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CHICO

Zur Werkstatt fahren, Fonda besuchen, einkaufen. Zur Werkstatt fahren, Fonda besuchen, einkaufen. Seit einer Woche ist das mein Tagesablauf. Hätte ich Fonda nicht versprochen, sie jeden Tag besuchen zu kommen, hätte ich mein Handy wahrscheinlich nie wieder gesehen. Sie ist wirklich nicht dumm. Ich weiß nur nicht, ob ich das in diesem Fall gut oder schlecht finden soll.
Ich weiß nicht, wie ich das ab nächste Woche machen soll, wenn Schule wieder anfängt. Meine Schwester wird trotzdem erwarten, dass ich sie besuchen komme, es ist ihr scheißegal, dass es mein letztes Schuljahr ist. Und mein Onkel wird trotzdem erwarten, dass ich ihm in der Werkstatt helfe. Und meine Mutter wird trotzdem erwarten, dass ich für sie einkaufen gehe.
Manchmal hab ich das Gefühl, ich bin zu nett für diese Welt.
Als ich auf dem Parkplatz vor der Psychiatrie parke, bleibe ich noch einen Moment lang sitzen. Ich liebe Fonda wirklich, aber sie ist so verdammt anstrengend und diese ganze Situation zerrt an meinen Nerven. Ich stehe komplett zwischen den Fronten, meine Eltern auf der einen Seite, meine Schwester auf der anderen. Beide Seiten erwarten Dinge von mir, die die andere Seite enttäuschen würde. Ich weiß nicht, wie lange ich das Ganze noch aushalte.
Ich fahre mir einmal kurz mit beiden Händen durch die Haare, atme ein letztes Mal tief durch, bevor ich den Schlüssel ziehe und aussteige.
Die Türen des Eingangs öffnen sich automatisch, die Schwester hinter der Rezeption guckt nur gelangweilt hoch und ignoriert meine ernstgemeinte Begrüßung.
So viel dazu.
Ich versuche es zu erst an Fondas Zimmertür, aber scheinbar ist sie nicht auf ihrem Zimmer. Dann ist sie wahrscheinlich wieder mit diesem Typen unterwegs.
Dass Fonda ausgerechnet hier Freunde finden würde, ist das letzte, woran ich gedacht hatte. Sie ist eigentlich ein Einzelgänger, außer Jeremy hat sie keine anderen sozialen Kontakte. Wahrscheinlich nutzt sie den Kerl nur aus. Wahrscheinlich wegen der Zigaretten. Oder vielleicht hat er es geschafft, Drogen mit hineinzuschmuggeln. Wer weiß.
In der Mensa ist Fonda auch nicht. Auch nicht im Aufenthaltsraum. Bleibt wohl nur noch draußen.
Die Sonne knallt unbarmherzig in den Garten, das satte Grün des frischgemähten Rasens blendet fast. Ich schaue mich kurz um und entdecke Fonda entspannt auf dem Rasen liegen, ihre Augen geschlossen und auf ihren Lippen lag ein zufriedenes Lächeln.
Ich runzle die Stirn. Ich will kein Spielverderber sein, aber eigentlich soll sie das hier nicht genießen, eigentlich soll das hier eine Lektion sein.
Sie öffnet faul eines ihrer Augen, als sie meinen Schatten über sich bemerkt.
„Geh aus der Sonne raus."
„Was machst du hier?", frage ich etwas genervt und setze mich neben sie in das Gras. Die Sonne ist heiß auf meinem Gesicht.
„Ich sonne mich, siehst du doch. Im Gegensatz zu Elliot bin ich schon richtig braun geworden."
„Elliot?", frage ich verwirrt. Wer ist das schon wieder?
„Sitzt hinter dir", schmunzelt sie mit geschlossenen Augen.
Ich wirble herum und sehe nicht weit hinter mir den Jungen mit den blonden Locken im Schatten eines Baumes sitzen. Er hat ein Buch in der Hand und bemerkt mich gar nicht.
Ich runzle die Stirn. Ohne jetzt scheiße zu klingen, aber er sieht nicht aus, wie die Art Typen, die sich mit einem Buch beschäftigen können.
„Was liest er?"
„Aristoteles' Metaphysik."
„Was?", frage ich verständnislos. „Versteht er das überhaupt?"
Fonda öffnet ihre Augen und starrt zu mir hoch. „Wer tut das schon wirklich."
Ich schaue wieder zurück zu dem Jungen, der mit gerunzelter Stirn und der Unterlippe zwischen die Zähne geklemmt konzentriert in dem Buch las.
Aristoteles' Metaphysik.
Ich schüttle den Kopf und wende meinen Blick wieder ab. Bescheuert.
„Er ist ganz cool, weißt du", gähnt Fonda und streckt sich faul auf dem Gras.
Ich lache sarkastisch auf. „Sicher ist er das. Weil er dir Zigaretten gibt."
Bevor Fonda etwas antworten kann, lässt jemand plötzlich ein Buch neben Fonda auf das Gras fallen. Ich schaue etwas perplex hoch und sehe den Jungen mit den blonden Locken über Fonda stehen. Er beachtet mich überhaupt nicht.
„Er ist weniger", höre ich ihn zu ihr sagen, bevor er sich von uns entfernt und in das Gebäude verschwindet.
„Wer ist weniger?", frage ich irritiert und reiße meinen Blick von der Tür los, durch die er gerade verschwunden war, als Fonda mir nicht antwortet.
Sie starrt etwas nachdenklich auf das Buch in ihrem Schoß und streicht abwesend über den Einband.
„Fonda?", frage ich. So habe ich sie noch nie erlebt.
Sie hebt ihren Kopf und schaut mich an. Sie betrachtet mein Gesicht, als würde sie es zum ersten Mal sehen. Ich fühle mich plötzlich unwohl unter ihrem Blick und das ist noch nie vorgekommen. Was zur Hölle-
„Du", sagt sie schließlich. Sie blinzelt kurz, so als müsse sie ihre eigenen Worte selbst erst einmal verarbeiten. „Du bist weniger."

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