04 - Wendy

Wendy hatte gedacht, sie müsste mehr Überzeugungsarbeit leisten, damit sich Bell ihr anschließen oder zumindest öffnen würde, aber sie würde sich auch nicht beschweren, wenn sie es einfacher hatte. Sicherlich hatte sie einen wunden Punkt getroffen, als sie Bell auf ihren Fluch angesprochen und von ihrer eigenen Erfahrung erzählt hatte. Nicht, dass sie selbst viel dazu erzählen konnte. Sie wusste lediglich, dass sie Nimmerland nicht verlassen konnte, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, was damals geschehen war. Genau wie ihre Erinnerungen an John war alles andere, was im Schloss geschehen war, ein wirres Meer aus Bildern und Szenen, die sie nicht zusammensetzen konnte.

Vor ihnen lichteten sich langsam die Wälder und Bell verlangsamte ihre Schritte. „In der Siedlung werde ich nicht mit dir reden können", sagte sie. „Die anderen Feen werden dir wahrscheinlich nicht unbedingt freundlich gesinnt sein, aber sie sollten dich in Ruhe lassen, wenn ich dabei bin."

„Sie sollen mich nicht in Ruhe lassen", antwortete Wendy, die den Nacken streckte, um einen Blick auf die Feensiedlung werden zu können. „Ich will ihnen Fragen stellen."

„Das wird dir auch nichts bringen. Selbst wenn sie etwas wüssten, wird dir keiner etwas sagen. Und ich kann dir versprechen, dass niemand in meiner Siedlung etwas über das Gefäß weiß."

„Hast du alle danach gefragt?", fragte Wendy.

Bell stockte. Durch das wenige Licht, das sich durch die Baumkronen auf ihr Gesicht kämpfte, wirkte es so, als hätten sich goldene Flecken über ihre Haut ergossen. „Ich kann niemanden danach fragen."

Siedend heiß fiel es ihr wieder ein. „Mist. Richtig. Tut mir leid, ich hab's vergessen."

„Kann ich dir nicht übelnehmen", erwiderte Bell, auch wenn es sehr danach klang, als würde sie es dennoch tun. „Mach", fing sie an, seufzte und fing erneut an: „Mach dir einfach nicht zu viele Hoffnungen."

Wendy unterdrückte den Drang die Augen zu verdrehen. „Mit dieser Einstellung werde ich nicht sehr weit kommen. Ich bin hergekommen, um Antworten zu bekommen und nicht, um mir keine Hoffnungen zu machen. Wenn dem so wäre, dann könnte ich auch einfach mein Leben auf dem Schiff hocken, Fische fangen und darauf warten, dass jemand anderes Pan das Handwerk legt, bevor er das ganze Land umgebracht hat."

Bell schnalzte mit der Zunge, bevor sie sich wieder umwandte und weiterging. Im leisen Knirschen ihrer Schuhe auf Laub und Moos ging es beinahe unter, als sie antwortete: „Wahrscheinlich hast du Recht."

Lautlos seufzend schloss Wendy zu ihr auf. „Ich will nur nicht weiter tatenlos herumsitzen. Pan hat schon viel zu lange die Macht über Nimmerland. Irgendwann muss jemand aufstehen und ihn stürzen."

„Ich weiß", sagte Bell leise. „Ich weiß das. Es ist ..." Sie ließ den Rest ungesagt, aber Wendy dachte sich, was sie sagen wollte.

„Es ist schwierig, allein etwas auszurichten", schloss sie, woraufhin Bell eine Grimasse schnitt, die mehr als deutlich machte, dass Wendy den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. „Deswegen sind Hook und ich auch aus, um neue Verbündete zu finden. Nur er und ich allein könnten unmöglich etwas gegen Peter Pan ausrichten, schon lange nicht, wenn dieser sich in seinem Schloss versteckt hält."

Die Siedlung der Feen kam näher. Immer wieder konnte Wendy Häuser zwischen den Bäumen aufblitzen sehen. Sie hatte sich unter einer Feen-Siedlung zwar etwas anderes vorgestellt, als eine Ansammlung von Häusern, grob gepflasterter Straße und ein paar Laternen, die die Ecken und Straßen säumten, aber sie wusste auch nicht, ob die Märchen von der Erde, die man ihr über Feen erzählt hatte, irgendwie der Realität entsprochen hatten.

Am Waldrand blieb Bell ein weiteres Mal stehen. „Du bist enttäuscht", stellte sie fest.

Überrascht drehte Wendy den Kopf zu. „Was hat mich verraten?"

Ein schwaches Lächeln umspielte Bells Lippen. „Dein Blick. Keine Sorge, nicht alle Feen-Städte sind so simpel. Zumindest nicht die großen Städte. Wir haben hier nicht allzu viel, also müssen wir ein einfaches Leben führen, aber wir beschweren uns nicht. Die Wälder schützen uns vor Pans Schergen."

„Den Reptilien-Freaks", erwiderte Wendy.

Bell sah so aus, als würde sie gerne darüber lachen. „Sie haben in der letzten Nacht eine aus unserer Siedlung geholt."

Schauer rann ihren Rücken hinab. „Tut mir leid das zu hören."

„Die anderen sind deswegen auch nervöser als sonst. Vielleicht glauben sie, du würdest mit ihnen unter einer Decke stecken."

„Mit diesen Kreaturen?", erwiderte Wendy, wobei sie sich beherrschen musste, die Stimme nicht zu erhoben. „Vielen Dank, aber da würde ich mich lieber von den Meerjungfrauen fressen lassen."

Bell verzog die Miene. „Ich wollte dich auch nur warnen."

Wendy lächelte schmal.

Als sie den Wald verließen, drehte Bell ein letztes Mal das Gesicht zu ihr, ehe sie flüsterte: „Ab hier werde ich nicht mehr reden können."

Statt zu antworten, nickte Wendy. Sie unterdrückte den Drang sich die Kapuze wieder über den Kopf zu ziehen. Kaum war sie mit Bell aus dem Schatten der riesenhaften Bäume getreten, konnte sie die neugierigen und ängstlichen Blicke der Feen rundherum spüren. Einige von ihnen blieben mitten in der Luft schweben und starrten Wendy an, andere von ihnen flüchteten sich in die Sicherheit ihrer schlichten Holzhäuser, sobald sie sie bemerkten. Wendy presste die Lippen zusammen und die Hände an ihre Seite. „Besonders gastfreundlich sind die Feen ja nicht unbedingt", murmelte sie zögerlich, sodass Bell ihr einen zweifelnden Blick zuwarf. Trotz der kühlen Atmosphäre konnte Wendy nicht anders, als die Siedlung mit großen Augen zu betrachten. Sie hatte noch nie so viele Feen auf einem Haufen gesehen, noch dazu mitten in ihrem eigenen Element. Im Licht der brennenden Sonne glitzerten die Flügel der Feen in schillernden Farben über ihr, sodass es den Eindruck hatte, als würde ein gläsernes Dach über ihnen schweben. Die Feen blieben trotzdem auf Abstand.

Es hatte nicht den Anschein, als würde man Wendy beizeiten mit offenen Armen empfangen. Selbst in Begleitung einer anderen Fee betrachtete man sie argwöhnisch, als würde sie jeden Moment die Siedlung in Flammen aufgehen lassen wollen. Wendy folgte Bell mit vorsichtigen Schritten die einzige Straße entlang, die es zu geben schien, bis sie auf einen kreisrunden Platz kamen, der mit Steinen bedeckt und mit Bänken und Pflanzkübeln geschmückt war. Blumen und Efeuranken waren um die in die Höhe ragenden Laternen gebunden und ein paar geschickt platzierte Körbe voll mit Kraut und Blumen ließ die ganze Siedlung grüner und belebter aussehen, als sie eigentlich war.

Wenn Wendy ganz ehrlich war, dann fand sie die Feen-Siedlung ein wenig trostlos. Sie ließ den Blick kreisen, um alles ganz genau aufzusaugen. Noch schien ihr niemand feindlich gesinnt zu sein, aber wenn das eintreten sollte, war sie vorbereitet. Der Dolch an ihrer Seite war ein vertrautes, sicheres Gewicht. Sie war sich nicht sicher, wie sie sich fühlen sollte. Von Hook wusste sie, dass die Feen über ganz eigene Magie verfügten, aber auch er konnte ihr nicht sagen, ob die Feen gefährlicher waren, als sie in den Beschreibungen manchmal klangen. So viel wie er wusste, wusste Wendy auch und das war das wenige, was sie sich über den Feen zusammenreimen konnte.

Mit Argwohn betrachtete sie ihre Umgebung und versuchte die Blicke der umstehenden und umfliegenden Feen aufzufangen, doch kaum bekamen diese mit, dass Wendy in ihre Richtung sah, taten sie so, als wären sie in ihre Tätigkeit vertieft oder flohen gänzlich dem Platz. Wendy schob ihre Füße nervös hin und her und blickte zu Bell, in der Hoffnung, dass diese ein Zeichen geben würde, doch diese hatte die Augen in die andere Richtung gedreht. Wendy folgte ihrem Blick.

Eine Fee, die aussah, als wäre sie hochschwanger, tauschte Blicke mit einem bärtigen Feenmann, bevor sie mit vorsichtigen Schritten auf Bell und Wendy zukamen. In sicherer Entfernung blieben die beiden Feen stehen, wobei die schwangere Fee sich direkt ein paar Zentimeter in die Luft erhob und versuchte, den Blick von Bell aufzufangen. Ihre Flügel machten kein Geräusch, ließen aber Lichtflecken über den Boden tanzen.

Bell hingegen starrte auf ihre Schuhe.

„Wer ist das?", verlangte die Fee zu wissen. Ihre beinahe weißen Haare blendeten Wendy im direkten Sonnenlicht.

Wendy fand das ziemlich unhöflich, schluckte ihren Stolz aber einmal mehr um der Mission willen herunter. Wenn sie sie im Wald getroffen hätte, hätte Wendy ihr wahrscheinlich ebenfalls das Messer an die Kehle gehalten, also konnte sie sich wohl nicht einmal darüber beschweren, dass die Feen ihr ein wenig kühl gegenüber waren. „Mein Name ist Wendy", sagte sie und reckte das Kinn ein wenig. „Ich bin eine Reisende auf der Suche –"

„Bell", unterbrach der Feenmann sie mit brummender Stimme. „Wo hast du diese Göre her? Du weißt genau, dass wir Außenseiter –", er machte eine abrupte Bewegung mit seiner Hand, aber Wendy musste nicht hören, was er sagen wollte.

Dass wir Außenseiter beseitigen, vermutete sie.

Bell sagte nichts, sondern zuckte nur mit der Schulter.

Erst da sah er direkt zu Wendy. „Menschen sind hier nicht gestattet", wiederholte er. „Verschwinde wieder, bevor wir dafür sorgen, dass du es tust."

Wendy unterdrückte den Drang zu schnauben. Offensichtlich hatte man vergessen ihr zu sagen, dass Feen nicht nur äußerst zurückgezogen, sondern auch aggressiv waren, wenn es um Fremdlinge ging. Der Situation der Siedlung nach zu urteilen, konnte sie auch verstehen, wieso das so war; hier lebten wahrscheinlich keine dreißig Leute und Bell hatte ihr gesagt, dass man erst letzte Nacht eine von ihnen geholt hatte. Außenseiter waren den Feen ein Dorn im Auge und Wendy, die wahrscheinlich der größte Außenseiter von Nimmerland war, war direkt der ganze Dornenbusch.

So einfach würde sie allerdings nicht aufgeben. Sie hatte es geschafft, Bell zu überzeugen, dass sie keine Gefahr darstellte, also würde sie das erneut schaffen. Die Feen mochten ihr gegenüber unfreundlich, beinahe schon aggressiv sein, aber wenn sie aus den alten Erzählungen eines gelernt hatte, dann dass sie niemals jemandem geschadet hatten, der es nicht auch verdient hatte. Bisher hatte Wendy ihnen keinen Grund gegeben, ihr zu schaden. Sie setzte ein Lächeln auf und sagte: „Das verstehe ich und es tut mir auch leid, dass ich einfach so in eure Siedlung platze. Ich fürchte lediglich, ich habe mich im Wald verirrt und meinen Vorrat beinahe aufgebraucht. Diese freundliche Fee hat angeboten, mich hierher zu führen, damit ich ein wenig tauschen und mich ausruhen kann."

Der bärtige Feenmann verschränkte die Arme. Seine Augenbrauen waren dicht zusammengezogen und tiefe Furchen waren auf seiner Stirn erschienen. „Das hat Bell also gesagt, ja?"

Wendy erkannte ihren Fehler zu spät und biss sich auf die Zunge.

„Sie hat mit dir gesprochen?", fragte die schwangere Fee vorsichtig. „Das ist ungewöhnlich."

„Äußerst ungewöhnlich", fügte der Mann hinzu.

Mit einer Hand deutete Bell erst auf Wendy, dann auf den Wald, dann auf die beiden Feen. Sie wiederholte die Geste, wobei sie ein wenig hektischer wurde. Wendy war sich nicht sicher, was sie damit sagen wollte. Als niemand ihre Geste zu verstehen schien, seufzte Bell lautlos auf, legte eine Hand auf Wendys Oberarm und deutete dann mit der anderen wieder auf den Wald. Sie starrte die schwangere Fee an, der ein paar Augenblicke später ein Licht aufzugehen schien.

„Oh! Natürlich, du bist das Mädchen aus dem Wald", sagte sie mit schneller Stimme.

Bell nickte aufgeregt.

„Meine Güte, dann musst du ja schon Ewigkeiten herumirren, kein Wunder, dass du keinen Proviant mehr hast. Damos, komm schon, wir bringen sie zu Prilla, dann kann sie etwas essen."

Der Feenmann namens Damos sah aus, als hätte die Fee ihm gerade gesagt, er müsste ins Exil gehen. Mit weitaufgerissenen Augen starrte er erst zu Wendy, dann zu der schwangeren Fee. „Mari! Hast du Färbemittel gesoffen, oder was? Das ist ein Mensch! Ein Fremdling!"

„Und sie ist offensichtlich verloren und hungrig", fuhr die Fee ihn an. „Ich will ihr ja nicht all unsere Vorräte schenken." Sie riss die Augen auf, als würde sie Damos etwas sagen wollen, aber dieser knurrte lediglich. Mari seufzte leise. „Komm mit. Wendy, richtig?"

Dankbar für die plötzlich doch auftretende Gastfreundschaft, ließ Wendy sich von Mari und Bell durch die Siedlung führen, während der Feenmann zurückblieb. „Das ist wirklich nett von euch", sagte Wendy betont freundlich, während sie aus den Augenwinkeln heraus versuchte zu erkennen, was der Feenmann trieb. Er starrte ihnen lediglich mit verschränkten Armen hinter.

„Ignorier Damos einfach", erwiderte Mari über die Schulter. „Er ist ein alter Griesgram und viel zu argwöhnisch, seit wir hier leben. Hier rein." Sie deutete auf ein unscheinbares, breites Backsteingebäude, aus dessen Schornstein eine Menge weißer Rauch stieg. Wendy würde bei der Schlichtheit der Siedlung nicht Gefahr laufen, sich zu verirren, deswegen ließ sie zu, dass Mari ihr den Vortritt in das Haus ließ. Im Inneren war es deutlich wärmer, mit knisternden Feuern und einem breiten, metallenen Ofen. In den Märchen, die Wendy aus ihrer Welt kannte, gab es keine Maschinen. Hier hingegen gab es mit Strom betriebene Lampen, eine Heizung und von irgendwoher konnte sie leise Musik aus einem Radio dudeln hören. Sie war jetzt schon so lange in Nimmerland, aber sie würde sich nie an den Anblick von Technik gewöhnen können, die sie auch aus ihrer Welt kannte. Beinahe erwartete sie in der Ecke einen klobigen Fernseher zu entdecken, oder ein Telefon an der Wand zu sehen.

Als die Feen Mari, Bell und Wendy bemerkten, hielten sie in ihrer Arbeit inne, aber Mari kümmerte sich nicht groß darum. Obwohl sie hochschwanger war, drückte sie sich an den Feen vorbei, die an Werktischen und Küchennischen arbeiteten, bis sie an einem kreisrunden Tisch ankam, der mit einer schicken, karierten Decke geschmückt war. „Setz dich hin, Wendy", sagte sie mit einem Plauderton in der Stimme.

Wendy versuchte Bells Blick aufzufangen, aber diese hatte sich bereits an den runden Tisch gesetzt und starrte erneut auf ihre Fingernägel. Entweder waren diese wirklich spannend, oder sie konnte Wendys Blick nicht ertragen. Vielleicht, dachte Wendy, als sie sich ebenfalls langsam niederließ, machte es sie trüb, dass Bell eigentlich mit ihr reden konnte, es aber in der Anwesenheit von all diesen anderen Feen nicht durfte. Selbst wenn sie es gewohnt war, wie Bell gesagt hatte, musste es sie doch einiges an Willensstärke kosten, nicht doch zu reden, wenn sie es doch wollte. Irgendwie bewunderte Wendy Bell dafür – sie verbarg ihre Stimme dafür, dass sie anderen nicht schaden würde. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus. Ein Feuer knisterte in ihrem Rücken.

Ein paar Augenblicke später kam Mari in Begleitung einer weiteren Fee wieder. Diese war groß und stämmig und hatte dichte dunkle Haare, dass sie sich im Nacken zusammengebunden hatte. „Ein Mensch", sagte sie, stellte jedoch ohne viel Federlesen eine Schüssel aus Porzellan vor sie, in der sich etwas befand, das auf den ersten Blick aussah wie zerstampfte Blätter und Schlamm. Es roch auch ein wenig wie Schlamm, den sie am Wegesrand gefunden hatten. „Mari hat mir erzählt, dass Bell dich im Wald gefunden hat."

Das ließ es zwar so klingen, als wäre Wendy ein streunendes Tier, aber sie ließ sich nichts anmerken. Sicherlich war es für alle Beteiligten besser, wenn diese nicht wussten, dass Wendy Bell mit einem Dolch an der Kehle bedroht hatte. Stattdessen lehnte sie sich in die Verloren-und-Hungrig-Geschichte. „Hat sie", erwiderte Wendy. „Ich bin wirklich dankbar, dass sie mich nicht einfach weggeschickt hat."

Die Fee nickte, ehe sie auf die Schüssel deutete. „Iss. Danach fühlst du dich wie neugeboren. Das ist eine Feen-Spezialität."

Zögerlich blickte Wendy auf das Essen. Sie hoffte, dass es besser schmeckte, als es aussah, wollte aber auch nicht unhöflich erscheinen. Wenn sie Informationen von den Feen haben wollte, dann musste sie zumindest so tun, als würde sie kooperieren, auch wenn das hießt, dass sie matschige Blätter essen musste. Wendy nahm das Besteck in die Hand. Auf Hooks Schiff war sie es gewohnt, dass das Essen manchmal Eigengerüche annahm – besonders wenn es mal wieder nur aus Fisch bestand – aber es war auch für sie etwas Neues, dass sie Schlamm und Blätter essen würde. Sie unterdrückte den Drang sich die Nase zuzuhalten, schaufelte sich eine Gabel voll und stopfte sie sich in den Mund, bevor sie sich anders entscheiden konnte.

Es war deutlich angenehmer, als sie es erwartet hatte. Obwohl es so aussah und roch wie Schlamm vom Wegesrand, schmeckte es süßlich und reichhaltig, während die zerstampften Blätter dem Essen eine leicht säuerlich-bittere Note verpassten. Sie hatte gerade erst den ersten Bissen geschluckt, als sie spürte, wie sich eine wohlige Wärme in ihrer Magengrube ausbreitete, als hätte sie ein kleines Feuer verschlungen, das nun fröhlich in ihrem Körper knisterte. „Oh."

Die Fee, die mit Mari angekommen war, lächelte, als sie Wendys überraschten Gesichtsausdruck bemerkte. Eine Falte war auf ihrer Stirn erschienen, die beinahe im Pony ihrer dunklen Haare unterging. „Das erste Mal Suva, nehme ich an."

„Suva?", fragte Wendy im gleichen Moment, in dem Bell den Kopf hochriss.

„Suva ist eine Pflanze, die in den Feenwäldern wächst", erklärte die Fee. „Sie vertreibt Müdigkeit und Schwäche. Schmecken tut sie auch nicht schlecht."

„Für einen Moment dachte ich, ihr wollt mir Schlamm und Blätter andrehen", gab sie zu, ehe sie einen weiteren Bissen nahm. Mitten im Kauen hielt sie inne, als sie realisierte, dass sie ihre Gedanken ausgesprochen hatte.

„Beruhige dich, Bell, du weißt, dass Suva nicht giftig ist", sagte die Fee augenverdrehend.

Nicht giftig? Wendy drehte den Kopf zur Seite, wo sie Bells weitaufgerissenem Blick begegnete. „Was – "

„Tut mir leid, Wendy", unterbrach Mari sie, die sich unter leisem Ächzen ebenfalls an den Tisch setzte. „Ich hoffe du verstehst, dass wir hier für unsere eigene Sicherheit sorgen müssen."

„Ich bin nicht sicher", meinte sie langsam und blickte wieder auf die Schüssel. „Habt ihr mich vergiftet?"

Ein schmales Lächeln erschien auf Maris Gesicht. „Keineswegs. Suva ist wirklich eine heilende Pflanze. Allerdings", fügte sie an, „kann man ihr mit ein wenig Magie eine weitere Fähigkeit geben."

Panik breitete sich wie eine windende Schlange in Wendy aus. Hatte Bell sie in eine Falle gelockt? Sie hatte bereits die Hand in die Tiefen ihrer Tasche vergraben, um ihren Dolch zu ziehen, als sie eine schmale, warme Hand auf ihrem Arm spürte.

„Bell hätte dich niemals hergebracht, wenn sie wüsste, was wir mit Fremdlingen machen", beantwortete Mari Wendys gedankliche Frage mit einem Lächeln auf den Lippen, das unpassend für sie wirkte. Kühl. Kalkuliert. „Suva lässt dich für ein paar Minuten nur noch die Wahrheit sagen. Die Wirkung lässt wieder nach, ich verspreche es und es ist wirklich nicht giftig."

Wendy konnte niemanden außer sich selbst für ihre Dummheit schalten. Es war töricht von ihr gewesen, zu erwarten, dass die Feen keine Tricks auf Lager hatten, um mit Fremdlingen umzugehen und es war noch törichter von ihr gewesen, einfach das zu essen, was man ihr aufgetischt hatte. Wahrscheinlich konnte sie glücklich sein, dass es nicht wirklich Gift war. „Was wollt ihr wissen?", presste sie hervor. Obwohl es ihr mehr als zuwider war, wusste sie, dass Kooperation der einzige Weg war, wie sie sicher wieder zum Schiff kommen würde. Sie könnte ihren Dolch ziehen und die schwangere Mari als Geisel nehmen, sicher, aber sie wusste nicht, ob die Feen nicht noch mehr Tricks auf Lager hatten. Zumal sie über Magie verfügten, zu der Wendy keinen Zugriff hatten. Von den Flügeln ganz zu schweigen. Eine Flucht wäre sinnlos.

Bells warme Hand auf ihrem Arm verkrampfte sich. Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, wie sie den Kopf schüttelte.

„Lass den Unsinn, Bell", sagte die Fee. „Wir sind keine Gefahr für den Mensch, wenn sie keine Gefahr für uns ist."

Wendy war sich fast sicher, dass das beruhigend sein sollte, fühlte sich aber alles andere als beruhigt. Sie schloss die Finger fester um das Besteck, dass die Feen ihr gegeben hatten. Wenn es trotzdem dazu kam, konnte sie sich zumindest damit verteidigen.

Als hätte Mari ihre Gedanken gelesen, lächelte sie und sagte: „Du hast nichts zu befürchten, Wendy." Immerhin sprach Mari nicht nur als den Menschen von ihr, auch wenn das ebenfalls nicht half, um ihr rasendes Herz zu beruhigen. „Prilla hat Recht. Wir sind keine Gefahr für dich, wenn du uns nichts tun willst. Wenn du wirklich nur auf Reisen bist, dann hast du nichts zu befürchten."

„Gebt ihr Reisenden ständig ohne ihre Zustimmung Wahrheitsmittel?", fragte Wendy zwischen zusammengepressten Zähnen.

Mari lächelte noch immer, als wäre sie sich keiner Schuld bewusst. „Wie ist dein Name und wie bist du hergekommen?"

Es fühlte sich an, als würden sich unsichtbare, eisige Finger in ihrem Körper winden. Die Wärme, die der Bissen Suva ihr verpasst hatte, war verflogen und stattdessen lief ihr ein Schauer den Rücken hinab. „Mein Name ist Wendy Darling", antwortete sie langsam. „Ich bin über Yarrin in die Feenwälder gekommen. Ein paar Tage bin ich umhergeirrt, bis ich Bell gefunden habe." Die Panik in ihr breitete sich weiter aus. Sie hatte zwar antworten wollen, aber nicht in diesen Worten. Wendy hatte vorgehabt, ein wenig kryptischer zu sein, in der Hoffnung, dass die Feen es nicht bemerken würden, aber stattdessen hatte sie ihnen die direkte Wahrheit gesagt. Das Suva wirkte.

„Warum bist du hier?", fragte Prilla.

Wendy versuchte die Lippen zusammenzupressen, versuchte sich gegen die Wirkung des Suva zu wehren, aber es schien sinnlos. „Ich bin auf der Suche nach Hinweisen auf ein altes Feenrelikt."

Mari und Prilla tauschten einen alarmierten Blick. „Was für ein Relikt? Was hast du damit vor?"

„Das Gefäß der ersten Feen. Ich will es nutzen, um Peter Pan zu vernichten." Die Worte fielen wie tonlose Melodien über ihre Lippen. Bells Finger an ihrem Arm drückten ein wenig fester in ihre Haut. „Ich will niemandem etwas tun", fügte sie hinzu und hoffte, dass das Flehen in ihrer Stimme die Feen überzeugen würde.

„Das Gefäß ist ein Märchen", erwiderte Prilla langsam und leise, während sie Wendy mit weitgeöffneten Augen betrachtete. „Ein Ammenmärchen. Das ist Wahnsinn. Peter Pan vernichten. Du kannst froh sein, dass wir nicht zum Königshof gehören, ansonsten ..." Den Rest ließ sie ungesagt, aber Wendy konnte sich sehr gut denken, was sie sagen wollte.

Mari biss sich auf die Lippe. „Das solltest du dir aus dem Kopf schlagen. Der Prinz ist zu mächtig."

„Deswegen brauche ich das Relikt", sagte Wendy mit eigenem Willen.

„Das ist Wahnsinn", wiederholte Prilla kopfschüttelnd. „Bell, siehst du, wen du uns da in die Siedlung gebracht hast? Siehst du, was sie von uns stehlen will?"

„Wie ich kann etwas stehlen, das scheinbar nicht existiert?", fragte Wendy und die Fee verlor jegliche Farbe im Gesicht.

Trotz der geschäftigen Feen um sie herum, die alle ihren Tätigkeiten nachgingen, Brot backten uns Suppen kochten, hatte Wendy das Gefühl, das jedes Augenpaar auf ihr lag. Bells warme Hand hatte sich fest an sie gekrallt, Mari starrte sie an und Prilla hatte sich eine Hand auf ihr Herz gelegt.

„Was machst du, wenn du das Gefäß nicht findest?", fragte Mari. „Wo gehst du dann hin?"

Erneut zerrte das Suva die Wahrheit aus ihr. „Ich gehe zurück zum Schiff. Orientiere mich neu. Suche einen neuen Ort, um Anhaltspunkte zu finden."

Prilla holte zittrig Luft. „Du verschwendest deine Zeit, Mensch. Das Gefäß gibt es nicht. Geh zurück und komm nie wieder." Mit einer Hand deutete sie auf die Tür. „Verschwinde von hier."

Wendy wollte etwas erwidern, aber Bell zog mit einem Zucken ihrer Finger ihre Aufmerksamkeit auf sich. Die Fee schüttelte den Kopf, dann blickte sie zu Mari und der anderen Fee. Bell drückte mit der Hand gegen Wendys Arm, dann deutete sie mit der freien Hand auf sich und dann auf die Tür. Sie wiederholte die Geste, als keine der beiden zu verstehen schien.

Mari schien ein Licht aufzugehen. „Das kann nicht dein Ernst sein", flüsterte sie. „Du willst mit ihr gehen. Mit ihr?"

Bell nickte knapp.

„Was hast du mit Bell gemacht? Hast du sie verzaubert?", klagte Mari sie an.

„Zu soetwas bin ich nicht fähig", antwortete Wendy wahrheitsgemäß. Das Suva ließ sie weiterreden: „Ich habe ihr von meinem Plan erzählt und sie hat sich mir angeschlossen. Ich habe nichts getan, um ihren Willen zu verändern."

Mari und Prilla sahen aus, als würden sie jeden Moment in Ohnmacht fallen, beide mit blassen Gesichtern und weitaufgerissenen Augen.

Wendy beschloss, dass sie ihnen noch eine Wahrheit geben würde. Es war wahrscheinlich sowieso nur eine Frage der Zeit, bis sie gefragt hätten. „Peter Pan hat mich verflucht, deswegen suche ich das Gefäß. Ich muss ihn vernichten, um meinen Fluch zu brechen."

„Du bist wahnsinnig", schloss die Fee.

„Prilla, bitte", sagte Mari schockiert klingend. „Du hast sie gehört. Das ist ihre Wahrheit."

„Auch eine Wahrheit kann Wahnsinn sein", erwiderte Prilla. Hektisch fuhr sie sich durch die dunklen Haare, bevor sie die Hand fallen ließ und mit dem Finger auf Wendy deutete. „Suva hin oder her, was du da sagst, ist unmöglich. Du kannst den Prinzen nicht aufhalten. Du kannst das Gefäß nicht finden."

„Wenn niemand versucht, den Prinzen aufzuhalten, dann ist es nur natürlich, dass er unmöglich zu vernichten ist", antwortete Wendy. „Ich werde einen Weg finden oder dabei sterben."

„Du wirst sterben", entgegnete Prilla stumpf. „Nichts weiter wirst du erreichen."

Mit der flachen Hand schlug Bell auf den Tisch, sodass sie alle Blicke auf sich zog. Ein paar der anderen Feen, die ihrer Arbeit nachgingen, stockten und sahen sich irritiert um. Bell legte sich die freie Hand auf die Brust, dann deutete sie auf Wendy, dann auf die Tür.

Prilla schüttelte den Kopf. „Du kannst nicht einfach mit ihr gehen, Bell."

„Wieso?", fragte Mari leise. „Du hast dein ganzes Leben hier verbracht und willst es für einen dahergelaufenen Menschen wegwerfen?"

Bell zog an Wendys Arm, sodass Wendy ihr in die Augen sah. Ein Funkeln hatte ihre Pupillen eingenommen. Sie nickte langsam. Als hätte Wendy die zehnfache heilende Wirkung von Suva zu sich genommen, breitete sich ein Wildfeuer in ihrem Magen aus. Sie lächelte. „Bell hat ihre Entscheidung getroffen", sagte sie. „Sie möchte mit mir kommen und etwas gegen den Prinzen unternehmen."

Das eisige Gefühl, dass der Zwang der Wahrheit in ihr hinterlassen hatte, schmolz langsam, aber sicher davon. Die Wirkung schien nachzulassen. Wendy erhob sich langsam.

„Bell, bitte", zischte Mari, als Bell sich ebenfalls erhob.

„Das kannst du nicht tun. Du kannst nicht dein Volk verraten", fügte Prilla hinzu.

Bell reckte das Kinn und schüttelte den Kopf. Beinahe konnte sie hören, wie sie ihre eigenen Worte aus dem Wald wiederholte: „Wenn niemand etwas gegen Pan unternimmt, dann wird es mein Volk nicht mehr lange geben." Sie zog an Wendys Arm, deutete auf die Tür, ehe sie Mari anlächelte.

Mari öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber stockte. „Bist du dir sicher?", fragte sie einen Moment später mit leiser Stimme. „Du weißt, dass du nicht gehen musst. Du hast hier einen Platz, ein Heim. Niemand würde dich fortjagen. Bist du dir wirklich sicher?"

Bell nickte heftig, sodass ihre kurzen Haare auf und ab wippten.

Seufzend senkte die schwangere Fee den Kopf. Ihr hellen Haare fielen ihr wie ein Vorhang vor die Augen. „Dann werden wir dir nicht im Weg stehen."

„Was?" zischte Prilla.

„Wir können sie nicht zwingen, hier zu bleiben. Wenn sie gehen will, dann soll sie gehen."

„Das ist doch Wahnsinn", wiederholte Prilla ein weiteres Mal. „Kompletter Wahnsinn. Ihr beide werdet dort draußen sterben."

„Danke für das Essen", erwiderte Wendy lächelnd, „aber das ist ein Risiko, das ich eingehen werde."


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