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ELLIOT
Ein Nachteil, wenn man die letzten acht Wochen in einer geschlossenen Anstalt verbracht hat? Mein Zeitgefühl ist im Arsch. Hätte meine Mum mich heute nicht aus dem Bett geschmissen, wäre ich noch später zur Schule gekommen. Ich bin jetzt schon zu spät.
Was soll's. Es ist nicht so, als hätte ich es eilig, zurück zur Schule zu gehen. Immer die selben Leute, die selben Fächer, die selben Themen, nur eine Stufe hochgeschraubt. Es ist nicht so, dass ich Schule hasse - ich find's einfach nur langweilig.
Die Gänge sind wie ausgestorben, als ich durch die Schule laufe. Die sind alle schon im Unterricht, heute gibt's nicht mal Leute, die zu spät kommen. Abgesehen von mir.
Ich zögere einen Moment, als ich vor der Tür stehe, hinter der ich jetzt eigentlich Unterricht hätte. Was genau mache ich hier eigentlich? Eigentlich kann ich auch genauso gut die erste Stunde schwänzen und erst zur zweiten hingehen. Es würde echt niemanden jucken. Aber andererseits denke ich daran, wozu meine Mentalität geführt hat. Nochmal acht Wochen in dieser beschissenen Klinik herumhocken? Einen Scheiß werde ich tun.
Ich reiße die Tür auf, ohne vorher zu klopfen. Die Tür ist hinten, also merken die Leute vorne nicht mal, dass jemand Neues reinkommt. Aber hinten ist kein Platz mehr frei. Spätestens als ich erst durch den kompletten Raum latschen muss, bevor ich einen freien Platz finde, hat's jeder mitbekommen.
„Das gibt einen Eintrag. Name?", höre ich den Lehrer sagen, als ich mich gerade hingesetzt habe. Ich schließe kurz die Augen. Super. Ich hätte doch einfach schwänzen sollen.
„Elliot Whitham."
„Elliot Whitham", wiederholt er leise, während er sich meinen Namen aufschreibt. Der ganze Raum ist still. Unmittelbar neben mir höre ich ein Handy vibrieren. Ich schaue kurz zur Seite und muss fast lachen, als ich ausgerechnet Chico am Fenster sitzen sehe. Sein Blick sagt echt mehr als tausend Worte. Der Typ versucht sich wahrscheinlich zu erklären, wie es sein kann, dass ausgerechnet ich hier sitze. Tja, so ist das, wenn man nur in seiner eigenen kleinen Blase lebt, in der einem der Status in seinem Freundeskreis wichtiger ist, als alles andere. Es ist wahrscheinlich das erste Mal in vier Jahren High School, dass er gecheckt hat, dass wir in einem Jahrgang sind. Wir hatten sogar die letzten drei Jahre Amerikanische Geschichte und Biologie zusammen, aber das weiß er natürlich nicht. Ich wusste sofort, dass er es ist, als Fonda mir erzählt hat, dass er ihr Bruder ist. Es gab im letzten Jahr mal so einen Vorfall, wo er irgendeinen Typen zusammengeschlagen hat, weil er seine Schwester angefasst hat. Das hat sich überall rumgesprochen. Jeder hat gewusst, wer dieser eine Lacrossespieler ist. Das ist nicht mal an mir vorbeigegangen.
Chico schüttelt langsam den Kopf und schaut wieder nach vorne, als könne er sein Glück nicht fassen (ich kann's auch kaum fassen, Chico! Was eine Ehre, Chico!). Minus eins. Nein, dafür gibt's minus zwei. Vielleicht auch minus drei, einfach weil er so scheiße geguckt hat. Das überleg ich mir noch.
Der Unterricht wird wenig später fortgeführt, als sei nichts gewesen. Ich bekomme nichts davon mit. Ich bin plötzlich so genervt von allem und jedem, dass ich mich auf nichts konzentrieren kann, was der Typ da vorne redet. Ich kann nicht mal genau sagen, warum ich genervt bin. Ich bin es einfach.
„Hey!", sagt jemand hinter mir und packt mich am Arm. Ich reiße mich los und drehe mich gleichzeitig um, meine Hand hebt sich schon automatisch, bereit zum Zuschlagen. Ich lasse sie sinken, als ich Chico sehe.
Chico schaut einen Moment lang perplex auf meine Hand. „Wolltest du mich gerade schlagen?"
Er tut ja schon fast so, als hätte er nicht erst letztes Schuljahr einen Typen krankenhausreif geschlagen.
„Was willst du?", frage ich genervt. „Ich dachte eigentlich, wir hätten so einen unausgesprochenen Pakt abgeschlossen. So von wegen, dass du mich nicht magst und ich dich nicht mag... Weißt du noch?"
Wir stehen vor meinem Spind, die Leute um uns herum achten gar nicht auf uns. Ich schaue mich kurz um, erwarte eigentlich, diesen Typen hier irgendwo stehen zu sehen, mit dem Chico immer abhängt. Aber von dem ist keine Spur zu sehen.
Chico runzelt die Stirn und ich muss lachen. Ich liebe es, ihn zu verwirren.
Er reißt sich wieder zusammen und ignoriert meine Aussage. „Hast du meiner Schwester das Handy gegeben?"
Ah. Das Handy. Ich warte mit einer Antwort, drehe ihm den Rücken zu und krame die Bücher raus, die ich für die nächste Stunde brauche. Ich kann spüren, wie unangenehm es ihm ist, dass ich ihn so offensichtlich ignoriere. Gut.
Ich knalle meinen Spind zu und drehe mich wieder zu ihm um. „Und?"
Chico zieht eine Augenbraue hoch. „Und?", wiederholt er und ich bin zufrieden, als ich die Spur von Wut in seiner Stimme höre. „Was soll der Scheiß? Du weißt, dass der Scheiß da nicht erlaubt ist."
„Es ist auch nicht erlaubt, mit 16 zu rauchen. Sie tut's trotzdem", zucke ich mit den Schultern und laufe los. Ich dachte eigentlich, dass sich das Gespräch damit erledigt hat, aber nein. Er kommt mir hinterher. Ich atme laut aus.
„Hör zu, mir ist scheißegal, mit was für Leuten sie abhängt. Von mir aus kannst es auch du sein, sie macht eh, was sie will. Aber fässt du sie an, schwöre ich bei-"
„Sie anfassen?", unterbreche ich ihn amüsiert und bleibe stehen. Er läuft fast in mich hinein, kann aber noch rechtzeitig bremsen. Als ich den Anflug von Verunsicherung in seinen ungewöhnlich hellen Augen sehe, wird mir plötzlich etwas klar. Mein rechter Mundwinkel hebt sich langsam. Chico spannt seinen Kiefer an. Er weiß es nicht.
Ich gehe einen Schritt auf ihn zu. „Du glaubst, dass ich sie anfassen will?"
Das Schmunzeln auf meinen Lippen wird größer, als er nicht antwortet. Er reckt sein Kinn, als müsse er sich gegen mich behaupten. Ich merke, wie angespannt er ist.
„Ich bin schwul, Chico."
Ich liebe es, was dieser Satz bei Typen anrichtet. Der Schock in den Augen, gemischt mit ein bisschen Empörung und den Wunsch, gleich direkt einen Schritt (oder am besten zwei) Abstand zu nehmen. Manchmal hab ich das Gefühl, ich hätte genauso gut sagen können, ich könnte Menschen mit nur einem Fingerschnipsen umbringen. Die Reaktion wäre wahrscheinlich die gleiche gewesen.
Nur leider bekomme ich diese Befriedigung dieses Mal nicht. Ich weiß nicht, was es ist. Vielleicht glaubt er mir nicht. Vielleicht wusste er es aber auch doch schon. Aber was ich von ihm bekomme, ist nicht annähernd so befriedigend, wie ich es mir vorgestellt habe. Alles was er tut, ist mich anzustarren. So richtig. So, dass es schon fast unangenehm wird. Plötzlich fühle ich mich, als würden sich unsere Positionen langsam tauschen. So, als wäre er in diesem Gespräch plötzlich derjenige, der die Fäden in der Hand hat und ich derjenige, der eingeschüchtert dasteht und nicht weiß, was er noch sagen soll, ohne dass der andere es ins Lächerliche zieht.
Bevor es soweit kommen kann, drehe ich mich um und gehe. Besser Gesicht bewahren und gehen, als nachher aus versehen etwas zu zeigen, was niemand - und gerade nicht Leute wie er - sehen darf.
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