Prolog

Januar 2020

Liebe Mama,

auch wenn ich weiß, dass du diesen Brief, dort wo du bist, nie lesen kannst, haben mir mehrere Sozialarbeiter hier geraten, dir diese Zeilen zu schreiben. Sie sind der Meinung, dass mir das gut tun würde, dass es mir helfen würde, deinen Verlust und alles, was seitdem passiert ist, nach all den Jahren zu verarbeiten. Dass es mir helfen würde, mit allem hier klar zu kommen. Aber ich will das nicht. Ich will nicht mit deinem Tod abschließen, da ich Angst habe, dich zu vergessen. Dein Lachen, deine Stimme, aber vor allem zu vergessen, wie du ausgesehen hast. Alles, was ich noch von dir habe, sind ein paar Bilder und meine Erinnerungen, die immer mehr verblassen und an die ich mich verzweifelt klammere. Nur meine Erinnerungen haben mir in den letzten Jahren Halt und Kraft gegeben. Ich hätte sonst diese beiden Jahre nicht überstanden. Ich hätte vermutlich nicht einmal die letzten sieben Jahre seit deinem Tod überstanden. Verdammt! Ich habe Angst davor, dich zu vergessen. Meine eigene Mutter zu vergessen. Kann man das überhaupt? Andere würden sagen, dass das nicht möglich ist, aber diese Leute haben nicht das durchgemacht und erlebt wie ich. Sie haben bestimmt nicht die wichtigste, die einzige Bezugsperson in ihrem Leben verloren. Ich hatte nie jemand anderes dich.

Während ich hier sitze und überlege, was ich dir verdammt noch mal schreiben soll, außer wie sehr ich dich vermisse, starre ich aus dem vergitterten Fenster und überlege. Seit fast zwei Jahren sind diese acht Quadratmeter mein „Zuhause". Vor dem Fenster wirbeln dicke Schneeflocken umher. Der draußen herrschende Schneesturm kommt den Gefühlen in mir sehr nah. In mir fühlt sich alles kühl und durcheinander an, seitdem du nicht mehr da bist. Es ist Januar. Vor ein paar Wochen war mein 19. Geburtstag. Ein weiterer ohne dich. Ein Einsamer. Die umher wirbelnden Gefühle in mir schnüren mir regelmäßig den Atem ab. Ich drohe zu ertrinken, zu ersticken. Ich kann aus eigener Kraft diesem verfluchten Strudel nicht entkommen.

Es heißt immer, die Verstorbenen können ihre Liebsten vom Himmel aus sehen und würden auf diese aufpassen. Falls das stimmt, weißt du ja sicher, wie ich hier gelandet bin. Die Vorstellung, dass du alles, meine ganzen Verfehlungen, den Mist, welchen ich angestellt habe, von dort oben mit angesehen hast... macht mich das wütend. Wütend auf mich selbst. Weil ich mittlerweile weiß, dass ich dich mit den Diebstählen und diesem verfluchten Einbruch enttäuscht, dich verletzt und somit deine gute Erziehung mit den Füßen getreten habe. Was denkst du jetzt über mich? Bin ich trotzdem noch dein kleiner Ben, den du vor allem Übel und schlechten Einfluss beschützen würdest? Ich wünschte mir so sehr, dass du hier wärst. Ich sehne mich nach dir. Ich merke immer mehr, wie sehr ich dich brauche. Deine sanfte, warme Stimme. Wie viel leichter wäre mir die Zeit hier gefallen, wenn ich dich nur ab und zu hätte sehen können. Alles wäre so viel leichter gewesen. Nicht nur das Gefängnis, sondern auch mein Leben, einfach alles! Mein Leben wäre anders, besser verlaufen. Ich wäre vermutlich nie abgerutscht.

Willst du wissen, wieso ich so tief gesunken bin? Nach dem Unfall war ich alleine und ich habe mich nach...ach, keine Ahnung nach was gesehnt. Nach Umarmungen? Nach jemandem, der für mich da ist? Nach jemandem, der mir die Kraft gibt, das alles durchzustehen? Aber es war keiner da, der die große Lücke, die du hinterlassen hast, schließen konnte. Ich hatte mich zurückgezogen. An einem Ort tief in meinem Inneren, an dem ich einfach nur trauern konnte. Aus dem mich keiner wirklich herausholen konnte. Ich war gefangen in einer Welt voller verschiedener Gefühle. Einer Welt aus Trauer, Wut, Verzweiflung und Einsamkeit.

Ich habe so viele Fragen an dich, die ich dir einfach nie stellen kann und auf die ich nie eine Antwort erhalten werde. Du wolltest mir immer sagen, wer mein Vater ist. Wer dieser Vollidiot, dieser Arsch ist, der dich alleine gelassen hat. Du wolltest mir immer seinen Namen sagen, wenn ich älter gewesen war und wissen wollte, wer dieser Mann gewesen ist. Aber jetzt kannst du es nicht mehr. Vermutlich konnte mir gar nichts besseres passieren, als dass du mich alleine aufgezogen hast. Wir beide waren ein tolles Team, das gegen so viele Sachen gekämpft hat. Du warst dabei die größte Kämpferin, mein Vorbild. Du hast mich alleine großgezogen, was vermutlich nicht immer leicht war. Schließlich war ich nicht immer ein einfaches Kind, hast du einmal gesagt.

Beim Unfall, hast du da Schmerzen gehabt? Hast du gelitten? An was hast du gedacht, als das andere Auto in deines gekracht ist? Als 12-jähriger war ich glücklich gewesen, dich im Krankenhaus noch einmal zu sehen, noch einmal von dir berührt zu werden, deine Stimme zu hören. Aber jetzt, wo ich älter bin, frage ich mich, ob es so gut war, dass du erst im Krankenhaus gestorben bist. Ich hätte mir gewünscht, dass du nichts mehr gespürt hättest. Ich hätte dich als die Frau in Erinnerung behalten, die du warst. Zu der ich mein ganzes Leben aufgesehen habe. Aber ich bin auch stolz auf dich, denn du hast gekämpft. Für mich, für uns. Du wolltest mich nicht verlassen, aber am Ende hattest du keine Chance gehabt. Ich wünschte, ich wäre so ein Kämpfer wie du. Ich wünschte, ich hätte ein bisschen mehr von dir.

Dein Ben

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