Wenn Touya zu wertlos und unwichtig war ...

Er hatte diesen Schmerz schon zu oft fühlen müssen. Er wollte nicht, dass Tomura diesmal derjenige war, der die Nadeln in der Hand hielt.

>>Wir kriegen das hin. Wir lassen uns was einfallen, aber wir werden nicht vorher bei Aizawa-Sensei betteln.<<

>>Dann erklär mir bitte, wieso du dich so sehr gegen diese Option weigerst! Es ist unsere beste Chance, um überhaupt erst zu irgendeinem Ergebnis zu kommen. Außerdem spielen wir Muscular damit doch nur in die Karten. Der Kerl wollte, dass du versagst und aufgibst, also bestätigen wir ihn doch nur noch einmal damit, wenn wir beide uns wie zwei Vollidioten vor die Klasse stellen und nichts zu sagen haben!<<

Tomuras Worte taten weh.

Dessen Anschuldigung brannte wie Feuer auf der Haut. Touya konnte nicht anders, als zusammenzuzucken, nachdem Musculars Name gefallen war. Automatisch spulten sich in seinem Kopf all die Horrorszenarien ab, sollte er erneut dem Tyrann begegnen.

Muscular hatte ihn töten wollen.

Töten ...

Genau wie damals. Genau wie bei Enji ...

Es war ein unglücklicher Zufall gewesen, dass Touya jetzt noch am Leben war. Beim nächsten Mal würde der Junge dafür sorgen, dass ihm dieser Fehler nicht noch einmal unterlief ...

Es waren brutale und erschreckende Vorstellungen, welche er noch im selben Moment wieder ausblendete. Stattdessen ballte er die Hände zu Fäusten, atmete tief ein und zählte in seinem Kopf bis drei herunter.

Einatmen. Ausatmen. Weitermachen.

Das, was er immer tat, wenn sich das Leben dazu entschied, ihn in Flammen aufgehen zu lassen. Immer und immer wieder.

Weitermachen und nicht zurückschauen.

>>Das ist kein Aufgeben. Aufgeben würde bedeuten, dass ich mich in meinem Zimmer verkrieche und nicht wieder heraus komme.<<

Die harten Falten in Tomuras Gesicht lösten sich langsam auf, nachdem der Andere Touyas Antwort auf dem Display seines Smartphones gelesen hatte. Die Wut und Frustration darin ebbten ab, sodass Tomuras Züge weicher und sanfter wirkten.

>>Ich weiß, Touya. Tut mir Leid, das wollte ich damit nicht sagen. Ich meine nur ... Ist das nicht genau so, wie Muscular will, dass wir uns verhalten? Dass wir so weitermachen, als wäre nichts geschehen, anstatt offen darüber zu sprechen, was passiert ist?<<

Für einen unendlich langen Moment sahen sie sich nach diesen Worten einfach an. Ihre Blicke waren intensiv, als sie aufeinander trafen. Voller schwerer und geladener Emotionen.

Mit jeder verstrichenen Sekunde flachten diese Gefühle jedoch immer weiter ab. Wie eine schäumende Welle, welche sich tosend aufbauschte, nur um am Ende sanft gegen das Ufer zu schwappen.

Schließlich entfuhr ihm ein erschöpftes Seufzen und er spürte, seine Schultern nach unten sacken.

>>Ich werde nicht die Mobbingkarte ausspielen. Das ist doch genau das, was alle in mir sehen. Das Opfer, welches überall umherirrt und nach Mitleid verlangt. Ich ... ich werde nicht einfach so weitermachen, wie vorher. Das kann ich gar nicht. Aber ich werde mich auch nicht in die Opferrolle stellen. Ich möchte ... Ich möchte zeigen, dass man auch auf eine andere Weise weitermachen kann.<<

Seine Worten waren ehrlich und intim. Es stellte immer ein Risiko dar, seine wahren Gefühle und Gedanken auszusprechen und sich damit zur Zielscheibe für Hass und Spott zu machen.

Wenn er jedoch mit einer Person darüber reden konnte, dann war es Tomura.

Erwartungsvoll starrte er den Jungen an, welcher sich seine Antwort gewissenhaft durchlas, bevor dessen Blick erneut zu ihm wechselte. Er konnte nicht beschreiben, wie Tomura ihn in diesem Moment ansah. Erschöpft, traurig und verzweifelt. Doch auch voller Wärme und Verständnis. Zwei Seiten derselben Münze.

>>Weißt du, mir hat es verdammt Angst gemacht, als ich das erste Mal offen darüber gesprochen habe, was mir im Heim passiert ist.<<

Dessen Stimme war ganz leise. Ein Flüstern in der Stille, doch Touya verstand jedes Wort glasklar.

Sein Herz setzte einen Schlag aus, bevor es mit doppelter Geschwindigkeit weiterschlug. Richtig. Tomura hatte dieselbe Hölle durchlebt, wie Touya.

Der Andere hatte bisher nicht viel über seine Zeit im Heim gesprochen, doch Touya wusste, auch ohne viel zu erfahren, dass es schlimm gewesen sein musste. Tomura hatte denselben Scheiß durchmachen müssen, wie er. Der Junge hatte sich an der gleichen Stelle im Leben befunden, wie Touya in diesem Moment.

Und ... er hatte sich durchgekämpft.

Tomura hatte im Alter von fünf Jahren seine Familie verloren, war verwirrt und verängstigt in einem Heim voller Dämonen gelandet, bevor er schließlich von einem wildfremden Mann und dessen Buttler adoptiert wurden war. Der Andere hatte sich mit beiden Füßen über dem Abgrund befunden. So viele Male.

Und doch saß er nun hier.

Ein ganz gewöhnlicher und gesunder Junge, welcher Videospiele zockte und eine starke Gruppe aus Freunden hinter seinem Rücken wusste, die selbst mit ihm gemeinsam gegen einen Tyrann in den Kampf zogen, der sehr viel stärker, als sie alle zusammen war.

Doch vorallem ... Tomura konnte offen über all das sprechen. Nicht mit Scham und Verleugnung in der Stimme, sondern mit Stolz. Stolz darüber, dass er sich aus der Hölle gekämpft hatte und nun hier stand.

>>Wie ... Wie hast du den Mut dazu aufgebracht, den Leuten davon zu erzählen? Ich meine, hast du einfach mit dem ganzen Scheiß abgeschlossen, nachdem du aus dem Heim raus warst, oder ... ?<<

Diesmal waren seine Bewegungen langsam und zögerlich, als er die Frage eintippte. Er wollte keinen wunden Punkt mit seinen Worten treffen, doch Tomura wirkte so ... stark.

Auch jetzt schien es den Anderen nicht viel Überwindung zu kosten, ihm zu antworten. Er las sich einfach Touyas Frage durch und dachte kurz nach, bevor er ihm antwortete. Einfach so. Er öffnete einfach den Mund und lies die Worte herausströmen.

So als wäre es das Leichteste der Welt ...

>>Ich habe Vater und Kuro nicht sofort davon erzählt. Die erste Zeit mit ihnen war sowieso verdammt seltsam gewesen. Ich meine, im Heim hatte ich niemanden, dem ich mich anvertrauen konnte. Es gab die Aufseher, ja, aber die haben sich um alle Kinder gekümmert und nicht nur speziell um mich. Ich hatte das Gefühl, dass ich dort niemandem hatte, der mir zuhört und dem ich meine Gedanken und Gefühle offenbaren konnte. Und dann waren da plötzlich diese zwei fremden Männer, für die ich der Mittelpunkt der Welt war. Es war ... schräg.<<

Eine kurze Pause, in der Tomura Luft holte. Dann:

>>Kuro habe ich als Erstem davon erzählt. Es muss ungefähr letztes Jahr gewesen sein. Ein Jahr, bevor ich zu euch auf das Gymnasium gewechselt bin. Im TV kam so eine Dokumentation über Mobbing im Schulalltag und ... Ich konnte einfach nicht mehr meine Klappe halten. Ich habe Kuro gesagt, dass mir dasselbe passiert ist und dann ... Haben wir uns einfach unterhalten. Ich will ehrlich sein, es hat mich verdammt viel Überwindung gekostet, aber am Ende ... Am Ende hat Kuro einfach dagesessen und zugehört. Ich weiß nicht, was ich befürchtet hatte. Dass er mich verspotten und mir die Schuld an allem zuweisen würde, aber so war es nicht.<<

Tomura stockte. Dessen Wangen hatten einen rötlichen Ton angenommen, doch der Junge wirkte nicht beschämt, während er über diese Ereignisse sprach.

Eher ... ermutigt.

>>Bis zu diesem Gespräch bin ich noch auf meine alte Schule gegangen, auf der auch meine Mobber waren. Sie hätten sich niemals getraut, dort irgendeinen Scheiß abzuziehen, dafür hatten sie viel zu viel Schiss, aber es hat sich trotzdem nicht ... schön angefühlt. Jedes Mal, wenn ich dort war, hatte ich das Gefühl, dass ich mich immer zweimal umdrehen muss. So als könnte sich jede Sekunde jemand von hinten an mich ranschleichen, um mich in irgendeine Ecke zu ziehen. Es war schlimm, wirklich. Ich glaube, dir muss ich das nicht erklären. Nachdem ich Kuro und Vater die Wahrheit erzählt habe, haben sie sich sofort für mich eingesetzt. Sie haben sich kein einziges Mal darüber lustig gemacht oder mir die Schuld zugewiesen, sondern waren die gesamte Zeit über für mich da und haben mich unterstützt. Das ist der Grund, wieso ich auf das Gymnasium hier gewechselt bin. Hätte ich nicht den Mund aufgemacht, hätte sich vermutlich nie etwas geändert.<<

Er blinzelte und schwieg.

Aus Tomuras Mund klang das alles so leicht. So, als wäre es die einfachste Sache der Welt, seiner Familie die Wahrheit darüber zu erzählen, welcher Scheiß ihm Tag für Tag widerfahren war.

Tomura schien seine Gedanken auch ohne Worte zu verstehen, denn er griff sanft nach Touyas Hand und sah ihn mit so viel Wärme und Verständnis an, dass er am liebsten geweint hätte.

>>Touya, hör mir zu. Wenn du nicht möchtest, dass Jemand davon erfährt, dann musst du es dieser Person auch nicht erzählen. Es ist dein Recht, zu entscheiden, wer davon wissen soll und wer nicht. Niemand kann dich dazu zwingen, darüber zu sprechen. Ich denke ... Ich denke nur einfach, dass es dir helfen würde, mit einigen wenigen Menschen, denen du vertraut, darüber zu reden. Du kannst langsam beginnen, nur mit einer Person, wenn du möchtest. Nimm deine Mutter zum Beispiel. Sie wird es verstehen und alles tun, um dich zu unterstützen, da bin ich mir sicher.<<

Touya erinnerte sich glasklar an das vorherige Gespräch mit Rei. An die Tränen, welche sie vergossen hatte ... Wegen ihm vergossen hatte.

Sie wusste davon.

Sie ... Sie wusste, was mit ihm passiert war. Wer ihn in dieses Krankenhaus gebracht hatte. Das musste sie.

Sie wusste davon und dennoch ... Dennoch hatte sie keine Silbe darüber verloren. Weil es in dieser Situation nicht wichtig gewesen war. Weil es ihr mehr bedeutete, ihren Sohn wach und gesund zu sehen, als nachzubohren und sich darüber zu beschweren, wieso er ihr nicht schon viel früher davon erzählt hatte.

Es ... Es war das, was jede liebende Mutter tun würde.

Er schluckte. Die Emotionen in seinem Inneren schnürten ihm die Kehle zu und machten ihn atemlos. Er war dankbar für Tomuras Smartphone in seiner Hand.

>>Ich denke, sie weiß es schon.<<

Seine trockene Aussage ließ Tomura überrascht blinzeln.

>>Und hat sie etwas dazu gesagt?<<

>>Nein. Sie ... Für sie war es wichtiger, zu erfahren, dass es mir gut geht, statt genauer nachzuhaken.<<

Tomura entfuhr ein nachdenklicher Laut. Noch immer lag dessen Blick auf dem seinen, während sie schweigend einander betrachteten. Ihre Blicke waren intensiv. Warm und sanft. Voller Verständnis. Touya glaubte, dass er nicht wegschauen könnte, selbst wenn er wollte.

Ein endloser Moment zog schweigend dahin, während sie sich einfach betrachteten. Das Funkeln in Tomuras rotem Auge hielt ihn vollkommen gefangen. Nein. Es war der Junge selbst.

Schließlich schluckte Touya und starrte auf das Smartphone in seinen Händen herab.

Sei mutig!

Er nahm einen tiefen Atemzug und tippte die Worte ein, welche ihm auf der Zunge brannten.

>>Erzähl mir von deiner Zeit im Heim und wie du gelernt hast, damit zu leben.<<

Tomura wirkte überrascht, jedoch nicht verärgert. Stattdessen schlich sich ein winziges Lächeln auf dessen Lippen. Halb bitter. Halb dankbar.

Dann begann der Junge zu erzählen.

Touya hörte einfach zu.

- the end -

Nächstes Kapitel:
Wird Touya endlich den Mut zur Wahrheit aufbringen oder wird er weiterhin mit einer Lüge leben?

Let's find out!

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