1. Blaue Flecken und Flamingos
Playlist:
Nothing Breaks Like A Heart
- Miley Cyrus
"Scham"
"Durch das Bewusstsein, besonders in moralischer Hinsicht, versagt zu haben, durch das Gefühl, sich eine Blöße gegeben zu haben, ausgelöste quälende Empfindung."
- by julislifestyle -
Touya
5.30 Uhr.
Jeden Morgen die selbe verhasste Zahl, die auf seinem Handydisplay aufragte und ihn blendete. Sein Finger landete auf irgendeinem Button, es war völlig egal welcher, hauptsache dieser grässliche Wecker würde aufhören, sein Gehör zu foltern. Nachdem sein Handy verstummt war, ließ er es neben sich auf das Kopfkissen fallen, gähnte einmal ausgiebig und starrte mit trägen Augen an die weiße Decke über ihm. Die Verlockung war groß, ewig so liegen zu bleiben, den ganzen Scheiß, der ihn nach dem Aufstehen erwarten würde, einfach auszublenden, doch er wusste genau, dass es sich nur um eine Wunschvorstellung handelte. Die Realität war noch nie gnädig gewesen.
Er benötigte mehrere Versuche, bevor er es schließlich schaffte, sich aufzurichten und die sichere Höhle, auch genannt sein Bett, zu verlassen. Der Boden war warm unter seinen Füßen und als sein Blick aus dem Fenster hinaus wanderte, sah er die Sonnenstrahlen elegant über das saftige Gras tänzeln, die Blumen in den schönsten Farben erstrahlen und die Vogel munter zwitschern.
Sein Mund krampfte zu einer schmalen Linie zusammen. Er verabscheute den Sommer.
Der Weg zu seinem Kleiderschrank führte ihn an dem Spiegel in seinem Zimmer vorbei. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wieso er das Ding überhaupt erst dort aufgestellt hatte. Es war nicht so, als würde er selbst einen schönen Anblick abgeben.
Er versuchte, nicht auf die blauen Flecken an seinem Rücken und seinen Rippen (Erinnerungen an eine gefließte Badezimmerwand, gegen die man ihn stieß) zu achten und erst recht nicht auf die dunklen, beinahe krankhaften Narben, welche quer über seinen Körper verteilt waren und den Großteil seiner Haut wie billige Horror Requisiten wirken ließen. Er blendete es aus, ignorierte es. So, wie jeden Tag.
In seinem Kopf stellte er sich einen hübschen Jungen mit muskulösen Armen, sonnengebräunter (gesunder) Haut und einem strahlenden Lächeln vor, welcher an seiner Stelle in die zerissene Jeans schlüpfte und sich das ausgewaschene Oversize Shirt über den Kopf zog. Sobald er jedoch in den Spiegel blickte, verpuffte die Fantasie und die Realität setzte erneut ein. Müde, blaue Augen, fahle Haut, mattes, schwarzes Haar. Ein Körper voller abstoßender Narben. Das T-Shirt brachte die dunklen Auswüchse an seinen Armen nur noch mehr zur Geltung. Er hatte es mit Hoodies und Jacken versucht, doch die feucht-warme Hitze war ein unerbitterlicher Gegner.
Einer der Gründe, weshalb er den Sommer nicht ausstehen konnte.
>>Touya? Bist du schon wach? Vergiss nicht, Fuyumi und Natsuo zu wecken! Ich fahre jetzt Shoto in den Kindergarten und danach auf Arbeit. Ich hab dich lieb!<<
Die selben Worte, wie jeden Morgen. Die selbe mütterlich besorgte Stimme. Die Stimme ließ ihm nie Zeit, zu antworten. Immer, wenn er etwas darauf erwidern wollte, ertönte das Zuknallen der Haustür und bald darauf das Aufheulen des Motors, dicht gefolgt von dem stetigen Tuckern der Reifen über den aufgeheizten Aspahlt.
Der gleiche, deprimierende Morgen, wie jeden Tag.
Er beschwerte sich nicht darüber, seine kleinen Geschwister wecken oder ihnen die Pausenbrote schmieren zu müssen. Es war noch das amüsanteste an seinem Leben. Nein, das wahre Böse zeigte sich erst, wenn er die Wohung verließ und die ersten Schritte aus dem vertrauten Mehrfamilienhaus heraus wagte. Der Weg zur Schule.
Das Gymnasium stand an einem Ende seiner Heimatstadt, er lebte am anderen. Die meisten Kinder in seiner Situation, so auch seine Geschwister, nahmen den Bus und erspahrten sich damit den täglich 20 minütigen Weg. Touya lief. Anderen Leuten erzählte er, dass er die frische Luft und die varierenden Anblicke der Natur brauchte, wie eine Droge. Selbst, wenn es draußen, wie aus Eimern, schüttete oder der Schnee ihm bis zum Knie reichte. Seine Mutter beschwerte sich nicht, so waren es doch erhebliche Fahrkosten, die sie durch seine bescheidene Wahl einsparte. Sie hatte schon lange damit aufgehört, es zu hinterfragen. Niemand, außer Touya selbst, wusste, dass er nur lief, um sich die spottenden Blicke der anderen Schüler und das heimliche Getuschel hinter seinem Rücken, in den viel zu überfüllten Busen, in denen alles Private auf einmal Eigentum der Öffentlichkeit wurde, zu erspahren.
Es war ja auch nicht so wichtig.
Wirklich.
°
Das Gymnasium, in dem er seit 6 Jahren um sein Überleben kämpfte, hatte 3 Stockwerke. Jedes, so trist, wie das andere.
Das Gebäude erinnerte ihn an einen weißen Klotz, den man völlig unpassend in die Landschaft gedrückt hatte. Es gab keine Verzierungen oder Illustrationen auf der Fassade. Das einzig Farbige war der graue Schriftzug mit dem Namen des Gebäudes. Grau! Als hätte es keine bessere Farbe gegeben, um das ganze noch trostloser und deprimierender wirken zu lassen!
Der Schulhof war nichts anderes, als eine quadratisch betonierte Fläche, auf der sich Kinder aus allen Ecken der Stadt nach freien Plätzen konkurrierten und sich die ausgefallensten Beleidigungen an den Kopf warfen. Er beeilte sich, so schnell wie möglich, durch das Gedränge in sein Klassenzimmer zu kommen und dabei möglichst nicht aufzufallen, doch es war so, als würde man einen Flamingo in die Antarktis stellen und ihm befehlen, sich zu tarnen. Als Touya Todoroki nicht aufzufallen, war wie als Flamingo inmitten von hungrigen Eisbären zu stehen.
"Sieh dir die Narben an!"
"Ich habe gehört, sein Vater sitzt im Gefängnis."
"Der würde 'nen guten Antagonisten für einen Horrorfilm abgeben!"
Er konnte gar nicht mehr sagen, wie oft er diese Kommentare nun schon gehört hatte. Sie brannten sich in seinen Schädel ein, verspotteten ihn und flüsterten ihm in der Nacht die selben Worte zu. Die Leute sagten sie zehn, hundert, tausend Mal und doch lachten sie jedes einzelne Mal so erregt, so schadensfroh, als wäre es das erste Mal, dass sie sie hören würden.
Im Inneren des Gebäudes war es nicht viel besser, als in dem Gedränge auf dem Schulhof. 12 Jahrgangsstufen mit jeweils 3 Klassen und man hatte weniger Platz, als die Kaninchen im Tierheim. Er brachte sich an einer Säule im Gang in Sicherheit und kontrollierte auf seinem Handy, in welchem Raum er sich, zusammen mit dem garstigen Rest seines Kurses, verkriechen konnte.
Zimmer 217. Oberste Etage, letzter Raum im Gang.
Fuck.
°
Die ausgelassenen Gespräche verstummten, sobald er das Klassenzimmer betrat. Es war normal, eine gewöhnliche Reaktion, wenn eine neue Person die Türschwelle überschritt. Ein kurzes, abruptes Schweigen und neugierige Blicke auf den Neuankömmling, dann machten alle mit dem weiter, was sie angefangen hatten. Was nicht normal war, war die betretene Stille, jedesmal, wenn er das Klassenzimmer betrat. Es waren keine kurzen, neugierigen Blicke, welche man für eine Sekunde in seine Richtung warf. Er wurde regelrecht abgeschattet, von oben bis unten gemustert. Schamloses, ungeniertes Glotzen.
Erst, als er sich an seinem Platz niedergelassen hatte, letzte Bank, Wandreihe, Einzelplatz, trat das ... "heimliche" Getuschel ein. Manchmal fragte er sich, ob diese Leute tatsächlich glaubten, dass ihr Gerede unauffällig war? Vermutlich war es ihnen egal. Vermutlich war es allen egal.
Schweigend packte er sein Zeug aus. Philosophie. Sein Lieblingsfach, zählte man die Menschen, welche ebenfalls diesen Kurs gewählt hatten, nicht dazu.
>>Hey, Todoroki!<<
Er sah auf. Er wusste bereits, zu welchem Platz er blicken musste, zu wem diese spöttische Stimme gehörte.
>>Sitzt dein Vater wirklich im Knast?<<
Plötzlich lagen wieder alle Blicke auf ihm. Er hätte schreien können, weinen, in Rage verfallen. Stattdessen bildete sich ein überspitztes Lächeln auf seinen Lippen, mit dem er Shuichi ansah.
>>Tut deiner es denn?<<
Enttäuschte Blicke, gelangweiltes Schnaufen. Die Show war beendet.
Shuichi Iguchi war nur einer von vielen Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, seine gesamte Existenz ins Lächerliche zu ziehen. Dabei war der chaotische Junge mit den punkigen Sachen, lilanen nach hinten gestylten Haaren und einer Vorliebe für alle Arten von Reptilien noch der harmloseste von Allen.
Seit dem Beginn des 11. Schuljahres und ihres ersten Zusammentrefens im Philosophiekurs stellte er ihm diese Frage, welche die gesamte Schule so brennend zu interessieren schien. Jede. Einzelne. Stunde. Die selbe Frage.
>>Irgendwann wird er mir antworten! Irgendwann ... <<, hörte er das Gemurmel im Hintergrund, das neckische Gekicher.
Er verschränkte seine Arme auf der weißen Tischplatte und versteckte das Gesicht in seiner Ellenbeuge, während er auf das rettende Stundenklingeln und den Beginn des Unterrichts wartete. Die selbe Reaktion von Shuichi, die selbe Reaktion von ihm.
Der gleiche, deprimierende Morgen, wie jeden Tag.
°
Die Pause verbrachte er allein.
Niemand mochte die Freaks, die allein auf der Bank saßen und still und heimlich an ihrem Pausenbrot nagten. Er war einer dieser Freaks.
Manchmal setzte sich ein Lehrer neben ihn, fragte wie es ihm ging, "gut" (Die Antwort war immer "gut".), welches Fach er als nächstes hätte und was er Zuhause machen würde. Es war nett gemeint, doch ihm war bewusst, dass diese Menschen kein wirkliches Interesse an ihm hatten. Sie hatten Mitleid. Mitleid war noch schlimmer, als jeder dumme Kommentar, den er Tag für Tag zu hören bekam.
Heute gesellte sich niemand zu ihm. Es war still und friedlich. Andere hätten sich darüber gefreut, doch nicht Touya. Er wusste, was dieser Zustand zu bedeuten hatte. Ladies und Gentleman: Die Ruhe vor dem Sturm.
Als die Klingel die Mittagspause beendete und seine letzten zwei Stunden einläutete, wurde er langsam unruhig. Es war Montag. Ein Tag, wie jeder andere, ohne besondere Veranstaltungen oder dergleichen und doch lief alles, außer ein paar heimlichen Seitenblicken und unnötigen Bemerkungen, bisher optimal. Sein Bauch vertraute diesem Schein von heiler Welt nicht.
Er wartete, bis sich die anderen Schüler in den Gängen verteilt hatten, erst dann betrat auch er das Innere des Gebäudes. Eine Entscheidung, die er schon bald bitter bereuen würde.
Er hörte die Stimmen bereits, bevor er in den Flur einbog, doch er schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit, hielt sie für irgendeine unbedeutende Schülergruppe. Eine weitere Entscheidung, die er schon bald bereuen würde.
Die Stimmen verstummten, sobald er den trostlosen Flur betrat. 5 Raubtierhafte Augenpaare starrten geradewegs in seine Richtung. Kalt. Spottend. Gottverdammtes scheiß Bauchgefühl!
Wie jeden Tag wandte er unterwürfig den Blick ab und versuchte, sich möglichst unauffällig an diesen spottenden Augen vorbei zu schleichen. Naja. Sein Plan hatte noch nie funktioniert.
>>Wen haben wir denn da? Sei gegrüßt, Narbenfresse!<<
Es war diese Stimme. Diese tiefe, kaltblütige Stimme, bei der jedes Wort wie eine Warnung klang, welche ihn bis in seine dunkelsten Albträume verfolgte. Seine Schritte stoppten. Das Blut in seinen Adern gefror. Er musste sich zwingen, den Blick zu heben und dem anderen Jungen in die bedrohlich funkelnden Augen zu sehen.
Alles an Muscular war männlich. Von dem kurzgeschorenen, blonden Haar, zu dem breiten Kiefer, bis hin zu den angsteinflösenden Muskeln, welche man überall auf dessen Körper finden konnte. Selbst dessen Grinsen wirkte wie ein Fletschen der Zähne.
An den richtigen Namen des Jungen konnte er sich nicht mehr erinnern, wenn er ihn überhaupt jemals gehört haben sollte. Er wusste nur, dass all seine Bekannten ihn "Muscular" nannten, aufgrund seines fulminanten Körperbaus. Im Grunde wusste er so gut, wie nichts, über den Anderen. Sie belegten keinen Kurs zusammen (Danke lieber Gott) und waren auch früher nicht in der selben Klasse gewesen. Alles, das er wusste, war, dass der Blondhaarige der Anführer einer Gruppe aus Oberschülern war. Allesamt Mobber und Tyrannen, die Genuss daran fanden, anderen Angst einzujagen und sie in die Knie zu zwingen.
Jin Bubaigawara. Ein großer, blondhaariger Junge mit einer untherapierten Nikotin Sucht und einer klaffenden Narbe auf seiner Stirn, deren Ursprung ihm unbekannt war. Shuichi Iguchi. Den Kerl hatte er ja bereits vorgestellt. Himiko Toga. Das einzige Mädchen aus der Gruppe. Schlau, aber mental vollkommen gestört. Sie hatte eine besondere Vorliebe dafür, Touya bluten zu sehen. Tomura Shigaraki. Ein Neuling, der erst Anfang der 11. Klasse an ihre Schule gestoßen war. Es war schwer, diesen Jungen einzuschätzen. Er war neutral, sagte nie etwas zu ihm oder wurde körperlich. Nur den falschen Freundeskreis hatte er sich ausgesucht. Oh, und dann gab es da natürlich noch Muscular. Der Schlimmst von Allen.
>>Dich habe ich ja den ganzen Tag nicht gesehen! Hast du dich etwa versteckt, kleiner Feigling?<<
Erneut Muscular. Bei Shuichi war es kein Problem gewesen, doch den Fehler, jemandem wie Muscular zu antworten, hatte er nur einmal gemacht. Seine abgebrochene Zahnspitze auch. Sicherer war es, zu schweigen, sich klein und unterwürfig zu zeigen. Er hatte die Wahl zwischen einem Schaden seines Egos oder seines Körpers.
>>Was ist? Bist du jetzt auch noch taub, du Freak?<<
Sein Mund krampfte zusammen, genau so, wie der feige Rest von ihm. Seine Augen waren auf den schmutzigen Boden gerichtet. Dort, wo er hin gehörte. Das selbstgefällige Gekicher dröhnte so laut in seinen Ohren, als wären es nicht 5, sondern 20 Personen, die sich wie ein Wall vor ihm aufgebaut hatten.
>>Die kleine Ratte hat sich bestimmt die ganze Pause lang auf der Toilette eingeschlossen.<< - Jin.
>>Vielleicht sollten wir seinen Kopf mal wieder in die Kloschüssel stecken? Wenn er den Ort schon so mag.<< - Shuichi
>>Ach komm, die Masche ist doch schon längst veraltet. Ich sage, wir lassen ihn bluten!<< - Himiko
Ideen, wie man ihn am besten bloßstellen und sein Ego verstümmeln konnte, flogen durch den Raum und knallten ihm wie Rambosse an den Kopf. Diese Leute redeten nicht als Mensch, als lebende Person, über ihn. Für sie war er etwas materielles. Ein Objekt, an dem sie ihren Frust und all den Sadismus in ihren verrotteten Seelen auslassen konnten. Schließlich war Muscular derjenige, der durch ein einziges Heben der Hand den wilden Diskussionen Einhalt gebot. Selbst diejenigen, die sich als seine Freunde ausgaben, bewahrten noch ihren Respekt vor ihm.
>>Haltet doch mal alle eure Fressen! Ich entscheide, was mit diesem Wurm passiert!<<
Ja. Das war die Art, wie er mit seinen "Freunden" sprach ...
Mit langsamen Schritten kam der Muskelprotz auf ihn zu, lauernd, auf den richtigen Moment wartend, um ihn in Stücke zu reißen. Als er sich über ihn beugte und ihn durch diese vor Wahnsinn geweiteten Augen musterte, fühlte er sich, wie ein frisch geborenes Lamm. Ein Flamingo inmitten von hungrigen Eisbären.
>>Ich bin mir sicher, dass unser kleiner Freund uns doch gerne ins Badezimmer begleitet ... <<
Eine raue, unbarmherzige Hand legte sich an seine Wange und er zuckte zusammen. Seine Reaktion erntete ein Grinsen aus Muscular und der Griff an seinem Gesicht wurde fester.
>>Was ist? Ich habe dich doch nur berührt. Scheiß dir nicht gleich ein vor Angst!<<
Erneut das Gelächter im Hintergrund. Dieses Gelächter ...
Das war der Moment, in dem er abschaltete, sich in seinem Kopf verirrte. Wenn er nicht wirklich hier war, dann wäre später alles nur eine ferne, unförmige Erinnerung. Der Schmerz, all die Bloßstellung. Alles eine unscharfe Erinnerung.
Jemand packte ihn an den Haaren, er realisierte nicht mehr wer (wahrscheinlich Muscular) und zog ihn grob hinter sich her. Einzelne Strähnen wurden ausgerissen und landeten auf dem Boden. Beweise, welche von allen niedergetrampelt werden würden.
Eine Tür knallte zu und ein weiteres Mal in seinem Leben fand er sich an der gefliesten Wand wieder, welche sich so prägnant in seinen Schädel eingebrannt hatte. Die Wände in den Jungstoiletten waren weiß gestrichen und mit hellblauen Fliesen verziert. Er konnte aus Erfahrung sagen, dass letzteres weher tat, wenn man ihn mit dem Kopf voran dagegen stieß.
Jemand bäumte sich vor ihm auf. Grobe Kommentare, in denen man bewusst nur die ekelhaftesten Worte verwendete, prallten erbarmungslos auf ihn ein. Genau so, wie die Fäuste, die bald darauf folgten. Sie folgten immer. Wenn man Muscular und seiner Gruppe von Tyrannen und Sadisten etwas lassen musste, dann, dass sie bedacht vorgingen. Außer dem Vorfall mit seiner Zahnspitze, hatten sie nie sichtbare Regionen attackiert. Ein blaues Auge und eine eingeschlagene Nase würden zu viel ungewollte Aufmerksamkeit erregen. Sekreter waren die Stellen an seinem Bauch und Rücken.
Eine Faust traf ihn direkt in seine Magengegend und er spürte, wie er in sich zusammen sackte. Übelkeit stieg in ihm auf, die Farben begannen vor seinen Augen zu verschwimmen. Die Schlägereien dauerten nie länger, als 7 Minuten (Es fühlte sich an, wie eine Ewigkeit.). Die Zeit nach der großen Mittagspause, bis zum Unterrichtsbeginn, betrug 10 Minuten. Manchmal, wenn es ein guter Tag war, schaffte er es noch rechtzeitig in sein Klassenzimmer. An schlechten Tagen verspätete er sich und musste eine mündliche Wiederholung des jeweiligen Faches absitzen.
Heute schienen Muscular und der gottverdammte Rest seiner Bande keine Gnade zu haben. Bei allen von ihnen musste sich über das Wochenende hinweg eine erschreckende Menge an Frust angestaut haben, den sie nun in purer Erleichterung an ihm ausließen. Wobei, nicht bei allen von ihnen. Der Neutrale, ihr Ruhepol, Tomura Shigaraki, rührte sich nicht von seinem Wachposten an der Badezimmertür. Das tat er nie. Er beleidigte ihn nicht, schlug ihn nicht, schnitt ihm keine feinen Linien ins Fleisch, wie Himiko es so gern tat. Er stand nur schweigend da und beobachtete das Geschehen aus seinen glänzenden Augen, die Touya an einen Blutmond erinnerten. Fern, unerreichbar und rar. Und doch ein Teil dieser Welt. Ihrer aller Leben. Die weißen, fedrigen Haare umspielten dessen Kopf, wie ein verdammter Heiligenschein.
Manchmal ... Manchmal wirkte es fast so, als wollte der Junge von seiner immer währenden Neutralität ablassen, eingreifen ... Touya helfen. Dann jedoch schien ihm sein Platz, seine Stellung in dieser Rangordnung einzufallen und er verharrte. Beobachtete alles aus seinen Blutmond Augen.
Er sagte sich selbst, dass es ihm egal war, doch tief in seinem Inneren tat es verdammt weh.
Ein letzter Schlag, alles schmerzte, weshalb er die genaue Region nicht ausmachen konnte, dann ließen die fremden Hände von ihm ab. Touya Todoroki sackte zu Boden. Im Hintergrund dieses prägnante, spöttsiche Lachen. Eine zuknallende Tür. Dann war er allein. Endlich allein.
Für eine Weile kauerte er so auf dem Boden, kam langsam aus dem Abyss seiner Gedanken zu sich und versuchte, ein paar tiefe, gleichmäßige Atemzüge zu nehmen, die ihm einfach nicht gelingen wollten. Seine Hände schwitzten. Ihm war übel. In diesen Momenten wusste er nie, woher er die Kraft nahm, sich auf wackligen Beinen zu erheben. Seine Füßen machten bereits die ersten Schritte, während sein Kopf noch immer im Karusell feststeckte.
Das Urinal war beschmiert und stank nach Substanzen, die er sich gar nicht erst vorstellen wollte, doch es war entweder das oder der geflieste Boden der Jungstoilette und das wollte er nun wirklich niemandem antun. Er würgte und zitterte. Würgte und zitterte. Sein Mittagessen, erst halb verdaut, hinterließ einen sauren Geschmack auf seiner Zunge und ein Kratzen in seiner Kehle. Er schloss seine Augen, der kalte Schweiß tropfte seinen Rücken hinunter. Aus weiter Ferne ertönte die Schulklingel und damit die Bestätigung, eine weitere mündliche Wiederholung abhalten zu müssen.
Er würgte noch einmal.
°
Manche Tage schienen ihn mehr zu hassen, als andere.
Es war wie bei einem Stück Fleisch. Es gab zarte, saftige Stellen, die den Gaumen verzückten und die Geschmacksknospen zum Singen brachten. Dann gab es zähe, bissfeste Knorpel, welche aussortiert wurden und als unförmige Masse im Mülleimer landeten. Er war einer dieser Knorpel. Das Leben hatte ihn zwischen seinen Fängen, kaute auf ihm herum, zerstückelte ihn, bevor es merkte, dass Touya Todoroki absolut ungenießbar war. Dann spuckte es ihn aus, als unförmige Masse und ließ ihn so liegen. Das Leben wandte sich von ihm ab.
Ja. Dieser Tag schien ihn wirklich nicht leiden zu können.
Mit Magenschmerzen, blauen Flecken und einer neuen 5 im Notenbuch, danke an die mündliche Wiederholung, trottete er die langen Fußwege von seiner Schule bis zu seinem Zuhause entlang. Die Stadt kannte ihn mittlerweile und doch beglotzten ihn die Leute jedesmal, wie die verdammten Affen im Zoo! Gott, er war so wütend! So unendlich wütend und frustriert, doch um seinen Zorn laut kundzumachen und seinen Gaffern endlich zu sagen, was er von ihrem "unschuldigen Interesse" hielt, war er zu feige. Er war für vieles in seinem Leben zu feige ...
Seit der mehr oder weniger offiziellen Scheidung seiner Eltern, lebte er zusammen mit seiner Mutter und seinen kleineren Geschwistern im obersten Geschoss eines Mehrfamilienhauses. Es war nicht schäbig, nicht heruntergekommen. Sie hatten Platz, einen warmen Ort, an dem sie sich in einer kalten Winternacht wiederfinden konnten. Es war nur ... Man würde ihn vermutlich für verrückt erklären, doch manchmal stellte er sich vor, wie die weißen Fenster sich zu ihm hinab senkten und ihn musterten, wie tausend schamloser Augenpaare. Wie die schwarze Tür sich öffnete und ihn in eine viel tiefere Dunkelheit zog. Sein Zuhause sollte sein Rückzugsort sein, sein sicherer Hafen. Stattdessen erinnerte es ihn mit jedem Blick an die Pflichten in seinem Leben, an die Rolle, welcher er mit makelloser Präzision zu spielen hatte. Der starke, große Bruder. Der perfekte Sohn.
>>Moment!<<
Er war so sehr in seine mellancholischen Gedanken versunken, dass er gar nicht den Mann bemerkt hatte, welcher vor dem Eingang des Mietgebäudes stand. Ein Stapel weißer Briefe in der Hand und ein kritischer Ausdruck in den grellen, goldenen Augen.
>>Du bist doch einer von den Todorokis, nicht wahr?<<
Er stoppte und betrachtete den Kerl zurückhaltend. Er hatte kein gutes Verhältnis zu Männern. Erst recht nicht, wenn es sich um welche handelte, die er auch so nicht ausstehen konnte. Kai Chisaki. Der hatte ihm gerade noch gefehlt!
Der Braunhaarige wohnte in der 3. Etage, ein Geschoss unter ihnen und war wohl die seltsamste Person aus dem ganzen Block. Er war der Inbegriff eines Workaholics und hatte eine abgrundtief freudlose und kalte Aura. Nebenbei schien er eine akute Phobie vor jeder Art von Schmutz zu haben, beschwerte sich über jedes Staubkörnchen im Hausflur und begegnete einem nie, ohne den typischen Mundschutz und den weißen Einweghandschuhen. Er erinnerte sich an eine Erwähnung seiner Mutter, dass der Kerl als Arzt im örtlichen Krankenhaus arbeitete.
>>Ich bin Touya. Touya Todoroki.<<, bestätigte er, während sich ein mulmiges Gefühl in seinem, mit blauen Flecken übersähten, Bauch ausbreitete.
Dieser Mann sprach nie mit einem von ihnen, außer wenn es etwas gab, worüber er sich beschweren konnte. Was konnte er also ausgerechnet von ihm wollen?
>>Gut. Ich habe es bereits deinen kleinen Geschwistern mitgeteilt, doch umso besser, wenn ich den Ältesten der Bande abpasse.<<
Chisakis Blick war hart und kalt. Er schluckte und bereitete sich innerlich auf das Schlimmste vor.
>>In den letzten Tagen, vor allem in der Abendzeit, habe ich eine akute Lärmbelästigung ausgemacht, welche eindeutig von eurer Wohnung ausging. Im Namen aller Mieter (Was so viel bedeutete, wie im Namen Chisakis) möchte ich dich und den Rest deiner Familie, es ist mir egal, wie alt deine Geschwister sind, bitten weitere Störungen dieser Art zu vermeiden. Ich würde nur ungern drastischere Maßnahmen ergreifen.<<
Der Mann sagte nichts weiter. Er musterte ihn einfach aus seinen starren, goldenen Augen. Wie ein Hai.
Gefühle, die nur selten das Tageslicht erblickten, brodelten in Touyas Innerem. Wut, Frust und das alltägliche Gefühl, ungerecht behandelt zu werden. Am liebsten hätte er laut geschrieen, diesem arroganten Schnösel an den Kopf geknallt, dass man lautes Kinderlachen wohl kaum in einer 5-köpfigen Familie vermeiden konnte, doch ... Er tat nichts davon. Er hatte sich schon so sehr an die Unterwürfigkeit, das stille Nachgeben gewöhnt, dass es langsam keine Rolle mehr spielte.
>>Ich bitte um Verzeihung. Wir werden von nun an versuchen, die Lautstärke zu reduzieren.<<
Nichts davon entsprach seinen wahren Gedanken oder Emotionen, doch es war nunmal das, was Chisaki hören wollte. Was er von ihm erwartete. Er verbeugte sich leicht, ein Zeichen der Höflichkeit, doch im Grunde war es nichts anderes, als sich selbst einzugestehen, dass er verloren hatte.
>>Nun, das ist auch wirklich mehr, als angebracht.<<
Als er aufsah, würdigte Chisaki ihn nicht mal mehr eines Blickes, betrachtete stattdessen die Briefe in seinen verhüllten Händen. Arroganter Arsch. Er musste sich selbst auf die Zunge beißen, um die Worte nicht laut auszusprechen und rückte ablenkend die Träger seiner Schultasche zurecht.
>>Es tut uns sehr Leid, Herr Chisaki. Haben Sie noch einen schönen Tag.<<
Lieber ließ er sein eigenes Ego verstümmeln, statt dass es Konsequenzen für seine gesamte Familie bedeuten würde. Er war es gewohnt, den Sündenbock zu spielen. Nichts, dass er nicht verkraften könnte ...
Er wartete gar nicht erst die gebrummte Antwort des Braunhaarigens ab, sondern hechtete ins Innere des Gebäudes. Umso schneller er von diesem Kerl wegkam, desto besser!
Er hatte gerade genug Zeit, den Schlüssel im Schloss herum zu drehen und die Tür aufzudrücken, als er auch schon von zwei gleich weißen Haarschöpfen gerammt wurde.
>>Touya - Nii!<<
Die freudigen Kinderstimmen waren so laut, dass er fürchtete, Chisaki würde gleich klopfend vor ihrer Tür stehen. Als er überrumpelt nach unten blickte, sah er geradewegs in zwei strahlend graue Augenpaare.
Er stellte vor: Fuyumi und Natsuo Todoroki.
Seine kleinen Geschwister - wie immer, vollkommen hin und weg, ihn wiederzusehen - schmiegten sich zur Begrüßung dicht an ihn und konkurrierten einander darum, wer mehr von Touya bekommen würde. Ihre Köpfe und Hände drückten unangenehm gegen seinen geschundenen Oberkörper, doch er ließ sich den Schmerz nicht anmerken. Das tat er nie. Stattdessen erwiderte er ihr Lachen. Freudig, optimistisch und mit vollem Bewusstsein für seine nahenden Pflichten.
>>Hey ihr beiden! Wie geht es euch? Wie lief die Schule?<<
Er hatte sich darauf spezialisiert, die Fragen zu stellen, sodass niemand auf die Idee kam, eine ehrliche Antwort von ihm zu verlangen. Seine Geschwister strahlten ihn mit ihren unschuldigen Gesichtern an und begannen dann zur selben Zeit, zu erzählen, sodass er gerade mal ein paar einzelne Worte ausmachen konnte.
>>Woah, woah! Einer nach dem anderen, ich verstehe doch gar nichts!<<, lachte er und wuschelte den beiden durch die weißen Haare.
Die beiden warfen sich kurze Blicke zu, beide begierig darauf, der erste zu sein, der von seinem Tag berichtete, bevor es schließlich Natsuo war, der weit den Mund aufriss und auf eine Lücke in seiner oberen Zahnreihe deutete.
>>Schau, Touya - Nii! Der ist mir heute in der Mittagspause heraus gefallen! Ich habe ihn in meiner Brotdose aufgehoben, damit ich ihn später noch Mama zeigen kann.<<, nuschelte der Junge, während seine grauen Augen vor Begeisterung funkelten.
Er war immer wieder fasziniert davon. Die winzigen Dinge, mit denen man Kinderherzen höher schlagen lassen konnte. Es war das komplette Gegenteil von den sadistischen und ausgehungerten (Hunger nach dem Schmerz und Leid Anderer) Menschen in seinem Alter.
>>Tu nicht so! Du hast fast angefangen zu heulen, alte Memme!<<, stichelte Fuyumi ihren jüngeren Zwillingsbruder, der ihr prompt die Zunge heraus streckte.
>>Nur weil plötzlich so viel Blut in meinem Mund war! Touyaaa - 'Yumi ist schon wieder gemein zu mir!<<
Dies war der Moment, in dem die Diskussion erst so richtig los ging. Vermutlich hätte er sie stoppen sollen, ihnen zeigen, dass Streit auch keine Lösung war, doch die Szene vor ihm war einfach zu amüsant. Er liebte seine Geschwister. So nervig, Zeit- und Energieraubend sie auch sein mochten. Sie brachten ihn zum Lachen und ließen ihn für kurze Zeit die Schatten seines Lebens verdrängen. Gleichzeitig machten sie ihn mit jedem Blick auf seine Pflichten aufmerksam.
Wer würde sich um sie kümmern, sich ihre Probleme anhören und mit ihnen herum albern, wenn nicht er?
Ihre Mutter arbeitete jeden Tag, bis in den späten Nachmittag hinein und hatte andere Dinge, die ihre Aufmerksamkeit erforderten, wenn sie dann schon mal Zuhause war. Nein, die Wahrheit war schlicht und ergreifend, dass es keinen Ersatz für ihn gab. Niemand, der schnell einspringen konnte, wenn er plötzlich eine Auszeit, Zeit für sich selbst, benötigte.
Alles hing von ihm ab.
Er redete sich selbst ein, dass es ihm nichts ausmachte, dass er sich gerne für seine Liebsten aufopferte, doch immer, wenn er in der Nacht still und allein in seinem Bett lag und seine Gedanken genug Zeit hatten, sein Leben zum Albtraum zu machen, fühlte er ganz deutlich, dass er langsam unter dieser Last zerbrach.
°
Er musste auf dem Sofa eingeschlafen sein.
Er erwachte zu den Geräuschen des laufenden Fernsehers und dem Klicken einer Gabel auf weißem Porzellan. Blaues, statisches Licht flutete seine Augen und als sein Blick aus dem Fenster wanderte, war die Welt in Dunkelheit gehüllt. Er musste länger geschlafen haben, als beabsichtigt ...
Eine Person saß neben ihm am Ende der Couch und starrte schweigend in die flimmernde Kiste vor ihnen. In gewisser Weise hatte dieser Anblick etwas schmerzhaft Vertrautes an sich.
>>Mama.<<
Ihr Kopf drehte sich zu ihm. Ihr weißes Haar leuchtete im Schein des Fernsehers und erinnerte ihn an die sanften Strähnen eines Engels. Ihre grauen Augen wirkten matt und erschöpft und dennoch beherbergten sie eine unglaubliche Wärme in ihnen. Er fühlte sich, als hätte er diese Wärme nicht verdient.
>>Oh, Touya. Du bist wach.<<
Ein Lächeln bildete sich auf ihren Lippen. Rein. So unendlich rein.
>>Du hast schon geschlafen, seit ich von Arbeit gekommen bin. Es musste wohl ein anstrengender Tag gewesen sein.<<
Am liebsten hätte er gelacht. Laut und schallend. Ja! Und wie anstrengend dieser Tag gewesen war! Er biss die Zähne aufeinander, um keinen unpassenden Laut von sich zu geben, sich nichts anmerken zu lassen.
>>Ach, die Schule ist anstrengend, aber es ist in Ordnung.<<
Es ist die Hölle auf Erden, aber es ist in Ordnung!
Mit spielerischer Leichtigkeit zauberte er ein Lächeln auf seine Lippen. Einen Trick, den er sich nun schon beinahe zur Gewohnheit gemacht hatte.
>>Das glaube ich dir. Allerdings wird das Arbeitsleben wohl auch nicht viel besser werden.<<
Ein ehrliches Lachen entwich ihren sanften Lippen, welches er mit einem Schmunzeln beantwortete. Es tat gut, sie so zu sehen. Freudig und lebendig. Es war nicht immer so gewesen.
Das altbekannte Schuldgefühl kehrte zurück und brodelte in seinem Bauch, wie ein aktiver Vulkan. Er schämte sich fast dafür, sie so frech anzulügen. Ihr so vieles aus seinem Leben zu verschweigen, doch der rationale Teil seines Verstandes sagte ihm, dass es das Richtige war. Ihr auch noch seine eigenen Probleme aufzubürden, wäre ungerecht und undankbar.
Stattdessen versiegelte er seine Lippen und lachte mit ihr, so als wäre es das Leichteste der Welt, während die Last auf seiner Seele wuchs und wuchs. Rei Todoroki wusste, wie ihr Sohn in der Öffentlichkeit angeguckt wurde, was die Leute über ihn munkelten. Es war schon immer so gewesen. Man konnte es fast als etwas Alltägliches, Gewöhnliches bezeichnen.
Was sie nicht wusste, war, was die Leute mit ihm anstellten, wenn keiner hinsah. Seit dem Beginn des 11. Schuljahres und seiner ersten richtigen Konfrontation mit Muscular hatten sich die lästigen, doch harmlosen Kommentare mehr und mehr in Drohungen und schließlich in körperliche Gewalt verwandelt. Solange, bis es normal in seinem Leben gewurden war. Etwas, das er erwartete und schockierter war, wenn es nicht eintraf. Seine Mutter wusste nichts von den blauen Flecken auf seinem Körper und den Dämonen, die ihn jeden Morgen auf dem Weg zur Schule begleiteten. Wenn Touya in einer Sache gut war, dann darin, seine Probleme vor Anderen zu verstecken.
>>Natsuos Zahn ist heute raus gefallen.<<, berichtete er, nachdem sich die Stille langsam zu lange hingezogen hatte.
Reis Lächeln auf seine Worte bildete lustige Fältchen an den Rändern ihrer Augen.
>>Oh, glaub mir, er konnte mir gar nicht schnell genug davon erzählen. Er hat ihn als Trophäe in seine Zahndose gelegt.<<
Jeder von ihnen hatte eine Zahndose. Touya, Fuyumi, Natsuo, sogar der kleine Shoto, dem noch gar kein Zahn heraus gefallen war. Seine Mutter versuchte, so viele Erinnerungen ihrer Kinder zu bewahren, wie sie konnte.
>>Er war mächtig stolz darauf.<<
Die Frau nickte schmunzelnd und strich sich eine weiße Haarsträhne hinters Ohr.
>>Sehr sogar.<<
Sie lächelten einander an, so als gäbe es da nicht 1 Milliarde Geheimnisse zwischen ihnen.
Schließlich wandte die Frau den Blick ab und widmete sich erneut dem Essen auf ihrem Teller. Gedämpfter Reis mit Gemüse. Das wusste er, da er ihn nach der Schule selbst zubereitet hatte. Die Stille war entspannend, doch zugleich wollte er das Gespräch noch nicht aufgeben. Viel zu selten bekamen sie die Chance dazu.
>>Wie war dein Tag, Mama?<<
Ihre grauen Augen huschten zu ihm hinüber. Ihre Stirn bildete eine nachdenkliche Falte, bevor sie ihm antwortete.
>>Nicht sehr erlebnisreich. Unsere neuen Forschungen wollen schon seit Wochen nicht recht gelingen. Naja, du weißt ja, wie es in der Wissenschaft ist. Man braucht ein paar Kenntnisse und eine große Portion Glück.<<
Sie arbeitete als Pflanzenbiologin in einem riesigen Institut für alle Arten von Wissenschaftlern. (Wenn er ehrlich war, dann hatte er nie so genau nachgefragt.) Ihr Beruf verlangte ihr eine Menge ab, doch er hatte das Gefühl, dass sie dies brauchte. Die Beschäftigung und Ablenkung. Eine kurze Flucht aus ihrem Alltag als Hausfrau und Mutter.
Er öffnete den Mund, um etwas darauf zu erwidern, doch bevor ein einziger Laut seine Lippen verlassen konnte, unterbrach sie die kindliche Stimme seines jüngsten Bruders. Guten Morgen Touya Todoroki und willkommen in der Realität.
>>Mamaaaa! Kannst du mir noch etwas vorlesen?<<
Er sollte nicht enttäuscht sein, doch er war es trotzdem. Seine Mutter warf ihm einen schnellen, entschuldigenden Blick zu und er wusste, dass ihr Gespräch vorbei war, bevor es überhaupt begonnen hatte. Mit einem Ruck hievte sie sich von ihrer bequemem Position auf der Couch und eilte zu ihrem bedürftigen Kind. Der Teller mit dem Reis, den Touya so liebevoll zubereitet hatte, wurde langsam kalt und starr. Er wurde zurückgelassen.
"Sei nicht beleidigt!" "Sei nicht undankbar!"
Er kannte diese Gedanken. Er kannte sie gut. Touya war es gewohnt, unterbrochen, auf den zweiten Platz geschoben zu werden. Er hasste es. Er hasste es abgrundtief. Doch er beschwerte sich nicht. Nie. Niemals.
Es war immer das Ende eines langen und anstrengenden Tages. Der Einbruch der Dunkelheit stellte für ihn keine Erleichterung dar, denn sobald die Sonne aus ihrem Schlaf kriechen würde, würde alles wieder von vorn beginnen. Die Bloßstellung, der Schmerz, die Bedeutungslosigkeit von allem was er tat. Seines Lebens.
Es war das gleiche eintönige Prozederre. Tag ein. Tag aus.
Manchmal fragte er sich, wie lange seine Seele das ganze noch aushalten würde.
< the End >
Nächstes Kapitel: Einblicke in Tomuras Gedanken und Gefühle. Macht euch auf ein wenig Drama zwischen unseren zwei boys gefasst!
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