Kapitel 1


Es ist kühl, als ich auf der Türschwelle unserer kleinen Hütte stehe. Der frische Wind fährt durch meine Haare und lässt die Strähnen vor meinen Augen tanzen. Schweigend betrachte ich die Lämpchen und Lichter, die in den Straßen von Distrikt 3 trotz der tiefen Nacht blinken.

„Lydia? Bist du schon wach?"

Ich schweige und schlinge mein Nachthemd fester um mich. „Ich kann nicht schlafen."

James, mein bester Freund, stellt sich neben mich und verschränkt seine Hände hinter dem Rücken. „Verständlich", sagt er.

Ich brauche ihn nicht anzusehen, um zu wissen, dass er seine Stirn in tiefe Falten gelegt und seinen Blick in weite Ferne gerichtet hat. Bestimmt trägt er schon seinen Anzug aus blassgrünem Stoff und die cremeweiße Bluse, dazu die rote Krawatte, die ich ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt habe. Der Stoff hat mich ein kleines Vermögen gekostet, jedoch war es das wert. Er trägt sie jeden einzelnen Tag.

Ich war neun Jahre alt, als meine Eltern beide an Gelbfieber erkrankten und starben. Ich hätte eigentlich in ein Waisenhaus gebracht werden sollen, doch ich wollte das nicht, und ich tat alles was in meiner Macht stand, um mich selbst zu versorgen.

Eines Tages, ich kramte wieder mal in den Abfällen hinter dem Elektroladen herum und suchte nach Teilen, die sich eventuell noch reparieren und verkaufen ließen, als ich Schritte hinter mir hörte. Ich dachte, es sei einer der Friedenswächter, und vor lauter Panik schlitterte ich den Müllhaufen auf der anderen Seite herunter und kauerte mich angstvoll zusammen.

„Du weißt schon, dass es gefährlich ist, in Elektroschrott herum zu graben?", ertönte eine mir damals noch völlig fremde Stimme. Sie war nicht durch eine Maske gedämpft, weshalb es unmöglich einer der Friedenswächter sein könnte.

Beruhigt und auch etwas neugierig krabbelte ich wieder den Haufen hinauf und lugte vorsichtig über den Rand. Ich schätzte den Mann auf Mitte dreißig, später jedoch sollte sich herausstellen, dass er gerade mal einundzwanzig Jahre alt war. Er trug schäbige Kleidung und seine blonden, leicht gewellten Haare hatte er ordentlich zur Seite gekämmt. Sein von Denk- und Lachfältchen durchzogenes Gesicht wirkte freundlich auf mich und als er sah, wie ich scheu über den Rand spähte, schmunzelte er, sodass sich die Haut um seine hellgrünen Augen kräuselte.

„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, Kleines. Ich will dir nichts Böses."

„Sicher?"

„Sicher."

Langsam und vorsichtig, wie eine Katze auf der Hut, kroch ich auf die Spitze des Haufens, setzte mich im Schneidersitz hin, legte den Kopf schief und musterte mein Gegenüber neugierig.

„Du siehst alt aus", sagte ich mit der unschuldigen Stimme einer Sechsjährigen.

Er lachte laut auf. „Und du siehst ziemlich klein aus. Warum gräbst du denn hier im Müll herum?"

„Weil ich Geld brauche."

Der Mann betrachtete mich eine Weile schweigend. „Wo sind deine Eltern?"

„Tot."

„Lebst du alleine?"

„Nein, ich habe noch meinen Kater Popcorn."

Der Mann lächelte. „Popcorn? Das ist aber kein üblicher Katzenname."

„Nein, ist es nicht."

Jetzt schwiegen wir beide eine Zeit lang, bis ich einfach nicht mehr an mich halten konnte.

„Sie verdienen nicht gerade viel als Ingenieur, habe ich Recht?"

Entgeistert starrte der Mann mich an. „Woher..."

„Das Maschinenöl an ihren Händen. Und ihre schäbige Kleidung."

Man konnte ihm ansehen, dass ich ihn überrascht hatte. Stirnrunzelnd betrachtete er seine Hände und anschließend seine Flickenweste. Kaum hatte er sich wieder gefangen, hob er seinen Kopf und sah mich auffordernd an. „Wie heißt du?"

„Wieso sollte ich es Ihnen sagen?", entgegnete ich.

„Weil ich kein Friedenswächter bin und du mir somit vertrauen kannst", antwortete er nüchtern.

Ich dachte über seine Aussage nach und seufzte schließlich. „Lydia Cartwright."

„James Castle, sehr erfreut", antwortete der Mann daraufhin, verbeugte sich und tippte sich an den nicht vorhandenen Hut. Ich kicherte bei diesem albernen Anblick. Als der Mann sich aufrichtete strahlte er mich an, offensichtlich stolz, dass er mich zum Lachen bringen konnte.

„Vielleicht laufen wir uns ja nochmal über den Weg", sagte er und grinste. Ich schmunzelte. „Vielleicht", antwortete ich leicht amüsiert.

James nickte. „Also dann...schönen Tag noch!" Er tippte sich noch an seinen nicht vorhandenen Hut, dann wandte er sich zum Gehen.

„Dir auch, James!", rief ich ihm hinterher und sah ihm lachend nach, bis er um die Ecke verschwunden war.

Ein paar Wochen später liefen wir uns tatsächlich über den Weg. Ich war gerade auf unserem Schwarzmarkt, eine teilweise schon ziemlich verfallene Ruine unter den Straßen des Distrikts, und eröffnete meinen kleinen Stand mit mehreren bizarren Elektrogeräten, Festplatten und auch einigen kleinen Kräutermischungen, die ich aus dem kleinen Feld vor meiner Hintertür beziehe.

Wir unterhielten uns lange, und selbst als auch diese Begegnung vorüber war, sahen wir uns sehr oft in der Stadt. Wir begannen, uns gegenseitig zu besuchen, und als meine Hütte wegen einem Brand zerstört wurde, zog ich bei James ein.

Jetzt bin ich bereits fünfzehn, und James hat ein Alter von neunundzwanzig Jahren erreicht. Es ist kaum zu glauben, dass zwei so verschiedene Menschen wie James und ich miteinander auskommen, aber es ist wahr: wir beide sind ein Herz und eine Seele.

„Und, wie hoch schätzt du deine Chancen dieses Jahr?", fragt er mich.

„Neunundneunzig Prozent Glück, ein Prozent Pech. Kommt das hin?"

„Wie oft liegt dein Name in der Trommel?", fragt er mich.

„Zwanzig Mal."

Er gibt ein entrüstetes Geräusch von sich und betrachtet mich von der Seite. „Du solltest aufhören, dir von deinen Überlebenschancen Material zu kaufen."

Ich wende mein Gesicht ihm zu und erwidere seinen Blick. „Wieso? Es ist doch nur ein Prozent."

„Nur ein Prozent!" James schnaubt. „Adrian hat auch nur ein Prozent, nur schreibt er sich jährlich für jeden einzelnen in seiner achtköpfigen Familie ein! Wenn du so weitermachst, wirst du spätestens in drei Jahren gezogen und dann verliere ich dich."

„Wer sagt, dass ich die Hungerspiele nicht überleben würde?"

James nimmt mich fest an den Schultern, dreht mich zu sich und sieht mir fest in die Augen. „Das meine ich nicht. Du würdest nicht sterben, da bin ich mir sicher. Du bist klug genug, um die anderen Distrikte zu besiegen. Ach, was rede ich da? Du bist die klügste Person im ganzen Land, der schlauste Mensch, der mir jemals begegnet ist. Du würdest sie alle wegfegen, wie den Staub auf deinem Zimmerboden. Aber selbst wenn du überlebst, wer garantiert mir, dass ich dich heil zurückbekomme?"

Seine hellgrünen Augen betrachten traurig meine Gesichtszüge. „Wer garantiert mir, dass ich mein kleines Mädchen heil zurückbekomme?"

Einer meiner Mundwinkel hebt sich zu einem schiefen Lächeln. „Ich", antworte ich ihm und nehme ihn im den Arm.

James erwidert die Umarmung zwar, lässt sich jedoch nicht beruhigen. „Ach was", erwidert er und stützt sein Kinn auf meinen Kopf. „Jetzt bin ich aber erleichtert."

Seine Stimme trieft vor Sarkasmus, was so albern klingt, dass ich lachen muss. „Himmel, James. Du bist und bleibst ein ewiger Pessimist."

„Ich bin kein Pessimist, ich bin Realist. Und du solltest endlich aufhören, dich für Tesserasteine einzutragen."

„Du kannst es aber nicht mehr und dein Lohn reicht nicht für uns beide. Außerdem kostet der Strom für die Herstellung unserer kleinen Erfindungen eben mehr als nur eine Jahresration Öl und Getreide."

James seufzte. „Mit dir kann man echt nicht diskutieren."

„Natürlich nicht. Dafür bin ich viel zu schlau."

James gluckste und schüttelte den Kopf. „Komm, geh wieder rein und leg dich noch ein bisschen hin. Nicht, dass du dir noch eine Erkältung bei dem Wetter holst."

„Werde ich nicht", sage ich eifrig und eile ins Haus. James sieht mir verwirrt hinterher. „Lydia? Was hast du vor?"

Schnell reiße ich die Tür zum Schlafzimmer auf und stürze zu meinem Bett. Rasch tausche ich mein Nachthemd mit einer festen, langen Hose und einer Bluse aus. Ich schlüpfe noch schnell in meinen Mantel, bevor ich einen Beutel unter meinem Bett hervorziehe und ihn mir über die Schulter werfe. Das, was in diesem Beutel drin ist, wird Blade, den Elektronikhändler, sicher interessieren.

„Wohin gehst du?", fragt James. Ich wirble herum und sehe ihn, lässig an den Türrahmen angelehnt und seinen Blick forschend auf mich gerichtet.

„Einkaufen", antworte ich und grinse ihn übertrieben breit an.

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