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ELLIOT

Für mich sind es nur noch fünf Tage, bis ich wieder nach Hause komme. Fünf Tage, dann beginnt mein letztes Schuljahr.
Hallelujah.
Die acht Wochen in dieser Anstalt gehen schneller vorbei, als ich gedacht hätte. Traurig bloß, dass es absolut nichts gebracht hat. Das ganze Geld, das meine Eltern umsonst hier reingesteckt haben... Sie hätten es wohl doch lieber für den Karibikurlaub verschwenden sollen, anstatt es für ihr einziges Kind rauszuschmeißen, das dann mit irgendwelchen Medikamenten vollgestopft wird, damit es nachts die Fresse hält.
Karibik.
Strand.
Meer.
Wasser.
Mir wird schlecht. Ich hasse meine Eltern.
„Alles okay?", höre ich Fonda fragen.
Ich schüttle meinen Kopf und schaue zu ihr auf. „Klar."
„Das ist eine deiner negativen Eigenschaften. Du bist ein Lügner. Aber mir soll's egal sein."
Es ist ihr nicht egal, das bemerke ich sofort. Aber ich halte meinen Mund. So gut kennen wir uns auch wieder nicht.
„Kommt dein Bruder noch?", wechsle ich das Thema.
„Er kommt jeden Tag, warum sollte er ausgerechnet heute nicht kommen?" Fonda hebt eine Augenbraue und stochert gleichzeitig mit der Gabel in ihrem Essen herum.
Heute stehen zu wenig gekochte Spaghetti auf dem Speiseplan. Die Spaghettis machen sogar noch ein knackendes Geräusch, wenn man auf ihnen herumkaut.
Dafür, dass diese Anstalt hier als eine der renommiertesten im ganzen Bundesstaat gilt, ist das Essen hier echt scheiße.
„Weiß nicht", zucke ich mit den Schultern.
„Sicher, dass alles okay ist?"
„Ja. Chill." Das letzte, was ich gebrauchen kann ist, dass sie weiter nachhakt.
„Sagt der Richtige."
Ich verdrehe die Augen und antworte nicht mehr.

„Hey. Hallo? Kannst du mich mal anschauen, wenn ich mit dir rede?" Fonda schnipst genervt vor dem Gesicht ihres Bruders herum, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen.
Mein rechter Mundwinkel hebt sich kurz. Bin ich so interessant, dass er nicht mal mehr seiner eigenen Schwester zuhören kann?
Ich spüre den Blick ihres Bruders schon die ganze Zeit auf mir. Er glaubt, ich würde das nicht mitbekommen, aber nur weil ich nicht hinschaute, heißt das nicht, dass ich das Gewicht seines Blickes nicht spüren kann.
Ich würde nur gerne wissen was er denkt, wenn er mich anschaut.
Ich glaube nicht, dass er mich mag. Aber das beruht auf Gegenseitigkeit, wie ich feststelle.
„Sorry", murmelt ihr Bruder und schaut wieder zu ihr. „Ich höre dir zu."
„Das hab ich doch gar nicht gesagt?"
Ich sitze alleine auf einem der Sessel im Aufenthaltsraum, in meinem Schoß liegt Aristoteles' Metaphysik. Ich hab das Buch fast durch.
Fonda und ihr Bruder sitzen etwas abseits an einem Tisch. Ich finde es ein bisschen witzig zu hören, wie sie um seine Aufmerksamkeit kämpft und ihn das ganze Gerede seiner Schwester gar nicht juckt. Und dann versucht Fonda mich davon zu überzeugen, dass er tatsächlich mehr ist... Wahrscheinlich. Ein richtiger Held ist das, wie man sieht.
„Kurze Frage zwischendurch", unterbricht Chico seine Schwester und senkt seine Stimme. Wahrscheinlich, damit ich ihn nicht höre. Nur leider ist er nicht leise genug. „Liest der immer noch das gleiche Buch?"
„Frag ihn doch einfach selbst, wenn's dich so krass interessiert", erwidert Fonda etwas schnippisch.
Als er daraufhin wieder zu mir schaut, muss ich mich wirklich anstrengen, damit sich kein Muskel in meinem Mund bewegt und verrät, dass ich ihn innerlich auslache.
„Ich frag das ja nicht, weil's mich interessiert oder so, ich frag mich einfach nur, wie man so lange an einem Buch hängen kann."
Es ist einen Moment lang still, bis Fonda antwortet. „Also dafür, dass du in deinem Leben noch nie ein Buch angerührt hast, bist du echt abgehoben, Chico."
Ich kann nicht anders. Ich schaue kurz hoch und entdecke einen leichten roten Schimmer, der sich auf seine Wangen legt. Interessant. Es ist im scheinbar peinlich.
„Ist doch auch egal jetzt."
Fonda wechselt das Thema und die beiden reden über irgendwelche Leute, von denen ich keine Ahnung habe.
Ich ergreife die Möglichkeit und nehme Chico näher in Augenschein. Mir ist vorher schon aufgefallen, was für eine ungewöhnliche Augenfarbe er hat. Eigentlich ist sie gar nicht so ungewöhnlich, es war ein ganz normales helles Graublau. Es gibt viele, die eine ähnliche Augenfarbe haben. Was dabei so ungewöhnlich ist, ist die Kombi mit seinem Hautton und seinen Haaren dazu. Seine Haare sind ein mittleres Braun, etwas länger als die meisten Typen sie tragen würden. Und seine Haut ist eher dunkel, hat ein bisschen was von Kaffee mit einem guten Schuss Milch. Man sieht ihm seine mexikanischen Wurzeln an, aber diese Augen... Die wollen irgendwie nicht ganz ins Bild passen. Im Gegensatz dazu hat Fonda tiefschwarze Haare und Augen so dunkel, wie ihre Seele. Hätten die beiden nicht exakt die gleichen Gesichtszüge, wäre niemand darauf gekommen, dass sie Geschwister sind.
Ich finde interessant, wie sehr sich die Gene unter Geschwistern ähneln, aber gleichzeitig auch unterscheiden können. Meine Schwester hat auch viel dunklere Haare als ich, eher braun als noch als dunkelblond durchgehen zu können. Aber unsere Augen sind gleich, das gleiche helle braun wie unsere Mum.
Komisch sowas.
„Ich muss los, mein Lacrosse Training fängt gleich an."
„Heute schon? Aber Schule fängt doch erst nächste Woche wieder an?"
Ich schaue interessiert hinüber. Er geht noch zur Schule?
„Training fängt immer ein paar Tage eher an. Gibt uns mehr Zeit, uns auf die Saison vorzubereiten." Er steht dabei auf und zieht sich seine Jacke über. Er checkt kurz, ob sein Handy und seine Autoschlüssel noch da sind, bevor er Fonda zur Verabschiedung kurz auf die Wange küsst.
Ah, sensibel also.
„Kann sein, dass es morgen ein bisschen später wird, bei Onkel Rafael ist momentan viel los. Aber dann bleibe ich länger, versprochen."
„Okay", antwortet Fonda und zieht dabei das ‚O' in die Länge. „Dann bis morgen."
Chico geht und Fonda setzt sich mit einem fetten Seufzen wieder zu mir.
Ich lege das Buch ab und hebe eine Augenbraue. „Du weißt schon, dass du die anstrengendere von euch beiden bist, oder?"
„Das ist es nicht", verdreht sie die Augen, mir entgeht aber nicht das leichte Schmunzeln auf ihren Lippen. „Mich nervt es nur, dass du mir so einen Scheiß eingeredet hast. Ich muss die ganze Zeit daran denken, ob Chico jetzt mehr oder weniger ist. Egal was er sagt, ich muss alles erst abwägen. Das nervt."
„Dann lass es doch einfach? Nur weil er für mich weniger ist, muss er ja nicht für dich weniger sein."
„Ja, aber was ist, wenn ich mich davon beeinflussen lasse, dass er mein Bruder ist? Natürlich will ich unbedingt, dass er mehr ist. Wahrscheinlich habe ich mir das die ganze Zeit über nur eingeredet und nicht gecheckt, dass er eigentlich wirklich weniger ist."
„Mach dir darüber doch keinen Kopf. Egal, ob er jetzt mehr oder weniger ist, es wird nichts daran ändern, dass er dein Bruder ist."
Fonda beäugt mich kurz. „Wer hätte gedacht, dass tatsächlich ein weicher Kern in dir steckt, Elliot?"
Ich verdrehe die Augen. „Ich sag nur, wie's ist."

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