Kapitel 1

4 Wochen zuvor

„Seid endlich ruhig“, schrie Janice in den Speisesaal. Sofort verstummten die Kinder und blickten sie mit großen, ängstlichen Augen an.

Janice Wohlfahrt war eine disziplinierte Frau, die gerne zu Bestrafungen wie zum Beispiel Teller waschen zurückgriff, wenn man sich ihren Regeln und Anweisungen widersetzte.

Wenn man heimlich über sie redete, verwand man als Spitznamen Hausdrachen. Das Wort beschrieb Janice perfekt. Ihre bissige Art verschreckte nahezu jedes Kind.

„Lass sie doch von ihren Träumen erzählen Janice“, versuchte ich sie zu beruhigen und schöpfte Gemüsesuppe in einen Teller.

Genervt kehrte sie zu mir zurück und öffnete die Schublade, in der das Besteck säuberlich eingeordnet lag: „Es geht ums Prinzip Kiana. Wenn ich sage es wird nicht geredet, bis wir ein Tischgebet gesprochen haben, dann sollte man sich auch daran halten“.

„Träume fördern die Kreativität und Fantasie, genau das wollen wir doch erreichen. Dass etwas aus den Kindern wird“.

Sie zählte die rausgelegten Löffel und ich summte eine selbstausgedachte Melodie, während ich die letzten drei Teller mit unserer Gemüsesuppe befüllte. Janice äußerte sich nicht mehr zu meiner Aussage und stellte sich an den Türrahmen, um die ersten Kinder zu rufen, damit sie ihr Essen holen konnten.

Die Erste, die sich vor mich stellte war die 4-jährige Hannah. Ihre blonden Locken hatte sie sich in einem unordentlichen Pferdeschwanz zurückgebunden und strahlt mir nun entgegen.

„Kiana, schau mal, ich habe heute Morgen meinen ersten Zahn verloren“. Sie präsentierte mir stolz ihre Zahnlücke, während sie meinen gereichten Teller annahm. „Das freut mich Hannah. Dann kommt ja heute Nacht die Zahnfee“. Sie nickte begeistert und griff nach einem Löffel und einem Glas.

„Kannst du heute neben mir sitzen ?“, fragte sie mit großen Augen, die mich bettelnd ansahen. „Natürlich, ich muss nur den anderen noch ihr Essen geben. Setz dich schon mal an den Tisch“.

Zufrieden balanciert sie den Teller in den Speisesaal und ich sah ihr schmunzelnd hinterher, bis Henry drankam. „Bekomme ich zwei Teller ? Ich habe heute großen Hunger“.

„Nein Henry, heute leider nicht“, verneinte ich und reichte ihm seinen Teller. Schulterzuckend nahm er sich ebenfalls einen Löffel und ein Glas und verschwand.

Nach ihm folgten noch sieben weitere Kinder, die trotz Hungergefühl kein einziges Mal quengelten oder sich vordrängelten.

Als ich allen ihre Teller gegeben hatte sah ich auf. Janice lehnte nicht mehr am Türrahmen, deshalb waren die Kinder so gesprächig. Verwirrt stellte ich unsere Teller ebenfalls in den Speisesaal auf den Esstisch und ließ mich neben Hannah nieder.

Die Gespräche wurden über den Tisch hinweg geführt, kreuz und quer redete jeder mit jedem. Zwischendurch hörte ich das Klirren des Löffels im Teller oder das Abstellen von vollen Gläsern.

Janice tauchte das gesamte Essen über nicht auf, das war untypisch für sie. Stirnrunzelnd löffelte ich ebenfalls meine Suppe aus und unterhielt mich mit Lia, einem kleinen Mädchen schwedischer Abstammung. Sie ist mit gerade mal 2 Jahren in das Waisenhaus gekommen, weil ihre Eltern ins Gefängnis mussten.

Mittlerweile ist sie 7 und kann sich laut eigener Aussage ein Leben ohne die anderen Kinder, Janice und mich nicht mehr vorstellen. Sie erzählte gerade von ihrem Klassenkameraden, der ihr heute einen Muffin geschenkt hatte, als ich im Flur eine Bewegung ausmachte.

Da die Tür offen stand wurde ich Zeuge von Janices Killerblick. Diesen richtete sie auf eine dunkel gekleidete Person in schwarzer Lederjacke. Begleitet wurde die eindeutig männliche Person von einem Polizisten.

Janice sah ungläubig auf einige Blätter in ihrer Hand hinunter und schüttelte dann den Kopf. Sauer erwiderte sie etwas zu den beiden Männern und sah dann mich an. Sowohl der Polizist als auch der Mann in der Lederjacke drehten sich zu mir um.

Den Beamten interessierte es herzlich wenig, dass eine Jugendliche mit Kindern am Esstisch saß und sie anstarrte. Der Mann, oder besser gesagt Junge, hingegen fand es fast schon zu interessant.

Das erste was mir auffiel waren seine strahlend blaue Augen welche einen Kontrast zu seinem schwarzen Haar bildeten. Die Lederjacke betonte seinen breiten Oberkörper und sein mit Arroganz geschmücktes Lächeln warf mich aus der Bahn. Er musste bemerkt haben, dass ich ihn studierte, denn er hob eine Augenbraue hoch und ein selbstgefälliger Ausdruck zierte seine Augen.

Janice schnipste mit den Fingern und fast schon gelangweilt sah der Unbekannte wieder zu ihr. Ich befahl Henry, da er das älteste Kind hier war, dass er die Teller stapeln und in die Küche tragen sollte.

Während jeder also irgendwie mithalf, sei es die Stühle an den Tisch zu schieben, den Tisch abzuwischen, das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen oder die Gläser vom Tisch zu räumen, beobachtete ich die drei Personen im Flur.

Fertig mit ihren Aufgaben drängelten sich alle an den diskutierenden Personen vorbei, nur Hannah blieb bei mir. Ich nahm sie auf den Arm und beschloss mich den Erwachsenen anzuschließen, da mich brennend interessierte, worüber sie redeten.

„So jemanden lasse ich nicht in die Nähe meiner Schützlinge. Egal von wem der Beschluss kommt“, protestierte Janice, als ich neben ihr zum Stehen kam.

„Und sie sind ?“, richtete der Polizist sich an mich und sofort blickten mich drei Augenpaare an. „Kiana ist sie“, kicherte Hannah und hob sich an meiner Schulter fest.

„Gehst du bitte hoch Hannah ?“, fragte Janice nach ohne die Besucher aus den Augen zu verlieren. Das Mädchen nickte, ließ sich von mir auf den Boden absetzen und rannte die Treppen zu den anderen nach oben.

„Frau Wohlfarth, um nochmal auf unser Anliegen zurückzukommen, Herr Tilman benötigt dringend eine Anlaufstelle für seine Sozialstunden und da sie zusätzlich mit der Kirche zusammenarbeiten eignet sich dieses Heim perfekt“.

„Dieser Mann hat einen guten Grund für diese Sozialstunden, ich bin nicht risikofreudig und lasse ihn in die Nähe der Kinder. Es wäre einfach nur unverantwortlich, wenn irgendwem etwas zustößt. Selbst Kiana ist noch minderjährig“. Nun hatte ich wieder alle Augen auf mir kleben.

Der Polizist räusperte sich: „Daran gibt es nichts mehr zu ändern, die Staatsanwaltschaft hat beschlossen, dass die Kirche genügend Stunden für ihn auftreiben wird. Abgesprochen ist abgesprochen“.

„Das ist ein gewalttätiger Kerl“, versuchte Janice verzweifelt zu überzeugen und der Typ verdrehte seine Augen.

„Keine Widerrede. Falls ein solcher Vorfall nochmals passiert informieren sie uns darüber. Schönen Tag noch“.

Damit wandte sich der Beamte ab und verließ das Haus. Janice schrie frustriert auf, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte in ihr Büro. Zurück blieben der fremde Junge und ich.

Als ich ihn anblickte zog er eine Grimasse: „Sieht so aus, als würden wir jetzt eine Weile zusammen abhängen“.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top