07. Wendy
Wendy streckte den Arm aus, zog mit der anderen Hand ihren Dolch hervor und sagte: „Bleib zurück."
„Ich kann mich verteidigen", sagte Bell trotzig klingend, wobei Wendy nicht übersah, wie sie ihr einen giftigen Blick zuwarf, der soviel aussagte wie Das ist deine Schuld. Es war ihre Schuld, dass sie nicht in Sicherheit waren. Wendy hatte ihrer Hybris vertraut und jetzt mussten sie den Preis zahlen.
Das Gras, das kaum hoch genug war, um ihre Knöchel zu verdecken, raschelte ringumher. In der eingehenden Dunkelheit der Nacht, konnte Wendy ihre ganze Umgebung nicht erkennen, aber sie konnte sehen, dass dunkle Schatten sich über den Boden schlängelten. Sie hatte es bisher immer vermeiden gehen, den gefürchteten Reptiloiden aus Pans Arsenal entgegenzutreten, aber es schien, als wäre ihr Glück abgelaufen.
„Noch kannst du zur Stadt laufen", sagte sie leise.
Bell schnaubte. „Jetzt ist es auch zu spät." Aus dem Augenwinkel sah Wendy das Blitzen von Bells Messer, das diese nah an ihrem Körper hielt. Ein Überraschungseffekt, der vielleicht von Nöten sein würde.
Erneut raschelte es in der Nähe, Wendy drückte das Bein durch und wartete auf den Angriff. Leiser Wind heulte, Staub rauschte über den Boden. Zu ihrer Linken, mitten im Feld, umschlossen von knöchelhohem schwarz aussehendem Gras, glitzerte es für den Bruchteil einer Sekunde. Wendy agierte, noch bevor sie darüber nachdenken konnte. Mit der freien Hand drückte sie Bell hinter sich, mit dem Dolch nach vorne gerichtet, stellte sie sich vor sie. Einen Moment später sprang der Angreifer aus dem Gras – hinter ihr.
Es war Bells Messer zu verdanken, dass sie nicht von drei messerscharfen Klauen aufgeschlitzt wurde.
Der Reptiloid war klein und schuppig und im wenigen Mondlicht sah er aus, als hätte er sich frisch aus einem Ei geschält. Das Wesen stand gebeugt da, mit einem langen, peitschenden Schwanz, der über den Boden zischte, als wäre er eine Schlange. Lange Klauen schmückten die zu langen Gliedmaßen, während es auf zwei Beinen stand, die so dünn waren, dass es überraschend war, dass sie das Körpergewicht überhaupt halten konnten. Der schmale haarlose Kopf hatte einen langgezogenen Kiefer, mit zwei Reihen an kleinen, spitzen Zähnen, von denen der Geifer tropfte. Wendy hatte davon gehört, dass die Reptiloiden eine abartige Mischung aus Mensch und Krokodil waren und bisher hatte sie sich nie etwas darunter vorstellen können. Es vor sich zu sehen, war schlimmer als alles, was sie sich hätte ausmalen können.
„Zurück!", rief sie aus, aber Bell hatte sich in dem Moment dazu entschieden, ihr Messer nach der angreifenden Kreatur zu schwingen. Als wäre es ein einfaches Kinderspielzeug, zerbrach es beim Kontakt mit der schuppigen Haut. Messersplitter fielen wie Schneeflocken zu Boden. „Jetzt geh endlich zurück!"
Dieses Mal tat Bell wie geheißen und wirbelte um Wendy herum. Auf ihrem Gesicht stand die blanke Panik, die Angst, dass sie jeden Moment verschleppt werden würde. Wendy würde es nicht zulassen. Es war ihre Schuld, dass sie sich nicht früher in Sicherheit gebracht hatten, deswegen würde Wendy auch alles tun, um zumindest Bell zu schützen. Es war unsinnig, dachte sie, als sie sich der knurrenden Kreatur stellte. Sie kannte Bell kaum und doch war sie bereit, ihr eigenes Leben in Gefahr zu bringen.
Der Reptiloid ließ ihr keine Zeit ihre Wahl zu lamentieren. In einer unnatürlich grotesken Bewegung ließ sich die Kreatur zu Boden fallen, sodass es auf allen vier langen, dürren Gliedmaßen stand, dann kroch es mit einer überraschenden Schnelligkeit auf sie zu – wobei es Wendy komplett ignorierte, obwohl diese vor ihr stand. Der Reptiloid peitschte mit dem Schwanz über den staubigen Trampelpfad, schwang sich selbst um Wendys Beine und schlug mit einer klauenbesetzten Hand nach Bell aus.
Irritiert blickte Wendy der Kreatur nach, bevor sie selbst aus der Schockstarrte befreite. Mit gezücktem Dolch trat sie auf den Reptiloiden zu und stach zu. Ihre Klinge sank zwischen den Schulterblättern hindurch – zumindest vermutete Wendy, dass sich bei einem Menschen dort die Schulterblätter befinden würden. Der Kreatur entkam ein hohes Knurren, ein Zähnefletschen, bevor er sich rapide um die eigene Achse drehte, als wolle es sich auf dem Boden einrollen. Der peitschende Schwang schlug gegen Bells Beine und brachte sie zu Fall.
„Bell!", rief Wendy aus. „Nimm meinen Dolch!" Überflüssigerweise deutete sie auf die Klinge, die noch tief im Fleisch des Monsters steckte.
Bell vollführte einen Hechtsprung, um den Griff des Dolchs erfassen zu können, wurde allerdings beiseite geschleudert, als der Reptiloid sich wieder in ihre Richtung drehte. Schmerzhaft schrie sie aus, als eine der Klauen ihren Unterarm entlangriss. Dunkelrotes Blut benetzte den Boden und ihr Hemd.
Wendy nutzte den Moment, in dem das Monster sich ein weiteres Mal von ihr abgewandt hatte, griff selbst nach ihrem Dolch und zog es aus dem zähen Fleisch der Kreatur. Erneut knurrte der Reptiloid auf, ließ sich aber nicht weiter von einer schwächlichen Verletzung irritieren.
Sich den verletzten Arm haltend, rappelte Bell sich auf, bevor sie ein paar Schritte nach hinten stolperte. Der Reptiloid krabbelte über den trockenen Boden auf sie zu. Es hatte längere, schnellere Beine als Bell. Selbst wenn sie sich umdrehen und rennen würde, würde es sie in Sekundenschnelle eingeholt haben.
Ohne ihr kleines Messer war Bell vollkommen wehrlos, hatte Wendy gedacht und sie mutig vor sie gestellt. Bell brummte in ihre Richtung: „Lenk es irgendwie ab."
„Das versuche ich gerade", knurrte Wendy als Antwort mit zusammengebissenen Zähnen, während sie der hässlichen Kreatur ins entstellte Gesicht starrte. Zwei kleine weiße Augen stierten blind zurück. „Versuch du dich lieber in Sicherheit zu bringen."
Bell lachte leise. „Ich bin keine hilflose kleine Fee"
„Das hab ich nicht –"
„Vorsicht!" Bell riss an Wendys Taille, sodass sie sie mit zu sich nach hinten zerrte. Die ausgeschlagene Klaue des Reptiloiden ging ins Leere, aber der Luftzug schwang dennoch über ihre Haut. Dort, wo eben noch ihr Bauch gewesen war, war die Luft entzwei geteilt worden.
„Danke", sagte sie schwer atmend.
„Jetzt lenk es irgendwie ab." Bell ließ von ihr ab und lief ein paar Schritte in die entgegensetzte Richtung, aber es schien, als hätte es die Kreatur besonders auf sie abgesehen. Vielleicht roch es ihr Blut, dachte Wendy, als sie beobachtete, wie der Reptiloid sich grotesk auf dem Boden drehte und in Bells Richtung starrte. Nur den Bruchteil einer Sekunde ließ es sie in ihren Gedanken, dann krabbelte es ein weiteres Mal über den Boden, direkt auf die Fee zu, die nichts weiter tun konnte, als weiter zurück zu weichen.
Für einen Augenblick hing die Entscheidung wie ein Damoklesschwert über ihr, dann warf Wendy alle Vorsicht beiseite. Mit dem Dolch fest zwischen den Fingern machte sie einen Ausfallschritt, bevor sie sich auf den schuppigen Rücken der Kreatur warf. Sowohl Wendy als auch Bell und der Reptiloid waren von dieser Aktion mehr als überrascht, sodass sie für einen Moment lang nichts tat, ehe sie den Dolch ein weiteres Mal tief unterhalb des Nackens der Kreatur versank. Aus der bereits entstandenen Wunde sickerte dickflüssiges Blut, welches in der Dunkelheit der Nacht die Farbe von Schlamm hatte.
Wendy hatte Schwierigkeiten, sich auf dem schuppigen, glitschigen Körper der Kreatur festzuhalten, doch sie würde nicht zulassen, dass er Bell ein weiteres Mal angriff. Zu viele Strapazen hatte sie auf sich genommen, um überhaupt jemanden zu finden, der ihr helfen würde, als dass sie sie jetzt sterben lassen würde – oder was immer Reptiloiden mit ihren Opfern anstellten.
„Los!", presste die atemlos hervor, beide Hände fest um den Dolchgriff geschlungen, während sie sich mit einem Fuß unter den Oberschenkel der Kreatur gekrallt hatte. „Tu etwas!"
Bell ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie nutzte die Zeit, die Wendy ihr geschafft hatte, ging ein paar Schritte nach hinten und streckte beide Hände aus. Wenn Wendy nicht bereits seit zwei Jahren in Nimmerland wäre und oft genug gesehen hätte, wie Mitglieder von Hooks Crew Magie benutzten, dann hätte sie jetzt gedacht, Bell hätte den Verstand verloren, sich inmitten einer lebensgefährlichen Situation so ruhig hinzustellen.
Ein schwaches rotes Leuchten ging von Bells Fingerspitzen aus, das ein wenig so aussah, als hätte sie ihre eigenen Finger als Streichhölzer genutzt. Die Hitze von Bells Magie ging direkt in die Luft über. Obwohl Wendy und die Kreatur weit genug von Bell entfernt waren, spürte Bell die Hitze, als würde sie direkt neben ihr stehen, als würde sie neben einem knisternden Kaminfeuer stehen. Der Reptiloid zappelte unter Wendys Körpergewicht und versuchte mit zuckendem Schweif und zuschnappendem Maul Bell anzugreifen. Trotz der geringen Größe war es erstaunlich kräftig.
Schweiß stand Wendy auf der Stirn und sie presste vor Anstrengung ihre Zähne zusammen, damit sie die Kreatur nicht loslassen würde, bis Bell soweit war.
Sekunden fühlten sich wie Stunden an und auch wenn Bell kaum eine Minute später: „Weg da!", rief, waren Wendys Arme kraftlos und ihre Muskeln ätzten und protestierten bei jeder Bewegung. Wendy wartete nicht darauf, dass Bell ihre Magie wirklich nutzte. Unter lautem Stöhnen ließ sie den Dolchgriff los und rollte sich von der Kreatur auf den Boden, wobei sie versuchte nicht auf seine messerscharfen Klauen zu fallen. Kaum hatte sie ihr Gewicht vom Reptiloiden genommen, riss dieser sich vom Boden hoch, stemmte sich auf, die dünnen Beine durchgebogen, der lange Schweif aggressiv peitschend – und wurde direkt mit einem schmalen Flammenstrahl ins aufgerissenen Maul getroffen.
Die plötzlich aufkreischenden Flammen erhellten die Umgebung, tauchten sie in blutrot und warfen groteske, verzerrte Schatten auf den schmutzigen Boden. Das Feuer ließ Bells dunkle Haut aussehen wie Obsidian. Die Schuppen der Kreatur reflektierten die Flammen in alle Richtungen. Wendy warf die Arme über den Kopf, als die Hitze wie eine Welle über sie rollte.
Der Reptiloid kreischte und knurrte vor Schmerzen – zumindest hoffte Wendy, dass es vor Schmerzen war – auf, bevor es mit reißenden Bewegungen zu Boden fiel und im knöchelhohen Gras hinter Wendy verschwand. Nur das Rascheln des Grases und das Zischen der Flammen war zu hören, bis Bell den Zauber auflöste und erschöpft zu Boden sank. Wendy nahm die Hände vom Gesicht und starrte zum nachtschwarzen Himmel. Sie atmete so schwer, dass sie das Gefühl hatte, dass ihr ganzer Körper sich verdoppelte, als sie Luft holte.
„Nächstes Mal", presste sie zwischen zwei heftigen Atemzügen hervor, „höre ich auf dich."
Bell ließ die Arme sinken und setzte sich geräuschvoll neben Wendy in den Schmutz. „Zu einem nächsten Mal soll es gar nicht mehr kommen", sagte sie. „Das war das erste und einzige Mal, dass ich mich einem dieser Dinger stellen musste. Lieber vergrabe ich mich unter der Erde und warte, bis die Sonne wieder aufgeht."
„Es schien es auch sehr auf dich abgesehen zu haben", kommentierte Wendy weiterhin versuchend zu Atem zu kommen.
Schnaubend antwortete Bell. „Wahrscheinlich weil meine Magie stärker ist."
Wie auf Kommando hob Wendy den Kopf und starrte zu Bell, die neben ihr saß und sich durch die dunklen Haare wischte. „Natürlich", sagte sie langsam. „Das ist es."
Bell legte die Stirn in Falten. „Hat das Ding dich am Kopf erwischt? Das ist – "
„Nein, du verstehst nicht. Das ist ihre Schwachstelle. Man kann sie nur an der weichen Haut verletzten, die nicht von Schuppen bedeckt ist, aber meist sind sie viel zu schnell und wendig, damit man diese Stellen überhaupt erreicht. Ich kann sie aber immer erreichen."
„Jetzt bildest du dir ein wenig viel auf deine Fähigkeiten ein", meinte Bell.
Wendy unterdrückte den Drang, ihr zu sagen, dass sie die Klappen halten sollte. „Reptiloiden sind blind. Es hat sich nur auf dich fokussiert, weil du Magie im Körper hast. Es jagt anhand der Magie, nicht weil es dich hört oder sieht. Deswegen hat es mich ignoriert."
Endlich dämmerte Bell, was Wendy sagen wollte. „Und du hast keine Magie, weil du nicht aus Nimmerland kommst", entgegnete sie langsam, wobei ihr der Mund offen hängen blieb.
„In Nimmerland hat jeder Mensch irgendwie Magie in sich, deswegen können die Reptiloiden sie auch überall finden, obwohl sie nichts sehen können. Ich wette, das hat Pan bei ihrer Erschaffung nicht bedacht." Erfolg durchflutete ihre Venen und Wendy setzte sich in eine aufrechte Position. „Damit haben wir etwas in der Hinterhand."
„Eine von Pans Schwachstellen", schloss Bell, den Blick nicht von Wendy nehmend. „Du bist genial."
Hitze wärmte ihre Wangen. „Beizeiten", gab sie zu.
Bell schüttelte langsam den Kopf, dann drückte sie sich wieder vom Boden. „Ich bin ganz ehrlich, ich hätte nie gedacht, dass ein magieloser Mensch vielleicht mal die Antwort auf etwas sein würde. Du steckst voller Überraschungen." Sie streckte die Hand aus.
„Du aber auch", erwiderte sie Bells Hand packend. Wendy ließ sich auf die Beine ziehen, noch immer schwer atmend. „Dieser Feuerstrahl war nicht ohne."
Im Schein des Mondes war es schwer zu erkennen, aber Wendy war sich ziemlich sicher, dass Bells Wagen ein wenig dunkler wurden. Sie wich ihrem Blick aus und sah in Richtung Yarrin, das in all der Zeit nicht näher gekommen war. Verlockend glänzten die Lichter der Laternen in der Ferne, wie kleine Leuchttürme, die sie zur Sicherheit rufen wollten. „Simple Magie", sagte Bell leise.
Wendy lächelte sie an, auch wenn Bell nicht in ihre Richtung sehen wollte. Das sanfte Licht ließ ihr Gesicht glatt aussehen, runder als es eigentlich war und zeichnete weiche Schatten auf ihre Wangen und Augen. Bells Lippen waren zu einem Lächeln verzogen und Wendy fand, dass es mindestens genauso strahlte, wie der Mond über ihnen. „Wir sollten weiter. Nicht, dass noch so ein Ding auf die Idee kommt, uns anzugreifen."
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