5. Kapitel | Zero

Langsam hob ich meinen Kopf, schluckte.
Wer hatte das geschrieben?
Jay?

In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen.
Ruckartig drehte ich mich um und zuckte zusammen.
Jay stand im Türrahmen, starrte mich an.
Dann wurde er blass, rannte auf mich zu und riss mir den Zettel aus der Hand, sodass ich den letzten Absatz nicht mehr lesen konnte.
Schnell lief er – das Papier fest umklammert – aus dem Zimmer.

Ich sah ihm etwas verwirrt nach, verzog etwas das Gesicht, da durch Jays schnelle Bewegung mein Handgelenk etwas schmerzte.
Heute schienen alle irgendwie verrückt zu sein.
Vorsichtig rieb ich mir über mein geschwollenes Handgelenk, seufzte leise.
Dann drehte ich mich um, ging zum Fenster. Es regnete immer noch, der Nebel war dichter geworden und hüllte die Außenwelt in ein mysteriöses Weiß. Nachdenklich lehnte ich mich gegen die Glasscheibe. Sie fühlte sich kühl an, glatt.

Leise seufzte ich auf, schloss meine Augen und begann meine Gedanken zu ordnen.
Es war so viel passiert, dabei war nicht einmal ein einziger Tag vergangen.
Ich hatte Jay kennengelernt, herausgefunden, dass Alex in dieselbe Klasse ging.
Ich hatte etwas über andere aus meiner Klasse erfahren, hatte mitbekommen, wie die anderen Jay behandelten.
Ich war scheinbar irgendeinem Tom ähnlich, über den irgendwie niemand reden wollte.
Alex hatte keinen Bock auf mich, ich war – wie immer – gegen Gegenstände und Personen gelaufen, ein seltsamer Liebesbrief war aufgetaucht, wie auch ein Gedicht und Jay benahm sich seltsam.
Es war so viel für die paar Stunden, in denen ich am Internat war.
Viel zu viel.

Mein Leben war nie aufregend gewesen, nie besonders. Ich war schon immer der Ungeschickteste gewesen, seit ich mich erinnern konnte, war ich mit Alex befreundet.
Mein Leben war einfach...normal.

Nachdenklich betrachtete ich die dunklen Silhouetten des Waldes, die stellenweise hervorragten, es wurde immer dunkler, die Nacht nahte.
Ich mochte die Dunkelheit nicht sonderlich, mied sie, so gut ich konnte. Müde gähnte ich, tapste zum Eingang und suchte im Halbdunklen nach dem Schalter. Es wurde so schnell dunkel im November.
Ich mochte definitiv den Sommer lieber.
Alles war dann viel einfacher und unbeschwerter.
Alles war fröhlich und heiter, man konnte Sorgen und Probleme viel einfacher vergessen und einfach...leben.

Endlich hatte ich Erfolg, schaltete das Licht ein.
Kurz blieb es dunkel, dann jedoch flackerte die vermutlich schon ein wenig ältere Glühbirne auf und leuchtete den Raum mit warmem Licht aus.
Leise seufzend ließ ich mich auf mein Bett fallen, streckte mich ausgiebig.
Dann ließ ich mich rückwärts zurück in die weiche Matratze fallen, betrachtete die Holzwand des Bettes über mir.

Der Tag war anstrengend gewesen, weswegen sich die Müdigkeit schon ziemlich schnell zeigte.
Leise gähnte ich, schloss meine Augen.
Nur für einen kurzen Moment.
Ganz kurz.

„Wo sind meine fünf Euro? Du hast sie gestohlen! Du elendiger Dieb!", rief eine laute Jungenstimme.
Verschlafen blinzelte ich, richtete mich aber schließlich mit einem Ruck auf, was die Folge hatte, dass ich mir ein drittes Mal am heutigen Tage meinen Kopf stieß.
Leise stöhnte ich auf, schüttelte mich etwas. Dann sah ich mich – wohl noch immer etwas verschlafen – um. Erleichtert stellte ich jedoch fest, dass der Junge wohl nicht gemeint hatte, niemand beachtete mich.
Ich bemerkte, dass einige Personen – genauer gesagt waren es drei – im Kreis um eine Ecke standen, als würden sie die Ecke einkreisen wollen.

Langsam stand ich auf, darauf bedacht, mir den Kopf nicht erneut zu stoßen, und trat näher.
Auf den zweiten Blick erkannte ich zwei der drei Gestalten. Alex und Tyler. Den anderen Jungen kannte ich nicht, hatte aber das starke Gefühl, ihm schon mal begegnet zu sein.
Als ich ganz nahe war, erkannte ich noch jemand. Eine Person kauerte in der Ecke, hatte seine Hände erhoben, um sich so zu schützen und wimmerte leise vor sich hin.

„Ich habe sie nicht, wirklich", flüsterte eine leise, verzweifelte Stimme, die von der Person kam, welche am Boden kauerte. Es war Jay.
„Wer's glaubt! Du bist ein elender Lügner, ein Verlierer! Du kannst nur eines: Lügen. Gib mir meine fünf Euro zurück, oder ich raste komplett aus!", schrie der mir unbekannte Junge neben mir.
„Aber ich war's wirklich-"
Alex hatte ausgeholt, ihm mit der Faust ins Gesicht geschlagen, sodass er leise vor Schmerz aufschrie, sich noch enger zusammenkrümmte und aufhörte zu reden.
„Wir wären alle froh, wenn du sterben würdest! Eine Missgeburt weniger auf der Welt", zischte der unbekannte Junge, spuckte auf Jay.

Ich stand einfach nur da, rührte mich keinen Zentimeter.
Ich wollte ihm helfen, ihn verteidigen, ihn schützen.
Doch es ging nicht, ich war wie gelähmt.
Niemand schien überhaupt zu realisieren, dass ich anwesend war.
In diesem Moment ging Tyler einen Schritt nach vorne, trat Jay.
„Elende Missgeburt!", beschimpfte er ihn, schlug zu.
Alex tat es ihm gleich, schlug auf seinen Kopf.
Jay weinte, versuchte seinen Kopf mit seinen Händen zu schützen, während ich immer noch einfach nur dastand.

Irgendwann jedoch drehte sich Alex um, stapfte zur Türe, ohne zu realisieren, dass ich da war.
„Tyler! Robin! Kommt, wir verschwenden unsere wertvolle Zeit nicht mehr mit der Person, der sich besser umbringen sollte."
Tyler nickte, drehte sich um und folgte Alex hinaus in den Gang.
Robin verweilte einen Moment länger in den Raum, betrachtete Jay herablassend.
„Was bist du nur für ein erbärmlicher Verlierer", meinte er nach kurzem Schweigen zischend.
Bevor er ebenfalls aus dem Raum verschwand, spuckte er erneut auf Jay, welcher noch immer eng zusammengekauert in der Ecke lag.
Dann stolzierte er aus dem Raum, knallte die Tür geräuschvoll hinter sich zu.

Als die Tür ins Schloss fiel, atmete ich erleichtert auf. Meine Erleichterung verflog jedoch, als ich wieder zu Jay sah.
Er sah schlimm aus, Blut lief ihm über die Stirn und die Nase, über seine Wangen liefen ununterbrochen Tränen.
Aber er sagte nichts, starrte nur auf den Boden vor sich, während er nun stumm vor sich hin weinte.
Langsam und unsicher näherte ich mich ihm, kniete mich neben ihn.

„Jay...", flüsterte ich leise, mein Gesicht war sicherlich blass.
Ich hatte Alex selten so wütend und aggressiv gesehen; Es schockierte mich, denn so kannte ich sie gar nicht.
Der Junge vor mir sah so verletzt aus, so zugerichtet.
Was war denn schon eine vermutlich verstauchte Hand dagegen?
Wieso war ich nicht dazwischen gegangen?
Ich bereute es zutiefst...

„Jay...warte, ich habe ein Taschentuch", flüsterte ich, kramte aus meiner Hosentasche eine frische Packung Taschentücher, riss diese mit zitternden Fingern auf und hielt ihm das Taschentuch hin.
Der Junge nahm es schweigend, hielt es an seine Nase, um die Blutung zu stoppen, die Alex verursacht hatte.
Meine beste Freundin Alex war schuld daran.
Ich hatte das nie von ihr erwartet.
Ich wusste, dass sie Jay nicht sonderlich mochte, aber dass sie so ausrastete...

Eine Weile schwiegen wir beide. Ich hatte mich neben ihn gesetzt, mich an die kühle Wand gelehnt und starrte wie er auf die gegenüberliegende Seite.
„Geht's wieder?", fragte ich ihn leise, sah wieder zu dem Jungen.
Dieser nickte etwas, strich sich seine schwarzen Haare aus dem Gesicht.

Doch ich wusste, dass man seine Wunden nicht mit einem Taschentuch heilen konnte.
Was man ihm antat hinterließ zwar auch äußerliche Wunden, aber diese würde heilen.
Nicht aber der Schmerz, die Erniedrigung, die er tief in seinen Inneren ertragen musste.
Und diese innere Wunde schienen tief zu sein...

Hello, hello
Let me tell you what it's like to be a zero, zero
Let me show you what it's like to never feel, feel
Like I'm good enough for anything that's real, real
I'm looking for a way out

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