13. Missverständnisse

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- Why Am I Like This?
- Orla Gartland

Missverständnis

"Missverständnisse sind Störungen in der Kommunikation, deren Ursache ein Unterschied zwischen dem Gemeinten und dem Verstandenen ist.

by julislifestyle

Touya

Klopf, Klopf, Klopf.

Sein Kopf pochte dumpf.

Seine Augen fühlten sich unangenehm trocken an, während da dieses brennende und ziehende Gefühl hartnäckig in seinen Schläfen saß.

Die Welt war ein wenig unscharf und verschwamm immer wieder vor seinen Augen. Mit den Fingern massierte er seinen pochenden Schädel und nahm einen zittrigen Atemzug nach dem Nächsten.

Er hatte vergessen, wie lange er mittlerweile schon hier saß und seinem Körper einzureden versuchte, dass alles in Ordnung war.

Er hatte alles Mögliche ausprobiert. Atemübungen, kühlende Tücher - der Schmerz wollte einfach nicht verschwinden. Ein gleißender und stechender Schmerz, welcher von seinen Schläfen, bis in seine Fußspitzen zog.

Klopf, Klopf, Klopf.

Er kniff die Augen zusammen und versuchte, all diese störenden Empfindungen mit schierer Willenskraft davonzujagen.

Er war allein auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer, dennoch war die Welt laut. Viel zu laut. Das Zwitschern der Vögel draußen, welches sich für ihn mehr nach einem chaotischen Krächzen anhörte. Ihr Nachbar, welcher in Seelenruhe seinen Rasen mähte. Und dann noch dieses ständige, nervtötende Klopfen -

>>Touya?<<

Er riss die Augen auf und spürte, wie sein ganzer Körper vor Schreck zusammenzuckte.

Er benötigte einen Moment, um zu realisieren, dass das Klopfen nicht nur eine Einbildung seiner gleißenden Kopfschmerzen war. Jemand stand vor der Tür.

Jemand stand vor der Tür und suchte nach ihm.

Holprig raffte er sich auf und stürzte vom Sofa hoch. "Stürzte" dabei im wahrsten Sinne des Wortes, denn er war noch nicht mal einen Schritt gekommen, als seine wackligen Beine auch schon unter ihm nachgaben und er ungrazil zu Boden fiel. Im letzten Moment fing er sich mit den Händen auf dem harten Laminant auf.

Vor seinen Augen drehte sich der Boden wie in einem Karusell und er schluckte eine Welle des Schwindels herunter. Seine Aktion musste mehr Lärm erzeugt haben, als angenommen, denn das Klopfen hielt kurz zögerlich inne, bevor es noch kräftiger zurückkehrte.

>>Touya? Ist alles in Ordnung?<<

Er kannte die Stimme.

Sein von Schmerz benebeltes Hirn brauchte eine Sekunde, um sie richtig zuzuordnen, bevor sich seine Augen schockiert weiteten. Tomura.

Fuck. Genau derjenige, den er jetzt nicht gebraucht hatte ...

>>Geh weg ... <<, zischte er so abweisend, wie er es im Moment zustande brachte.

Er hatte keine Ahnung, ob man ihn durch die Tür hindurch verstanden hatte, doch das Klopfen verschwand. Schwerfällig rappelte er sich auf und musste weitere, tiefe Atemzüge nehmen, als ihn eine neue Welle des Schwindels überrollte.

>>Ich weiß, dass die Situation heute Morgen echt scheiße war, aber ich denke, es hilft uns beiden mehr, darüber zu sprechen, als uns zu ignorieren. Kannst du mich reinlassen? Bitte?<<

Oh Hölle, nein!

Touya konnte sich an nicht mehr viel erinnern, was nach seinem Gespräch mit Tomura passiert war. Er hatte alles stehen und liegen gelassen und war so schnell von dem Ort geflohen, wie seine Beine es ihm erlaubt hatten.

Es war ihm egal gewesen, ob es sich um einen Schultag handelte oder nicht. Er hatte einfach nur weggewollt!

Er erinnerte sich daran, wie schnell sein Herz geschlagen hatte. Wie zornig er gewesen war und wie schwer es ihm gefallen war, einen richtigen Atemzug zu nehmen.

Dann war er irgendwann auf ihrer Couch aufgewacht. Sein Haar von Schweiß verklebt und sein gesamter Körper von einem brennenden und gleißenden Schmerz erfasst. Er wusste nicht, wieviel Zeit seither vergangen war, wieviele Unterrichtsstunden er verpasst hatte oder wieviele besorgte Anrufe sich mittlerweile auf seinem Handy angestaut hatten.

Er war einfach so wütend und erschöpft gewesen.

Mühsam hob er seinen schmerzenden Kopf und sah aus dem Fenster. Heute früh war die Welt noch still und dimmrig gewesen, nun strahlte die Sonne mit so viel Kraft durch die Glasscheibe hindurch, dass er die Augen zusammenkneifen musste.

Ein weiteres Klopfen durchschnitt den Moment.

>>Touya, komm schon. Ich weiß, dass ich unfair dir gegenüber war und dich dadurch verletzt habe. Es tut mir Leid, wirklich. Lass uns bitte einfach darüber sprechen, okay? Ich möchte mich erklären. Ich möchte es nur nicht mit einer Tür zwischen uns tun.<<

Tomuras Stimme klang schwach und dumpf durch das Pochen in seinem Schädel.

Stöhnend hielt er sich eine Hand an seine brennende Schläfe und ignorierte den Schmerz und den Schwindel, so gut er konnte, während er sich langsam aufrichtete.

Er wusste nicht genau, was mit ihm los war. Vermutlich handelte es sich um eine Abwehrreaktion seines schwachen Körpers gegen den Stress, dem er heute Morgen ausgesetzt war.

Am Anfang war ihm dasselbe jedes Mal passiert, wenn Muscular sich ihm mit einem boshaften Grinsen und erhobenen Fäusten genähert hatte. Kopfschmerzen, Schwindel. An besonders üblen Tagen ein ganzer Kreislaufzusammenbruch. Er hatte gefühlte Stunden allein in der Schultoilette gelegen, bis ihn endlich jemand gefunden hatte.

Sein ohnehin schon fragiler Körper fand keine Methode, um mit all dem Stress und dem Adrenalin fertigzuwerden, also zwang er Touya auf beinahe brutale Weise dazu, zur Ruhe zu kommen.

Irgendwann waren die Begegnungen mit Muscular zur Gewohnheit geworden und sein Körper hatte sich den schmerzhaften Gegebenheiten angepasst, ohne jedes Mal eine Ohnmacht einzuläuten. Die Situation mit Tomura war jedoch neu gewesen, unvorbereitet. Etwas, auf das er und sein Körper sich nicht hatten einstellen können, also waren die alten Muster zurückgekehrt.

Mit schwachen Schritten taumelte er in den Flur. Er musste sich an der Wand abstützen, um nicht noch einmal zu fallen.

Vor der Tür und dem Jungen dahinter hielt er inne und ... Wartete ab.

Er hatte weder die Nerven, noch die Kraft dazu, um noch einmal das Gespräch von heute Morgen zu führen. Er war Tomura immer noch böse, wenn auch nicht mehr ganz so extrem.

Er verstand dessen Gründe und Motive, doch er hasste dessen Methoden. Er hasste es, dass Tomura einfach ohne sein Wissen gehandelt hatte. Dass er den Namen Enji Todoroki in den Mund genommen hatte, ohne zu wissen, was er wirklich bedeutete.

Also, nein. Er hatte absolut keine Lust darauf, sich in diesem Zustand noch einmal mit Tomura zu streiten.

Zudem ... wollte er nicht, dass der Junge ihn so sah. So ausgezerrt und verletzlich. Ein Schwächling, welcher nicht mal den Launen seines eigenen Körpers standhalten konnte.

Fucking Tomura Shigaraki!

Der Andere hatte sich geduldig Touyas Vertrauen und Zuneigung erschlichen, nur um alles seinem eigenen Willen zu beugen. Schlimmer noch, er hatte es getan, um Touya zu helfen. Die Ironie darin verstand sich von selbst.

Eigentlich sollte er sofort auf dem Absatz kehrt machen und diesen Lügner dort stehen lassen. Es wäre das, was Tomura verdient hätte und doch ... konnte er nicht anders, als im Flur zu verharren.

Er blieb, stumm und wartete.

Nachdem sich das Schweigen schier endlos hingezogen hatte, erklang schließlich ein Seufzen und dann das leise Rascheln von Papier.

>>Okay. Ich habe verstanden, du willst nicht mit mir reden. Das ist okay. Ich zwinge dich nicht dazu. Ich hoffe nur einfach, dass es dir gut geht und wir bald persönlich darüber sprechen können. Wann immer es dir besser geht und du bereit dazu bist. Die Lehrer haben nach dir gefragt. Sie konnten deine Mutter nicht erreichen. Ich hoffe, du kriegst keinen Ärger ... <<

Eine kurze Pause. Dann:

>>Ich weiß nicht, wieso ich das überhaupt erwähne. Was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass ich dir die Hausaufgaben und so von heute mitgebracht habe. Ich lege sie dir vor die Tür.<<

Auf der anderen Seite hörte er, wie Tomura das Papier ablegte.

Eine eigentümliche Stille breitete sich zwischen ihnen aus.

Tomura schabte leicht mit den Füßen hin und her, anscheinend unsicher darüber, was er als nächtes tun sollte. Dann schnaufte der Weißhaarige und Touya konnte praktisch vor sich sehen, wie dieser den Kopf schüttelte.

>>Oh, und Touya? Es tut mir Leid. Ich bereue nicht, was ich getan habe, aber ich bereue, dass ich es nicht vorher mit dir besprochen habe. Dass ich dir dadurch weh getan habe. Ich ... ich hoffe, dass es dir bald besser geht und wir miteinander reden können.<<

Tomura blieb noch einen Moment lang vor der Tür stehen, anscheinend in der Hoffnung, dass Touya es sich anders überlegen und ihm doch aufmachen würde.

Er schwieg nur weiterhin. Die Tür blieb verschlossen - Er drinnen und Tomura draußen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit verhallten die Schritte des Jungen endlich auf der Treppe und er schaffte es, wieder einen normalen Atemzug zu nehmen.

Naja, so normal, wie sein Körper es ihm in dieser Situation erlaubte ...

Seine Brust fühlte sich unangenehm eng an und sein Kopf dröhnte noch immer mit diesem unerträglichen Schmerz.

Eigentlich hatte er vorgehabt, sich ein wenig frisch zu machen. Ein Bad zu nehmen, sich die Haare zu kämmen und sein schweißdurchnässtes T-Shirt zu wechseln. Stattdessen fühlte er, wie der Schmerz und Schwindel ihn nur weiter in die Knie zwangen.

Schwerfällig ließ er sich mit dem Rücken gegen die Wand im Flur sinken und schloss die Augen. Der kalte Putz presste unangenehm in seinen Rücken, doch er war zu erschöpft, um aufzustehen.

Er musste sich ausruhen. Nur für 5 Minuten. Nur, bis es ihm wieder besser ging ...

Er nahm einen weiteren Atemzug und behielt die Augen geschlossen.

Alles war so laut. Alles war so viel.

Er fühlte, wie er sank. Immer tiefer und tiefer.

Dann war alles schwarz.

°

>>Touya Todoroki! Hast du deinen Verstand verloren?<<

Touyas Körper war schon immer schwach gewesen.

Es hatte begonnen, als er noch ganz klein gewesen war. Sein Vater war voller stolz und Ambitionen für ihn gewesen. Sein erstgeborener Sohn, ein Kind mit dem Blut von Enji Todoroki in seinen Adern. Ein starker Junge, der springen, laufen und die ganze Welt zähmen konnte, wenn er sich nur genug anstrengte.

Er war dazu bestimmt gewesen, seinen Vater stolz zu machen. Zu einer neuen, besseren Version von dem Mann heranzuwachsen und sein Erbe weiterzutragen.

Stattdessen hatten Touyas Muskeln und Knochen eine Rebellion gestartet und schließlich hatte sich sein gesamter Körper gegen ihn gewendet.

Er war gerade einmal 5 Jahe alt gewesen, als er seinen ersten Kreislaufzusammenbruch erlitten hatte. Er war auf dem Rücken gelandet, wie ein gestrandeter Seestern und hatte weder etwas sagen, noch sich bewegen können. Er erinnerte sich daran, wie seine Mutter ihn sanft in ihren Armen auf und ab gewogen hatte, während sie ihm liebevolle Worte zugeflüstert hatte.

Sein ... sein Vater hatte ihn dagegen nur mit einem eiskalten Blick gemustert, bevor er den Raum verlassen hatte. Offene Schwäche war nichts, was Enji Todoroki aktzeptierte oder womit er etwas zu tun haben wollte.

Wenige Tage später hatte der Arzt ihnen erklärt, dass Touya zwar rein theoretisch kerngesund war, doch sein schwacher Körper immer ein Risiko darstellen würde. Er konnte nicht mit Stress umgehen. Bei Überanspruchung und dem Überschreiten seiner eigenen Grenzen schüttete sein Körper so viel Cortisol aus, dass es schließlich zum Kreislaufzusammenbruch führte.

Er war noch zu klein gewesen, um diese Nachricht wirklich zu verstehen. Sein Vater jedoch ... er hatte es verstanden.

Mit den Jahren war Touya immer mehr und mehr von dem geliebten Sohn, welchem eine blühende Zukunft bevorstand, zu einer unbeachteten Dekoration geworden. Für seinen Vater hatte er aufgehört zu existieren. Er war nicht mehr Touya Todoroki, sein starker Sohn. Er war ein Fehler. Ein fehlgeschlagenes Experiment. Eine Enttäuschung ...

Es hatte nicht lange gedauert, bis das strahlende und intensive blau der Augen seines Vaters kalt und verschlossen geworden war, sobald dieser in Touyas Richtung sah. Der Blick der Enttäuschung. Passend für den Sohn der Enttäuschung. Als Enji Todoroki zum ersten Mal die Hand gegen ihn erhoben hatte, hatte er gewusst, dass er nicht mehr geliebt wurde.

Er war zu schwach gewesen. Zu fragil, zu enttäuschend. Eine Schande für alles und jedem in seinem -

>>Touya, verflucht noch mal! Was hast du dir dabei gedacht?<<

Er riss die Augen auf, als fremde Hände ihn an den Schultern rüttelten und eine scharfe Stimme die Stille durchschnitt. Er blinzelte voller Verwirrung und entdeckte das aufgebrachte Gesicht seiner Mutter vor sich. Ihr weißes Haar war zerzaust und ihre Wangen gerötet. Sie trug noch immer eine Jacke und Straßenschuhe und starrte ihn mit so viel Wut an, dass er schluckte.

Sie schüttelte ihn noch einmal, als er nicht antwortete.

>>Hast du eine Idee davon, was für einen Schreck du mir eingejagt hast?! Erst bekomme ich einen besorgten Anruf von deiner Schule, dass du nicht zum Unterricht erschienen bist. Dann kann ich dich nicht auf deinem Telefon erreichen. Und jetzt finde ich dich hier so vor? Touya, meine Güte! Ich dachte, dir wäre etwas Schlimmes passiert oder du wärst tot umgefallen! Kannst du dich nicht einfach vorher bei mir melden, wenn du beschließt, einfach nicht zur Schule zu gehen?<<

Seine Mutter schwor nicht.

Sie machte sarkastische Bemerkungen und lachte über schwarzen Humor, doch sie schwor so selten, wie ein Fisch das Wasser verließ. Sie hatte eine beinahe schon beeindruckend ruhige und ausgeglichene Art. Sie versuchte immer, es den Leuten recht zu machen und Niemandem ein schlechtes Gefühl zu geben.

Manchmal vergaß er dadurch, dass in ihr immer noch die helle Flamme einer Kämpferin loderte.

Er schluckte verunsichert und starrte in ihr wutentbranntes Gesicht.

Ihre Augen waren so voller Zorn, wie sie es seit Jahren nicht mehr gewesen waren. Die letzte Person, welche sie vermutlich mit einem solchen Blick betrachtet hatte, war sein Vater gewesen.

Voller Wut und Verachtung.

Voller Enttäuschung.

Ich bin nicht mein Vater ...

>>Mir ging es nicht gut ... <<

Er versuchte, sich zu erklären, doch seine Stimme hörte sich selbst für seine eigenen Ohren klein und schwach an. Seine Mutter verengte die Augen und schnaufte gereizt, während sie von oben auf ihn herabstarrte.

Er fühlte sich klein unter ihrem Blick. So klein ...

>>Ach ja? Dir ging es also nicht gut und statt mich kurz anzurufen und mir zu erklären, was los ist, hast du also beschlossen, einfach zu verschwinden? Denk doch bitte einmal nach, Touya!<<

>>Ich habe nicht daran gedacht. Mir ging es schlecht und - <<

Rückblickend war dies vermutlich der Moment, in welchem alles so richtig zu Bruch ging.

Es war schlimm genug, dass sie ihn anschrie, doch das war nicht das Übelste an der Situation. Nein, das, was ihn so richtig zerbrechen ließ, war, dass sie ihn nicht zu Wort kommen ließ. Sie interessierte sich nicht für Touyas Meinung, weil diese eh nicht zählte. Er hatte keine Stimme. Nichts von dem, was er sagte, hatte irgendeine Bedeutung ...

>>Ja, das haben wir schon geklärt! Du scheinst aber auch nicht über die Konsequenzen für mich nachzudenken, oder? Ich kann nicht einfach von Arbeit verschwinden, nur weil du mir nicht sagst, was mit dir los ist! Wir waren mitten in einer Forschungsstudie! Als ich gesehen habe, dass die Schule versucht hatte, mich zu erreichen, waren drei Stunden um! Weißt du, was für Sorgen ich mir gemacht habe?!<<

Man müsste meinen, er war es gewohnt, dass man ihn anschrie.

Bei seiner Mutter war es jedoch etwas anderes. Sie hatte noch nie die Stimme gegen ihn erhoben. Nicht aus purer Wut heraus ...

Er fühlte, wie er zusammenzuckte und sich instinktiv kleiner machte. Seine Augen weiteten sich und seine Pupillen wurden groß, wie bei einem verängstigten Tier.

>>Es tut mir Leid ... <<, flüsterte er.

Er wollte sich erklären, doch er hatte Angst davor, wie die Reaktion auf seine Worte ausfallen würde.

>>Tja, das bringt mich jetzt leider auch nicht mehr weiter! Was machst du überhaupt hier auf dem Boden? Denkst du nicht, dass es dich noch kranker machen wird, die ganze Zeit auf dem kalten Laminat zu hocken? Touya, echt jetzt!<<

Die Stimme seiner Mutter war nicht mehr so laut, wie zuvor, doch mit derselben gefährlichen Gereiztheit.

Ihre Hände gestikulierten beim Sprechen wild in der Luft und ließen ihn unweigerlich zusammenzucken. Seine verschreckte Reaktion schien ihr nicht aufzufallen. Dafür war sie viel zu sehr von ihrer eigenen Wut eingenommen.

Er hatte so eine Situation schon einmal durchgemacht. So viele Male ...

Er erinnerte sich glasklar an jedes Einzelne. Jeden schrecklichen Moment davon. Und plötzlich waren die Haare seiner Mutter nicht mehr weiß, sondern rot wie Feuer. Ihre Schultern wurden breiter und stämmiger, wie ein Berg, der über ihm aufragte und ihre Augen ... Ihre Augen glühten vor Hass und Abscheu in demselben eiskalten blau, welches ihn mit jedem Blick in den Spiegel verfolgte.

So kalt. So voller Enttäuschung ...

Sieh mich nicht so an!

>> - ya! Touya Todoroki! Kannst du mir wenigstens zuhören, wenn ich mit dir rede?<<

Sein Kopf schnellte vor Schreck so schnell nach oben, dass er sein Genick knacken hörte.

Ihre Stimme ... Ihre Stimme war nicht mehr weich und sanft, sondern tief und rau, wie das bedrohliche Knurren eines Raubtieres.

Sein Atem stockte in seiner Kehle und sein Herz hämmerte so schnell in seiner Brust, dass es beinahe schmerzhaft war.

>>Komm schon, steh auf! Du erkältest dich sonst noch und das kann ich überhaupt nicht gebrauchen!<<

Ihr Ton war befehlend und ließ keine Widerworte zu.

Er versuchte, ihr zu antworten, sich zu bewegen - irgendwas zu tun - doch er war festgefroren. Sein Atem war vor Panik in seiner Kehle zugeschnürt, während sein Herz so schnell schlug, als wollte es durch seine Rippen brechen.

Hör auf.

Hör auf, mir Angst zu machen.

Er wusste, dass das da vor ihm nicht Enji sein konnte. Sein Vater saß im Gefängnis, weit weg von hier. Er konnte nicht hier sein. Das konnte er nicht. Es machte gar keinen Sinn!

Und doch waren da diese eisigen, blauen Augen, welche ihn von oben herab betrachteten. Diese harte Stimme welche ihm nichts als Befehle entgegen brüllte. Es war nicht Enji. Es konnte nicht Enji sein. Und doch -

Er war steif und stumm.

Seine Mutter betrachtete seine bewegungslose Gestalt einen Moment lang abschätzig, bevor sie schließlich die Geduld verlor.

>>Jetzt komm, steh endlich auf! Sitz nicht einfach hier!<<

Ihr Arm preschte zu ihm nach vorn. Mit einem klaren Verstand hätte er vermutlich erkannt, dass sie ihn nur hochziehen wollte, doch in diesem Moment sah er nur die ausgestreckte Handfläche, die in seine Richtung flog.

Es waren Millisekunden, in denen sein Instinkt übernahm und er das tat, was er all die Male davor getan hatte. Er kauerte sich auf dem Boden zusammen, machte sich so klein, wie er konnte und hielt sich die Arme über den Kopf. Verängstigt. Sich selbst beschützend.

>>Warte! Warte bitte! Es tut mir Leid! Es tut mir Leid, tut mir Leid, tut mir Leid! Ich mache es besser! Das nächste Mal mache ich es besser, das verspreche ich!<<

Seine Augen waren weit aufgerissen und starrten ins Nichts. Seine panische Stimme wurde von Schluchzern geschüttelt, die tief aus seiner Brust drangen, während er sich immer und immer wieder entschuldigte.

Sein ganzer Körper zitterte und bebte, während es im Raum schlagartig mucksmäuschenstill wurde.

In dieser Position konnte er die Reaktion seiner Mutter nicht erkennen, doch er hatte zu viel Angst vor den Konsequenzen, wenn er seine Arme herunter nahm.

>> ... Touya?<<

Ihre Stimme war leise. Leise und ängstlich, als fürchte sie, er würde auseinanderfallen, wenn sie zu laut war.

Vielleicht würde er das auch ...

Er vernahm ein Rascheln vor sich, dann hörte er, wie sich jemand neben ihm auf den Boden sinken ließ. Aus Instinkt heraus, krampfte er noch weiter zusammen und schlang seine Arme enger um seinen Schädel.

Er wusste ganz genau, was jetzt kommen würde.

Gleich würde man ihn am Handgelenk packen und vom Boden zerren. Er würde versuchen, sich zu wehren und einen Schlag in den Magen oder gegen den Kopf bekommen. Er würde vermutlich schreien und es würde weh tun. Es -

>>Oh, Touya ... <<

Die Stimme neben ihm war wieder weich und sanft. Weich und sanft. So wie er seine Mutter kannte und liebte.

Dennoch verharrte er regungslos in seiner Position. Zu tief saß der Schreck in seinen Knochen fest.

>>Oh Mäuschen. Ich wollte nicht ... <<

Er konnte die Reue und die Trauer aus ihrer Stimme heraushören, während sie sanft auf ihn einredetete. Ein weiteres Schluchzen entfloh seiner Brust und er fühlte, wie etwas heißes seine Wange hinab rann.

>>E- Es ... Es tut m-mir Leid ... <<, krächzte er atemlos.

Er konnte kaum sprechen. Jedes Wort wurde von einem Schluchzen durchgeschüttelt und sein Atem reichte kaum für einen ganzen Satz.

>>Shhh, ist schon gut! Du musst dich für nichts entschuldigen. Es tut mir Leid, dass ich überreagiert und dir damit Angst gemacht habe.<<

Auch wenn er es nicht sehen konnte, spürte er ihren besorgten Blick auf sich, während sie neben ihm kniete.

Er wünschte sich, die Dinge wären anders.

Er wünschte, er könnte einmal in seinem Leben einen Streit führen, ohne sofort in eine Panikattacke zu verfallen, wenn jemand die Stimme gegen ihn erhob. Er wünschte, er könnte einfach ein normaler Junge sein, doch die Erinnerungen an seine Vergangenheit waren wie Bluthunde, welche ihm solange hinterherjagten, bis seine Beine schließlich unter ihm nachgaben.

Es waren winzige Aufblitze seiner Erinnerung. Bilder seiner Mutter - schreiend und tränenüberströmt - wie sie vor der riesigen Gestalt Enji Todorokis kauerte und verzweifelt versuchte, ihre Kinder zu beschützen. Sein Vater, welcher sie mit Leichtigkeit aus dem Weg stieß und seine Hände stattdessen nach Touya ausstreckte. Riesige, grobe Hände mit rauen Handflächen und spitzen Fingern, welche sich in seinem Haar vergruben und zogen.

Er wusste nicht, ob sein Vater ihn jemals als Baby gehalten hatte. Ob er ihn sanft in den Armen hin- und hergewogen hatte, wie seine Mutter es tat. Er konnte sich die Berührung von Enji Todoroki als nichts anderes, als grausam und brutal vorstellen ...

Nachdem sein Vater über die schwachen Konstitutionen von Touyas Körper herausgefunden hatte, hatte er viel Zeit darin investiert, seinen Frust an seinem Sohn auszulassen, um ihn mit all den Schlägen und Tritten abzuhärten. Ihn resistent gegen den Schmerz zu machen.

Es war überflüssig, zu erwähnen, dass diese Methode keine Wirkung gezeigt hatte.

Wenn überhaupt, dann hatte sie nur dafür gesorgt, dass Touya in jedem Mann, in jeder Hand und jeder schnellen Bewegung eine potentielle Bedrohung erkannte.

Er sah Schmerz. Überall Schmerz.

Jeden Tag. Jede Stunde. Jede Minute.

Schmerz.

>>Ich ... ich dachte, du würdest mir weh tun ... <<, schluchtzte er mit zittriger Stimme.

Er wischte sich die Nase an seinem Armrücken ab und schluckte den Kloß in seiner Kehle herunter.

>>Niemals! Touya, mein Spatz. Ich würde dir nie weh tun. Ich würde dich niemals schlagen, mein Engel! Es tut mir so Leid, dass es so gewirkt hat. Bitte verzeih mir, mein Liebling.<<

Er schluckte noch einmal und wischte sich eine verirrte Träne weg.

Seine Mutter machte einen sanften, beruhigenden Laut in ihrer Kehle, bevor sie ein Stück näher zu ihm rückte. Im ersten Moment krampfte er instinktiv zusammen, doch nichts geschah. Seine Mutter wartete geduldig und ohne eine Beschwerde, bis er wieder einigermaßen zur Ruhe gekommen war.

Aufmerksam. Freundlich. Rei Todoroki.

Nicht Enji.

>>Darf ich dich berühren, mein Spatz?<<

Normalerweise musste sie nicht nachfragen. Touya war geradezu ausgehungert nach Liebe und nahm dankend jedes Fünkchen Zuneigung an, welches sie ihm schenkte.

In diesem Moment war er über ihre Vorsicht jedoch erleichtert.

Er wollte ihre warme und sanfte Berührung nicht unfreiwillig mit den bitteren Erinnerungen in seinem Kopf verwechseln.

Das hier war seine Mutter. Rei Todoroki. Nicht Enji.

>>Mmmh ... <<, murmelte er er und lugte leicht unter seinen schützenden Armen hervor.

Er fühlte sich immer noch nicht vollständig sicher, doch die Augen seiner Mutter waren warm, als er ihrem Blick begegnete. Nicht blau und eiskalt, sondern warm und freundlich.

Langsam hob sie ihre Hand. Ihre Bewegungen waren vorsichtig und bedacht, um ihn nicht weiter zu verschrecken.

Dies war nicht das erste Mal, das sie beide sich in so einer Situation befanden.

Zuerst war es nur eine vorsichtige Berührung, als seine Mutter ihre Hand auf seiner Schulter ablegte. Er spannte sich kurz an. Sein Körper merkte jedoch schnell, dass die Hand nicht das Ziel hatte, ihm zu schaden.

Schließlich glitt ihre Handfläche sanft auf und ab und lockerte die angespannten Muskeln in seinem Rücken. Er seufzte kaum merklich und spürte, wie die Empfindungen langsam und kribbelnd in seine tauben Glieder zurückkehrten.

>>Na siehst du? Alles ist gut.<<, hörte er sie liebevoll neben sich murmeln.

Seine Arme entspannten sich und sanken ein Stück herab, doch er gab seine Verteidigungshaltung noch nicht ganz auf. Die Angst saß noch immer kalt und lähmend in seinen Knochen, während weitere stille Tränen seine Wangen hinunter strömten.

>>Es ist alles gut, mein Schatz. Alles in Ordnung.<<

Sanft streichelte ihre Hand seinen Arm hinauf und hinunter. Die Eisenkette, welche noch Momente zuvor seine Brust eingeschnürt hatte, fiel lautlos von ihm ab und zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit konnte er einen richtigen Atemzug nehmen.

Seine Mutter bemerkte, wie er gierig nach Luft schnappte und summte ihm beruhigend zu.

>>Genau so, Touya. So ist es gut. Einen Atemzug nach dem Anderen. So ist es gut, mein Junge.<<

Sie machte es ihm vor. Er beobachtete, wie ihre Brust sich im rhythmischen Takt hob und senkte und ahmte es ihr nach.

Tief einatmen. Die Luft drei Sekunden lang halten. Tief ausatmen.

Er kannte diese Übungen. Seine Therapeutin hatte sie empfohlen, wenn seine Panik und sein Traumata ihn mal wieder überwältigten. So sehr er die Therapiestunden auch gehasst hatte, die Übungen halfen. Das musste er zugeben.

Schon bald atmeten sie beide im Gleichtakt.

Süße Erleichterung durchströmte seinen Körper und ließ ihn sich geradezu schwerelos fühlen. Seine steifen Schultern sackten endlich herab und auch seine Arme gaben ihre schützende Haltung auf.

Jetzt, wo sein Fokus nicht mehr allein auf seiner Panik lag, spürte er auch seine pochenden Kopfschmerzen wieder, doch sie störten ihn nicht mehr so sehr, wie zuvor.

Es war seltsam, doch der Schmerz war leichter zu ertragen, wenn er nicht allein war.

>>Geht es dir besser, Spatz? Du siehst nicht mehr so blass aus ... <<, bemerkte seine Mutter und fühlte sanft seine Stirn.

Ihre Hand war warm und weich auf seiner nackten Haut und er konnte nicht anders, als sich in ihre liebevolle Berührung zu lehnen. Sie brummte nachdenklich, bevor sie ihn besorgt von allen Seiten musterte.

>>Deine Temperatur ist ein bisschen hoch.<<

>>Ich habe Kopfschmerzen.<<, antwortete er leise.

Seine Kehle war noch immer eng und rau, doch er konnte zumindest sprechen.

>>Bist du aus dem Grund Zuhause geblieben?<<, fragte sie.

Ihre Augen waren voll und ganz auf ihn gerichtet und er schluckte.

Schuldgefühle krochen in ihm hoch, sodass er den Blick reuevoll abwandte und die Hände vor seine Knie schlang.

>>Tut mir Leid ... <<, murmelte er.

Er biss sich auf die Innenseite seiner Wange und fühlte das schroffe Narbengewebe, von all den anderen Momenten, in denen er sich auf diese Stelle gebissen hatte.

>>Touya, hey! Es ist in Ordnung, wirklich. Du solltest nicht zur Schule gehen, wenn es dir schlecht geht. Sag mir nur das nächste Mal bitte Bescheid, sodass ich mir nicht noch mehr Sorgen machen muss.<<

Ihre Stimme beherbergte kein Fünkchen des ursprünglichen Zorns mehr. Sie war weich und sanft, genau so wie ihre Hand, welche vorsichtig über seine fiebrige Stirn streichelte.

Dennoch schrumpfte er bei ihrer Aussage ein Stück zusammen.

>>Ich habe nicht daran gedacht. Ich bin aufgewacht und hatte diese Kopfschmerzen. Ich muss eingeschlafen sein. Ich hab alles um mich herum vergessen! Es tut mir Leid, ich - <<

Seine Stimme brach und eine neue, heiße Träne quoll aus seinen Augen. Sie floss seine Wange hinab, doch bevor sie zu Boden fallen konnte, fingen elegante Finger sie auf.

>>Touya, mein Spatz. Du musst dich nicht dafür entschuldigen, dass es dir schlecht geht. Jeder erlebt das ab und zu. Es ist nichts Falsches daran, nichts, wofür man sich schämen muss!<<

>>Aber ich habe dich enttäuscht ... <<, flüsterte er und hob zögerlich den Blick.

Er hatte Angst davor, ihr in die Augen zu schauen und die Wut darin zu erkennen. Die Verachtung und Enttäuschung.

Touya war es gewohnt, eine Enttäuschung für alles und jeden in seinem Umfeld zu sein.

Selbst, wenn die Menschen nichts sagten, reichten ihre missbilligenden Blicke vollkommen aus. Ihm war von klein auf beigebracht worden, wie schwach und fragil er doch war. So vollkommen verschieden von dem starken und mutigen Sohn, nach welchen sich sein Vater gesehnt hatte. Er war eine nutzlose Dekoration, die nicht mal den Ansprüchen seiner eigenen Geburt gerecht werden konnte.

Seine Therapeutin hatte ständig versucht, ihm diese Denkweise auszureden. Sie hatte alle möglichen Mittel und Methoden ausprobiert, doch was sie nicht verstanden hatte, war, dass Touya kein Zirkustier war.

Man konnte ihm nicht einfach jahrelang irgendeine Verhaltensweise beibringen. Sie in seinen Schädel eintrichtern und ihn genau darauf abrichten. Nur um schließlich zu verlangen, dass er einen neuen Trick lernte. So funktionierte das nicht. Er konnte nicht einfach aufhören, so zu denken, nur weil es ihm nett gesagt wurde. Er -

Er spürte die Finger unter seinem Kinn, welche zärtlich seinen Kopf anhoben.

Im ersten Moment schreckte er zusammen und weitete die Augen. Seine Mutter wirkte ebenso überrascht und ließ schnell von ihm ab.

>>Oh, tut mir Leid! Das war unvorsichtig von mir, bitte verzeih. Geht es wieder, Touya?<<

Er nahm einen tiefen, beruhigenden Atemzug, während er ihrem Blick begegnete. Ihrem warmen und liebevollen Blick.

Das hier war immer noch Rei und nicht Enji Todoroki.

>>Ja ... Geht schon.<<, flüsterte er.

Seine Mutter wirkte nicht besonders überzeugt. Dennoch rückte sie vorsichtig näher und streckte ganz langsam eine Hand nach ihm aus. Diesmal sah er die Berührung kommen und war darauf vorbereitet.

Er seufzte wohlig, als elegante Finger zärtlich durch sein Haar fuhren und seine Kopfhaut massierten. Die Berührung war leicht und prickelnd und jagte ein angenehmes Schaudern seinen Rücken hinab.

>>Ich bin nicht enttäuscht von dir, Spatz.<<

Er blinzelte und legte den Kopf schief. Ihre Worte waren leise und zart. Ein Windhauch in der Stille. Dennoch waren sie wie Balsam für seine wunde Seele. Sie kühlten die Verbrennung und verbanden sein Herz mit weichen Tüchern.

>>Ich bin manchmal wütend und leicht reizbar, ich weiß. Es war eine stressige Zeit für uns alle, da ... da kann ich mich manchmal einfach nicht beherrschen. Das ist keine Entschuldigung dafür, dass ich dich angeschrieen und so mies behandelt habe. Du hast dich nicht gut gefühlt und hattest Schmerzen und ich hab dich auch noch dafür verurteilt. Das tut mir Leid. Es tut mir wirklich Leid, Touya. Bitte verzeih mir. Das hier ist nicht deine Schuld, mein Spatz.<<

Er fühlte, wie sie ihre Wange auf seinem Kopf ablegte und schluckte. Irgend etwas in seiner Brust erweichte bei der sanften Berührung und eine weitere Träne rann seine Wange hinab.

Sie murmelte ihm sanft zu, während ihre Finger zärtlich über seine Schläfen strichen. Er schmolz vollkommen dahin, als sie einen Kuss auf seiner Stirn ablegte.

>>Ich bin nicht enttäuscht von dir, Touya. Das könnte ich niemals sein. Wie könnte ich denn von so einem freundlichen und wundervollen Sohn enttäuscht sein, hmm? Ich bin es eher selbst, auf die ich wütend bin. Ich sollte dich nicht anschreien und dich beschuldigen. Ich bin deine Mutter, also sollte ich es besser wissen. Du hast nichts falsch gemacht, Touya. Du machst nie etwas falsch. Nicht so, dass ich wütend auf dich sein könnte. Und selbst wenn. Jeder von uns macht Fehler. Niemand sollte eine andere Person schlecht behandeln, nur weil man einen Fehler gemacht hat. Das war ungerecht und das tut mir Leid. Ich bin so stolz auf dich, Touya.<<

Er schniefte und lehnte sich in ihre warme Handfläche. Für einen Moment schloss er die Augen und achtete auf seine Atmung.

Tief einatmen. Drei Sekunden lang halten. Tief ausatmen.

So, wie sie es ihm gezeigt hatte.

>> ... Du bist nicht wütend auf mich?<<

>>Nein.<<

>>Und du bist nicht enttäuscht von mir?<<

>>Nein. Nein, das bin ich nicht, Touya.<<

Er nickte still und lehnte sich weiter in ihre Berührung.

Ihm war plötzlich schrecklich bewusst wie hart die Wand an seinem Rücken und wie kalt das Laminant unter ihm war.

Beiläufig fragte er sich, wie lange er hier wohl gesessen hatte, bis seine Mutter ihn gefunden hatte?

>>Ich bin müde ... <<, murmelte er.

Passend zu seiner Aussage brach ein kleines Gähnen aus ihm heraus, welches seine Mutter zum Lachen brachte. Zärtlich strich ihre Hand über seine Wange. Er schmiegte sich an sie und spürte, wie seine Augenlider sanken.

Sein ganzer Körper fühlte sich auf einmal träge und schwer an.

>>Soll ich dich auf die Couch bringen? Ich denke, sie ist gemütlicher, als der Flur.<<

Er nickte nur und murmelte eine zustimmend Antwort.

°

Ab diesem Punkt verlief alles ganz schnell.

Seine Mutter rief auf ihrer Arbeitsstelle an und nahm sich für den Rest des Tages frei, sodass sie die Zeit mit Touya verbringen konnte.

Der Fernseher lief und zeigte irgendeine Tiersendung, welche seine Mutter mochte. Im Moment war er zu erschöpft, um den Geschehnissen noch große Beachtung zu schenken.

Sie unterhielten sich ein wenig. Sie fragte ihn, ob er wisse, was genau seinen Körper so sehr unter Stress gesetzt hatte. Er zuckte nur mit den Schultern und verneinte die Aussage.

Tomura erwähnte er mit keiner einzigen Silbe.

Die meiste Zeit über döste er einfach vor sich hin. Das Schlafen tat gut und schwächte seine Kopfschmerzen allmählich. Vielleicht war er auch einfach nur froh, dass jemand bei ihm war und den Schmerz linderte.

Irgendwann verschwand seine Mutter kurz, um seine Geschwister abzuholen und kehrte mit drei kleinen Kindern und vollgepackten Einkaufstüten im Schlepptau zurück. Sei kochte Donburi für sie, während sie seinen Geschwistern anwieß, sich leise zu dritt zu beschäftigen, um Touyas Kopfschmerzen nicht zu verstärken.

Hatte er jemals erwähnt, dass sie ein absoluter Engel war?

Das Abendessen verlief ruhig und gemütlich. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit besaß er das Privileg dazu, die volle Couch für sich allein zu beanspruchen und Oh, er nutzte diese Gelegenheit voll und ganz aus!

Am späteren Abend sammelte er die Kopien von dem Schulmaterial ein, welches Tomura ihm dagelassen hatte. Er stand im Konflikt mit sich selbst, ob er dem Jungen schreiben und sich bei ihm bedanken oder ihn weiterhin ignorieren sollte. Schließlich schüttelte er den Gedanken ab.

Tomura hatte ihn im Verlauf des Tages mehrmals angerufen. Anscheinend mit dem dringenden Bedürfnis danach, ihren Streit von heute Morgen noch einmal aufzugreifen und die Dinge zu klären. Touya war sich selbst nur allzu sehr bewusst, dass er mal wieder vor seinen Problemen davon lief, doch er ließ sein Handy genau so, wie er es heute Morgen zurückgelassen hatte.

Er war im Moment sicher nicht in der richtigen Verfassung für ein tiefgründiges und konfliktgeladenes Gespräch, welches seine komplizierte Situation mit Tomura nicht gerade vereinfachen würde. Er wusste nicht, ob er es jemals sein würde.

Die Momente mit Tomura waren so verdammt schön gewesen.

Es war ihm wie in einem Traum vorgekommen. Von einem Augenblick auf den anderen hatte er einfach alles bekommen, was er sich jemals gewünscht hatte. Verständnis. Wärme. Zuneigung ...

Es war so schön gewesen. Zu schön, um wahr zu sein.

Er hätte wissen müssen, dass diese perfekten Momente nicht ewig halten konnten. Er hatte sich nur so sehnlichst gewünscht, dass ihr Glück länger halten würde ...

Er wollte gar nicht erst daran denken, dass es erneut sein Vater gewesen war, der alles Schöne in Touyas Leben ruiniert hatte. Eigentlich wollte er überhaupt nicht an Enji Todoroki denken.

Er hatte den Mann schon vor langer Zeit aus seinem Leben verbannt und doch verfolgte dieser immer noch seine Gedanken, wie ein schwarzer Schatten an seinen Fersen. Es ließ ihn einfach nicht los, selbst nach Jahren des Vergessens. Das, was Enji getan hatte, war grausam und unverzeihlich. Es war eine blutige Tat gewesen, welche nicht nur mentale Narben bei Touya hinterlassen hatte.

Eigentlich sehnte er sich nach nichts mehr, als dass eine andere Person wirklich verstehen würde, was er durchgemacht hatte. Er wollte, dass die Leute wussten, dass seine Narben keine morbide Körperverschönerung, sondern der optische Ausdruck seines Leidens waren.

Er ... Er wollte, dass die Welt verstand, was er durchlebt hatte.

Gleichzeitig hielt er den Gedanken nicht aus, dass die ganze Schule über seine Vergangenheit tratschen würde, als wäre es nur ein weiteres, absurdes Gerücht über den vernarbten Freak.

Gott, er hatte zwar nicht viel Hoffnung in Jin, Shuichi und Himiko, doch er betete darum, dass sie ihre Klappen halten würden!

Er war immer noch böse darüber, dass Tomura ihnen davon erzählt hatte, doch sein Ärger brachte ihm auch nicht mehr viel.

Es war bereits zu spät.

Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als zu hoffen!

°

Die nächsten zwei Tage verliefen in einem ähnlich langsamen Tempo.

Er wäre zur Schule gegangen, doch seine Mutter hatte sich vor ihm aufgebaut und ihm unmissverständlich klargemacht, dass er sich auskurieren musste.

Also war er Zuhause geblieben.

Es hatte mindestens eine Stunde gebraucht, um seine Mutter davon zu überzeugen, dass sie ihn allein lassen und zur Arbeit gehen konnte. Dennoch hatte sie immer wieder angerufen, um sich zu vergewissern, dass es ihm tatsächlich gut ging.

Dieser Ausgleich zu seinem normalerweise stressigen und hektischen Alltag war ein Luxus, welchen er sich sonst nur selten gewährte. Diese Ruhe war ... angenehm. Die ganze Welt schien sich ein wenig langsamer zu drehen und er fand endlich einmal die Zeit dazu, durchzuatmen.

Am dritten Tag fand er sich erneut vor dem grauen Schulgebäude wieder.

Seine Nervösität kribbelte unerträglich in ihm und machte ihn geradezu hippelig.

In den letzten zwei Tagen hatte er Tomura kein einziges Mal kontaktiert, also hatte er auch keine Ahnung, was ihn erwarten würde.

Was war in der Zeit passiert, in der er nicht hier gewesen war?

Würde er gleich den Schulhof mit seiner schrecklich grauen Asphaltfläche betreten und sofort zum Mittelpunkt der gesamten Aufmerksamkeit werden? Nun, das hieß, mehr als sonst schon.

Er blinzelte und wich verunsichert ein Stück zurück, als eine Gruppe Schüler seinen Weg kreuzte. Er erkannte, dass es die Mädchen aus seinem Philosophiekurs waren. Sie waren bisher nie aktiv grausam gegenüber Touya gewesen. Meist ignorierten sie ihn einfach und taten so, als würden sie in einer anderen Welt leben, als er. Sie sprachen nur das Nötigste mit ihm, wenn sie dazu gezwungen waren und hielten ihn auf Abstand. Es gab keine Begrüßungen oder Smalltalk.

Auch jetzt spürte er ihre flüchtigen Blicke auf sich, bevor sie schnell in eine andere Richtung sahen und an ihm vorbei eilten. Sie kannten sich bereits seit Jahren und verbrachten die meisten Unterrichtsstunden der Woche in demselben Raum und doch schienen sie lieber weiterhin so zu tun, als wären sie Fremde füreinander, als sich einzugestehen, dass Touya ein normaler Junge aus ihrem Universum war.

Er war dieses Verhalten gewohnt.

Es störte ihn nicht mehr so sehr, wie am Anfang. Er hatte sich daran gewöhnt, der vernarbte Freak zu sein, vor dem die Leute lieber davonliefen.

Dennoch fiel es ihm heute schwer, all das herunterzuschlucken und so weiterzumachen, wie immer. All die Blicke, das Getuschel und die dummen Bemerkungen ...

Eigentlich war er damit vertraut. Heute fühlte sich all das jedoch so viel verletzender und unerträglicher an. Es war purer Horror, nicht zu wissen, hinter welchem Blick reiner Spott und hinter welchem echtes Wissen steckte.

Wer wusste von seiner Vergangenheit? Wer sah ihn an und erkannte in ihm nur die Fehler von Enji Todoroki?

War es das, was er schlussendlich war?

Ein Fehler. Der optische Asudruck des Leidens.

Er schüttelte sich bei dem bloßen Gedanken daran. Sein Leben war so schon viel zu kompliziert und schmerzhaft, um noch mitzuhalten. Das Letzte, was er brauchte, war, dass die ganze Schule hinter seinem Rücken über ihn und seine Vergangenheit tratschte, als wäre nur eine weitere Klatschgeschichte.

Er dachte an seine Familie. An Natsuo und Fuyumi, welche in ein paar Jahren selbst auf das Gymnasium wechseln würden. Er wollte ihnen um jeden Preis den Schmerz erspahren, ständig und überall die Kinder von Enji Todoroki zu sein. Wenn ihre Mitschüler die beiden ansahen, dann sollten sie Natsuo und Fuyumi erkennnen. Nicht mehr und nicht weniger.

Es reichte schon vollkommen aus, dass Touyas schlechter Ruf auf seine ganze Familie abfärbte. Er musste seine Geschwister auf jeden Fall davor beschützen, dass die Leute auch ihre schmerzhafte Vergangenheit gegen sie verwendeten!

Ihn hatte damals niemand beschützt. Er war ganz allein und auf sich gestellt gewesen.

Seine Mutter hatte alles getan, um ihre kleine, gebrochene Familie nach all den grauenvollen Ereignissen zusammenzuhalten. Sie hatte geschuftet und ihren eigenen Schmerz zur Seite geschoben, nur um für ihre Kinder eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Alles für ein besseres Leben. Einen Neuanfang.

Seine Mutter hatte wirklich alles gegeben - Blut, Schweiß und Tränen - nur um sie alle glücklich zu machen. Doch auch sie war nur ein Mensch. Sie hatte auch nur zwei Hände.

Sie konnte Touya nicht vor Allem beschützen. Erst recht nicht vor Gefahren, von denen er ihr nicht einmal erzählt hatte.

Wenn er jetzt so darüber nachdachte, dann wäre es vermutlich klüger gewesen, seiner Mutter von Anfang an von den Dämonen zu erzählen, welche jeden Tag zwischen den grauen Schulwänden auf ihn warteten ...

Hätte er gleich zu Beginn den Mut dazu aufgebracht, jemanden in diese Ereignisse einzuweihen, wäre es vielleicht nie so weit gekommen, dass er nicht einmal mehr mit seiner Familie schwimmen gehen konnte, ohne ständig die blauen Flecken an seinen Rippen bedecken zu müssen.

Tja, leider war dafür schon viel zu viel Zeit vergangen.

Es war zu spät, um jetzt noch nach Hilfe zu fragen. Es klang vielleicht pessimistisch, doch er machte sich nichts vor. Er steckte viel zu tief im Treibsand fest, um ihn jetzt noch herauszuziehen. Dafür würde man schon einen ganzen Kran benötigen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er schließlich endgültig versank.

Vermutlich war es ihm immer bestimmt gewesen, in seinem eigenen Leid und Schmerz zu ertrinken. Es verwunderte ihn nicht sonderlich, dass der Zeitpunkt dafür genau jetzt gekommen war.

Der Klumpen in seiner Kehle war viel zu dick und seine Hände zitterten viel zu sehr, dennoch kämpfte er sich weiter. Weiter und weiter. Weg von den spottenden Blick auf dem Schulhof, vorbei an der Schülermenge in der Aula und weiter durch die grauen Korridore des Gebäudes.

Er handelte auf Autopilot. Sein Verstand war wie mit Watte ausgestopft und er spürte nur noch die Nervösität in ihm. Den kalten Schweiß in seinem Nacken und die prickelnde Angst, welche viel zu tief in seinen Knochen steckte.

In einem der Gänge entdeckte er den flüchtigen Anblick von grell violetten Haaren und grüner Kleidung. Shuichi Iguchi.

Fuck.

Ohne lange zu zögern, wirbelte er herum und lief einen anderen Weg entlang, welchen der Junge hoffentlich nicht einschlagen würde. Ein Gespräch mit einem von Tomuras Freunden hatte ihm gerade noch gefehlt!

Sie alle wussten, was mit Touya passiert war. Es spielte keine Rolle, dass Tomura ihnen nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte. Niemand, außer Touya selbst, kannte die vollständige Geschichte, doch das sollte auch möglichst für immer so bleiben. Es genügte vollkommen, dass diese Leute wussten, was sein Vater ihm vor all den Jahren angetan hatte.

Lieber würde er sich jetzt sofort aus einem Fenster stürzen, als einem dieser Leute noch einmal in die Augen zu sehen!

Ihm war es egal, ob er an seinem Klassenzimmer vorbei lief. Seine Bewegungen fühlten sich mechanisch an.

Er wollte einfach nur noch weg!

Immer weiter und weiter.

Er war vollkommen gefangen in seinem Tunnelblick.

Dies war vermutlich der einzige Grund, weshalb er die schweren Schritte hinter sich erst bemerkte, als es bereits zu spät war.

Eine grobe Hand packte ihn von hinten an seinem Kragen und zog ihn so schnell herum, dass er mit den Rippen hart gegen die Wand neben ihm stieß. Ächzend kam er auf dem Boden auf und konnte sich gerade noch so mit den Händen abfangen.

Er versuchte, sich aufzurappeln, doch dieselbe unbarmherzige Hand packte ihn erneut am Kragen und riss ihn so unsanft nach oben, dass ihm schwindelig wurde.

Der anfängliche Schock verwandelte sich sofort in blanken Terror, als er realisierte, dass das hier kein unbedachter Scherz war. Diese Person war darauf aus, ihm wehzutun.

Hektisch schnappte er nach Luft und versuchte, dem festen Griff zu entkommen, doch er stand nicht mal mehr auf eigenen Füßen, sondern wurde von der fremden Hand in der Luft gehalten. Er erkannte die hasserfüllten Augen, welche auf ihn hinab starrten, als wäre er ein Stück Dreck. Dann roch er den warmen, stinkenden Atem, als der Junge damit begann, in sein Gesicht zu brüllen.

>>Aha! Welche kleine Schlampe haben wir denn hier? Erst tauchst du tagelang nicht hier auf und dann kommst du zurückgekrochen, als wäre nichts geschehen?!<<

Muscular war so wütend wie noch nie zuvor. Er hatte den Jungen schon oft genug in Rage erlebt, doch das hier war ... anders.

Dieser Zorn war heiß und frisch und allein auf Touya gerichtet. Es ging nicht darum, dass er der Sündenbock dieser verdammten Schule war und alles ausbaden musste, was in Musculars Leben schiefgelaufen war. Hier ging es um etwas Persönliches. Irgendeine von Touyas Handlungen musste Muscular so persönlich getroffen haben, dass der Junge es als seine Mission ansah, Rache an ihm auszuüben.

Gott - falls es dich da draußen wirklich gibt - steh mir bei! Ich weiß, du hasst mich in jeder anderen Situation auch, aber das hier kann ich nicht allein durchstehen!

>>Häh? Kannst du mir das mal bitte erklären, du dummes Stück Scheiße?!<<

Er nahm nicht an, dass Musculars Wut allein daher stammte, dass Touya ein paar Tage in der Schule gefehlt hatte. Dafür sprach der gleißende, rasende Zorn in Musculars Augen etwas anderes.

Seine Augen weiteten sich, wie bei einem verschreckten Reh, während die ganze Kraft seinen Körper in einem Schub verließ. Was hatte er getan? Was konnte er möglicherweise gemacht haben, dass Muscular so viel Zorn auf ihn persönlich verspührte?

Er hatte keine Ahnung.

Er hatte ebenfalls keine Ahnung darüber, was in den zwei Tagen seiner Abwesenheit hier passiert war. Kurz gefasst: Er war sowas von am Arsch!

Er hatte keine Zeit dazu, weiter darüber nachzudenken, denn der Griff an seinem Kragen verfestigte sich und riss ihn noch weiter in die Luft. Er zappelte wie ein Fisch am Haken, als Muscular ihn in die Schultoilette zerrte und brutal gegen die Fliesen an der Wand stieß. Sofort spürte er das Brennen in seinem Rücken und das dumpfe Pochen des Schmerzes an seinem Schädel.

Er hätte Glück, wenn es sich bei dem Aufprall nur um eine äußere Platzwunde und keine Gehirnerschütterung handelte ...

Er starrte hilflos zur Tür, darum betend, dass irgendein anderer Schüler oder Lehrer sie bemerkt hatte.

Seine Sicht wurde von Musculars massiger Gestalt blockiert, welche ihm gleichzeitig den einzig, sicheren Fluchtweg abschnitt. Der Andere hatte sich vor ihm aufgebäumt, wie ein Berg, während dessen Stimme wie das Krachen des Donners in seinen Ohren dröhnte.

>>So jetzt hörst du mir mal zu, du kleine Schlampe! Jin, Shuichi, Himiko und meinetwegen auch dieser Frischling Tomura sind meine Leute. Sie gehören mir, kapierst du das?! Was hast du ihnen gesagt, häh? Hast du ihnen irgendeine erbärmliche Mitleidsgeschichte erzählt, sodass sie dich bedauern und nichts mehr mit mir zu tun haben wollen? Ist es das, häh?<<

... Was? Was sollte das denn bitte bedeuten?

Die Hand ließ so abrupt von ihm ab, dass er zu Boden knallte. Hektisch zog er seine Arme vor das Gesicht, um den Aufprall abzudämpfen. Sein Körper kam hart auf den Fliesen auf und blieb regungslos dort liegen.

Eine Sekunde später wurde er erneut am Kragen gepackt und nach vorn geschleudert. Ihm war so schwindelig, dass er nicht mehr wusste, wo vorn und hinten war, doch er spürte ganz genau den Spiegel, gegen welchen er geradewegs mit der Stirn knallte. Er hörte das Knacken, doch wusste nicht, ob es von dem Glas oder seinem Kopf stammte. Seine Rippen wurden in das harte Keramik des Waschbeckens gepresst und der ganze Atem verließ seinem Körper in einem einzigen, schwachen Schub.

>>Ja, so gefällst du mir schon besser! Du bekommst, was du verdient hast, du Freak!<<

Er reagierte gar nicht mehr auf Musculars Worte. Schmerz explodierte an allen Stellen seines Körpers und er sackte nach vorn.

Er spürte das Gewicht, welches von hinten gegen seinen Rücken presste. Dann spürte er die Hand, welche nach seinem Nacken griff, sich eng um seinen Hals schlang und zudrückte.

Ihm den Atemweg abschnitt.

Sofort riss er die Augen auf und fühlte sämtliche Reste seines Kampfeswillen mit einem Ruck in seinen Körper zurückströmen. Er strampelte und trat um sich, doch wurde im Gegenzug nur noch fester gegen das Waschbecken gedrückt. Seine Arme wirbelten nach vorn. Verzweifelt tasteten seine Hände nach etwas, das ihm helfen könnte, doch er spürte nur das glatte Glas unter seinen Fingern.

Er keuchte und versuchte, Luft in seine Lunge zu bekommen. Seine Bewegungen wurden nur noch verzweifelter und hektischer, als er merkte, dass Muscular ihn nicht ließ.

Atmen! Ich muss atmen!

Direkt vor sich sah er sein eigenes Spiegelbild. Seine weit aufgerissenen, angsterfüllten Augen. Sein Gesicht, welches vor Anstrengung rot angelaufen war. Seine blutende Stirn.

Muscular stand hinter ihm und drückte ihm die Atemwege zu. Das boshafte Grinsen auf dessen Lippen würde er wohl nie wieder vergessen.

Dies war der Moment, in welchem ihm klarwurde, dass der Junge nicht aufhören würde.

Jede Situation davor war für Muscular nur ein unbedeutendes Spiel gewesen. Das hier war ernst. Das hier war die Realität. Touyas Realität. Er war nur ein unwichtiges Bauernopfer, wie es Tausende davon auf der Welt gab. Sein Weg würde hier enden. Zu Tode geprügelt von irgendeinem Jungen, dessen echten Namen er nicht einmal kannte. Das war sein Schicksal. Genau so fade und deprimierend, wie es Touyas ganzes Leben gewesen war ...

Er strampelte weiter und versuchte verzweifelt, einen Tritt zu landen, doch er ... er konnte ... konnte nicht ...

Atmen.

Seine Lunge war eng und trocken und pulsierte vor Schmerz. Seine Hände grabschten nach Musculars und versuchten, sie von seinem Hals zu zerren, doch der Junge verfestigte einfach seinen Griff.

>>Nah, nah! Du machst dir alles so viel schwerer, wenn du dich wehrst! Du hättest dich einfach von meinen Leuten fernhalten sollen, verstehst du? Das hier ist deine Schuld! Niemand von ihnen will noch etwas mit mir zu tun haben, also sorge ich dafür, dass niemand je wieder etwas mit dir zu tun haben wird!<<

Atmen! Bitte ... Bitte, lass mich atmen!

Der Schmerz verblasste allmählich, während sein Körper schlaffer wurde. Er wurde zu einem fernen Pochen, dumpfer Statik im Hintergrund seines Verstandes. In seinem Blickfeld flimmerte es. Tausende kleiner Sterne, welche durch die Luft tanzten. Der Anblick war wunderschön und schmerzhaft zugleich.

Luft. Ich brauch- brauche ... Ich brauche ...

Es hörte auf, wehzutun, als die Sicht vor seinen Augen verschwamm. Er schwankte zur Seite und fühlte, wie seine Knie einknickten. Muscular hielt ihn weiterhin fest. Wenn Touya sich selbst den Schmerz erleichtern wollte, dann redete er sich ein, dass die Hand des Jungen in diesem Moment sanft und mitfühlend, statt hart und brutal gewesen war.

Es tat nicht mehr weh. Nichts tat mehr weh.

A-atme ...

Vor seinen Augen wurde alles schwarz.

- the end -


Ich entschuldige mich bei allen Lesern, bei denen ich hierdurch Panikgefühle oder schlechte Erinnerungen geweckt habe. Wie schon im Vorwort dieser Geschichte beschrieben, sind einige Inhalte hier sehr extrem und nicht für Jedermann geeignet. Ich bitte Jeden darum, seine eigenen Grenzen zu aktzeptieren und solche Warnhinweise nicht einfach leichthin zu übergehen.

Für alle Diejenigen, welche ich hierdurch nicht verschreckt habe:

Danke, dass ihr diese Geschichte bis hierher mitverfolgt habt. Ich habe das Gefühl, dass "Beste Feinde" bisher eine meiner emotionalsten Geschichten ist. Es bedeutet mir wirklich sehr viel, Kapitel für Kapitel zu schreiben und jeder Vote und Kommentar von euch Lesern ist dann echt nochmal mein persönliches Highlight.

Ich hoffe, ihr verfolgt auch die nächsten Kapitel. Bis dahin!

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