Hirngespinste werden Realität

Ich setze mich mit meinem Teller voller dampfendem Auflauf auf die Couch. Rahel setzt sich neben mich und stochert mit der Gabel in den Nudeln herum.



Wie war die Arbeit?", frage ich und koste von meinem Auflauf. Diesmal ist er mir wieder echt gut gelungen.



"Ach die Arbeit ging so. Es ist nicht wirklich etwas aufregendes passiert. Wie war dein Tag? Was hast du gemacht?", fragt Rahel und meint weiter: „Der Nudelauflauf ist echt fabelhaft."



Ich fange an zu grinsen. „Nicht viel. Ich habe gefrühstückt, geduscht, gekocht und telefoniert."



"Aja", grinst Rahel, "hat Paddy etwas interessantes erzählt?"



"Joa so einiges... zum Beispiel, dass er am Sonntag gerne hier zu Mittag essen möchte. Er ist gegen 13 Uhr da."



Rahel verschluckt sich und ich klopfe ihr auf den Rücken. "Er will bitte was?", fragt sie nachdem sie sich wieder gefangen hat.



"Essen", sage ich grinsend. "Achja und seinen sexy Po auf deine Couch pflanzen."



"Ach du scheisse! Was isst er denn gerne? Na solange er nicht weiss, dass ich seinen Po sexy finde ist alles in Ordnung."



"Naja also wissen tut er das eigentlich schon", sage ich möglichst beiläufig. "Ich frag ihn heute Abend, was er gerne essen möchte."



"Du hast es ihm erzählt!", Rahel starrt mich mit offenen Mund an. „Bitte sag, dass ich mich gerade verhört habe."



"Achja, wir müssen nachher noch das Interview von ihm im Netz suchen und anhören. Das habe ich gestern total verschwitzt." Ich gehe nicht auf ihre Aussage ein, in der Hoffnung sie vergisst es.



"Von mir aus... aber zurück zum Thema. Du hast ihm wirklich gesagt, dass ich seinen Po sexy finde? Bist du wahnsinnig?"



"Ähm ja, aber er fand es lustig."



"Oh! Mein! Gott!", Rahel legt ihren Kopf in den Nacken und schliesst die Augen. „Ich werde im Boden versinken wenn er hier ist."



"Ach das hat er bis dahin eh vergessen. Der weiss ja nicht mal, wann das Konzert heute Abend beginnt. Also mach dir da mal keine Sorgen", versuche ich sie zu beruhigen.



"Das vergisst der nicht, glaub mir. Also wo werden wir mit der Suche beginnen?"



"Welche Suche?", frage ich irritiert.



Na, die Suche nach dem Interview vielleicht?", sie schüttelt den Kopf.



"Achsooooo!", ich schlage mir mit der Hand an die Stirn. „Siehste, schon wieder vergessen. Ich bin eine schlechte Freundin."



Ich stelle meinen leeren Teller auf den Couchtisch und nehme den Laptop. Ich klappe den Bildschirm auf und tippe: >Interview Michael Patrick Kelly< ein.



"Boah, gibt es da viele. Nur welches ist jetzt das Richtige?", Rahel blickt mir über die Schulter.



Ich tipp noch das gestrige Datum dazu.



"Ah schau, das wird es sein. Da steht auch Radio Essen dabei."



Ich klicke auf das Video und wir hören gespannt zu. Man sieht nur ein Foto von Paddy, da es anscheinend nur für das Radio und nicht für den Livestream aufgenommen wurde. Ich hatte schon gehofft ihn nicht nur als Standbild zu sehen.



"Klingt schon interessant was er da so erzählt. Oh und er hat die letzten Tage also sehr genossen" grinst Rahel mich an.



"Was er da wohl gemacht hat?", sage ich gespielt unwissend.



"Sex gehabt", meint Rahel trocken.



"Pscht jetzt", ich schubse sie leicht.



"Da verträgt wohl jemand die Wahrheit nicht", lacht Rahel.



Paddy berichtet über seine Tour, neue Songideen, seine Inspirationsquellen und seinen Zukunftsplänen als Musiker. Als er nach seinem Privatleben gefragt wird, sagt er lediglich, dass er glücklich ist.



Als das Interview fertig ist, klappe ich den Laptop wieder zu. Schon komisch zu wissen, dass das gerade mein Freund war, dem wir da zugehört haben. Dieses ganze Musikbusiness ist noch neu für mich und ich muss mich da erst daran gewöhnen. Irgendwie macht die ganze Sache aber grossen Spass.



"Wie wird das eigentlich in Zukunft mit euch funktionieren? Habt Ihr darüber schon gesprochen? Ich meine er ist viel unterwegs und selbst wenn nicht, zwischen Berlin und München liegen schon ein paar Kilometer", reisst mich Rahel aus meinen Gedanken.



Ich schlucke und sage:

"Genau darüber wollte ich mit dir sprechen. Ich habe da so ein paar Hirngespinste."



"Na dann lass die Hirngespinste mal raus", sagt Rahel und macht es sich auf der Couch bequem. "Ich bin ganz Ohr."



"Du weisst ja, dass ich in München nicht wirklich glücklich bin. Die Reise nach Berlin hat mir gezeigt, dass ich nicht auf München angewiesen bin. Ich habe Lust bekommen mein Leben zu ändern. Radikal. Unabhängig von Paddy. Ich bin mir nur nicht sicher ob die Idee, alle Zelte abzubrechen und umzuziehen wirklich die Beste ist."



"Wie sind deine Gefühle bei dem Gedanken bald wieder in München zu sein?"



"Scheisse", sage ich ohne zu zögern.



"Was hält dich in München? Also auf was willst du nicht verzichten? Gibt es etwas was du nur dort hast? Freunde?", möchte Rahel wissen.



"Eigentlich nur mein Studio und ein paar Freunde... aber die hängen alle irgendwie mit Chris zusammen."



"Wärst du traurig das zurück zu lassen?", fragt Rahel weiter.



"Nein", sage ich wie aus der Kanone geschossen. "Deshalb ja. Ich bin mir zu 90% sicher, dass ich es tun will. Ich brauch nur noch 5% Zustimmung von dir und 5% Zustimmung von Paddy."



"Warum willst du es von Paddy abhängig machen? Oder von mir? Du solltest das tun was dich glücklich macht. Ich werde dir lediglich sagen, dass du auf dein Bauch und dein Herz hören sollst. Lass in deinen Gedankengängen Paddy raus. Dazu ist das alles noch zu frisch. Denk nur darüber nach ob es dich glücklich macht und nicht irgendjemand anderen."



"Ich beziehe ihn nur mit ein, weil mich seine Meinung interessiert und deine Meinung ist mir wichtig. Ich will nichts überstürzen, ohne mit jemandem darüber gesprochen zu haben."



"Was würdest du sagen wenn ich dir rate es nicht zu tun?", Rahel blickt mich erwartungsvoll an. "Oder wenn Paddy sagen würde, dass er es für keine gute Idee hält?"



"Dann würde ich vielleicht einfach nochmal darüber schlafen?", so genau habe ich mir da noch keine Gedanken gemacht. "Ich weiss auch gar nicht welche Stadt es sein soll. Am liebsten würde ich natürlich nach Berlin gehen."



"Du solltest aber schon wissen wohin oder wenigstens was du machen möchtest. Du solltest einen Plan haben. Ich schätze dich nicht so ein, als dass du einfach ins Blaue hinausgehst. Verstehst du was ich meine?"



Ich nicke. „Mein Plan wäre es, mir in Berlin eine kleine Wohnung zu suchen und dort in einem Studio zu arbeiten. Also kein eigenes Geschäft mehr zu haben... es könnte aber genau so gut Frankfurt sein. Ich möchte einfach nicht mehr alleine sein."



"Ok, also Hauptsache weg?", fragt Rahel.



"Ja, ich will wirklich weg."



Siehst du dich denn wirklich in Frankfurt? Du solltest genau drüber nachdenken wo du dich wohlfühlen würdest. Ganz unabhängig von anderen. Nicht dass du aus den falschen Motiven weg gehst. Nicht dass es wieder so wird wie mit München."



"In meinem Kopf ruft es die ganze Zeit Berlin. Hat es eigentlich schon, seit ich aus dem Zug gestiegen bin. Das klingt jetzt vielleicht komisch aber es hat sich dort irgendwie nach Zuhause angefühlt."



Und was sagt das Herz?", bohrt Rahel weiter nach.



"Das Gleiche... ach Rahel ich bin mir so sicher, dass ich das jetzt tun muss. Ich will nur nicht, dass Paddy denkt, dass es wegen ihm ist."



"Wenn du dir sicher bist, dann solltest du es tun, und was Paddy angeht, warum sollte er etwas dagegen haben?"



"Ich hab keine Ahnung...", ich seufze.



"Tja dann findest du das nur heraus, indem du mit ihm redest. Mach deine Entscheidung aber nicht von ihm abhängig."



Das mache ich heute Abend. Aber denkst du, dass es eine gute Idee ist? Einfach mal zu machen? Es zu wagen?", frage ich noch immer unsicher.



"Solange du dich dabei wohl fühlst, warum nicht. Manchmal muss man einfach auch etwas wagen. Wenn man es nicht probiert, verpasst man vielleicht etwas ganz Tolles."



"Danke. Das beruhigt mich", ich spüre Erleichterung und umarme Rahel. Genau das fehlt mir in München. Eine Freundin, mit der ich über alles reden kann und die mir genau die richtigen Fragen stellt.



"Gerne doch. Was machen wir jetzt?", scheinbar ist für Rahel das Gespräch beendet.



"Du gönnst dir ein Bad und ich kümmere mich um das Geschirr. Nachher kommt Tabea vorbei und bringt Abendessen mit."



"Das klingt nach einem ziemlich guten Plan" grinst Rahel zufrieden.



"Na dann, husch husch in die Wanne", ich klatsche in die Hände.



"Jawohl Chef", grinst Rahel und springt auf .



Nach dem Gespräch mit Rahel steht mein Entschluss fest. Ich werde München so schnell wie möglich verlassen. Wie ich das anstelle, weiss ich noch nicht genau. Als erstes werde ich Paddy heute Abend nach seiner Meinung fragen. Ich hoffe, dass er nichts dagegen haben wird, wenn ich mich für Berlin entscheiden würde. Ich könnte mir dort eine kleine Wohnung nehmen und vielleicht irgendwo in einem Studio arbeiten. Selbstständig zu sein ist zwar echt schön, aber ich glaube, nur eine Angestellte zu sein wäre für mich im Moment die bessere Option.



Ich schnappe mir Rahels Laptop und gehe auf eine Immobilienseite. Dort schaue ich mir ein paar Wohnungen an. Was wenn Paddy es nicht gut findet, dass ich nach Berlin kommen möchte? Warum sollte er es denn eigentlich nicht gut finden? Wir könnten viel mehr Zeit zusammen verbringen. Fragen über Fragen, die ich mir jetzt so nicht einfach beantworten kann. Ich werde bis heute Abend warten müssen.



So-So?", fragt Rahel und stupst gegen meine Schulter. „Hm? Sorry ich war gerade in Gedanken." Ich schliesse das Fenster und klappe den Laptop zu. Rahel steht im Bademantel und mit Turban auf dem Kopf vor mir.



Wann wollte Tabea eigentlich da sein?", fragt sie und blickt auf die Uhr.



"Ich denke so gegen 18 Uhr?", sage ich und zucke mit den Schultern. "Dann werde ich jetzt noch ein bisschen Steuerkram erledigen. Du kannst ja ein Nickerchen machen", Rahel zwinkert mir zu.



"Gute Idee", ich gebe Rahel den Laptop und mache es mir auf der Couch bequem.





Zwei Stunden später hämmert es an die Tür und Rahel und ich zucken beide zusammen. „Boah, ich bring sie um!" Rahel stapft zur Tür. Während sie diese aufreisst, ruft sie laut: „Wenn du noch einmal so gegen meine Tür haust!"



Tabea scheint es nichts aus zu machen, denn sie tänzelt an Rahel vorbei in die Wohnung und balanciert dabei drei Tüten mit Essen. Diese platziert sie auf dem Couchtisch und grinst mich an. „Na du freche Nudel, lange nicht gesehen", ich stehe auf und umarme sie.



Den ganzen Abend über löchert mich Tabea mit Fragen. Auch sie findet es gut, dass ich München verlassen will. „Das habe ich doch schon lange gesagt. Du musst da weg!", wiederholt sie immer und immer wieder. Tatsächlich hatte sie das vor einiger Zeit auch schon im Gruppenchat geschrieben. „Also ich finde ja, du solltest nach Frankfurt ziehen", meint sie grinsend und boxt gegen meine Schulter.



Innerlich wusste ich es eigentlich schon seit der Trennung von Chris, nur hatte ich bis jetzt keine Ahnung wo ich hin gehen könnte. Es jetzt wirklich auszusprechen und mich richtig damit zu beschäftigen gibt mir wieder Mut und Lebensfreude. Die grauen Wolken verziehen sich schneller als ich zuschauen kann.



Jetzt macht alles irgendwie Sinn. Ich bin gespannt was Paddy später dazu sagen wird. Ein bisschen mulmig ist mir trotzdem.

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