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CHICO

Ich starre auf den Chatverlauf zwischen mir und Elliot, meine Stirn ist so stark gerunzelt, dass ich schon Kopfschmerzen bekomme. Meine beiden Daumen schweben unschlüssig über der Tastatur. Ich bin kurz davor, ihm noch eine Nachricht zu schreiben. Aber wenn er meine vier Nachrichten davor schon ignoriert hat, was sagt mir, dass er auf meine fünfte reagieren wird?
Ich verstehe das nicht.
Seit dem Tag als wir bei Danielle waren, ist es irgendwie komisch zwischen uns. Nicht mehr so wie vorher. Ich kann nicht mal wirklich erklären, was genau anders ist, aber es ist anders.
Ich seufze frustriert in die Leere meines Autos und stecke mein Handy wieder in meine Hosentasche. Ich verstehe nicht, warum er mir nicht einfach sagen kann, was Sache ist. Ich dachte, wir stecken da gemeinsam drinnen.
Plötzlich vibriert mein Handy in meiner Hosentasche.
Elliot.
Aber es ist nicht Elliot. Es ist Fonda.
Ich atme genervt aus und gehe ran.
„Was?"
„Wow, danke", erwidert meine Schwester etwas beleidigt, „Warum so genervt?"
Ich verdrehe die Augen und seufze. „Was willst du?"
„Du hast gesagt, ich soll anrufen, wenn ich das nächste Mal was von Elliot höre. Alsooo..."
„Hast du?", frage ich plötzlich viel wacher und ich setze mich etwas aufrechter hin.
„Er war gerade hier. Hat mir 'n bisschen was von diesem Ex erzählt. Um ehrlich zu sein, kann ich verstehen, warum er ihn so hasst."
„Wo ist er jetzt?", frage ich und versuche nicht daran zu denken, dass er sich lieber Fonda anvertraut als mir.
Fonda zögert kurz. Und das ist der Moment, wo ich weiß, dass irgendwas nicht stimmt. „Er ist zu diesem Typen gefahren, aber-"
„Wann war das?", unterbreche ich sie harsch. Meine Gedanken rasen. Ich weiß mittlerweile, wie impulsiv Elliot manchmal handelt und in was für Schwierigkeiten ihn das bringen kann.
Fonda murmelt irgendwas Unverständliches.
„Was? Rede vernünftig", hake ich nach.
„Vor zwei Stunden ungefähr."
„Vor zwei Stunden? Fonda!", schnauze ich sie an. Das kann nicht wahr sein. In der Zeit kann schon alles mögliche passiert sein.
„Tut mir leid! Erst wollte ich dir gar nichts davon erzählen, aber seitdem er weg ist, hat er sich nicht mehr gemeldet und er geht auch nicht an sein Handy und ich wusste nicht, was ich machen sollte", rattert sie in einem Rutsch runter.
Ich beiße frustriert meine Zähne zusammen.
„Wo genau ist er hingefahren?"
„Ich weiß nicht genau wohin, er meinte nur, dass der Typ bei irgendeinem Walmart bei ihm in der Nähe arbeitet. Aber ich habe keine Ahnung, wo genau das ist."
„Walmart? Bist du dir sicher?"
„Das hat er zumindest gesagt."
„Okay, gut", murmle ich und lege auf. Ich starre noch eine Sekunde lang auf meinen Bildschirm, bevor ich mein Handy auf den Beifahrersitz schmeiße und den Zündschlüssel drehe.

Es gibt nur einen Walmart bei Elliot in der Nähe, schließlich wohnt er in einer Ecke, wo fast niemand wohnt. Die zehn Minuten Fahrt dorthin kommen mir vor, wie eine halbe Ewigkeit. Jede rote Ampel, jedes zu langsame Auto, das meinen Weg zu Elliot behindert, bringt meinen Puls auf 180.  Verdammt, wieso hat er mir nicht einfach erzählt, was abgeht?
Als ich endlich die Einfahrt auf den Parkplatz nehme, bin ich ein emotionales Wrack.
Noch schlimmer wird es, als ich bemerke, dass niemand hier ist. Keine Menschenseele. Nicht mal ein geparktes Auto, nichts.
Ich fahre einmal um den Laden rum. Zweimal. Dreimal. Es ist niemand hier.
Ich schlage frustriert auf mein Lenkrad und lasse mein Gesicht in meine Hände fallen.
Ich atme tief durch. Denk nach, Chico. Wo kann Elliot sein?
Ich nehme meine Hände wieder von meinem Gesicht und starre durch meine Windschutzscheibe in die Leere. Ich will Fonda anrufen und fragen, ob es einen Ort gibt, wo er hingegangen sein könnte. Aber irgendwas hält mich davon ab. Ich will gerade nicht mit Fonda reden. Ich will gerade mit niemandem reden.
Ein paar Minuten später finde ich mich mit Black Jack wieder auf der Straße wieder. Ohne den Gedanken überhaupt wirklich gehabt zu haben, fahre ich Richtung Elliots Haus. Die Straßen sind leer, kein Auto kommt mir entgegen.
Das ist wahrscheinlich der Grund, warum mir die dunkle Gestalt an der Straßenseite sofort auffällt. Ich mache neben ihr eine Vollbremsung, meine Reifen quietschen empört.
Ich habe keine Ahnung, warum ich das weiß, aber das ist Elliot. Ich spüre das einfach.
Ich reiße meine Beifahrertür auf. „Setz dich rein", befehle ich in einem Ton, den ich an mir noch nie gehört habe.
Elliot bleibt kurz stehen, aber dann nähert er sich meinem Auto, bis er sich runterbeugen und ins Innere des Wagens schauen kann.
Mein Atem bleibt in meinem Hals stecken, als ich sein Gesicht sehe.
An seiner Nase klebt getrocknetes Blut, sein linkes Auge ist fast komplett zugeschwollen, seine Unterlippe dick und aufgeplatzt und sein Kiefer verfärbt sich langsam aber sicher lila und blau. Ein abgehobenes Grinsen liegt auf seinen Lippen, das sein Gesicht in eine hässliche Grimasse verwandelt.
„Was zur Hölle ist passiert?", atme ich geschockt, mein Gesicht eine Maske aus blankem Horror.
Elliot setzt sich ohne ein Wort in den Wagen und zieht die Tür zu. Er zuckt ein bisschen zusammen, so als hätte ihm selbst diese kleine Bewegung Schmerzen bereitet, aber ansonsten bekomme ich keine Reaktion von ihm.
„Elliot?", frage ich in die Stille hinein. Seine Augen sind geschlossen, sein Kopf liegt entspannt an der Kopflehne.
„Fahr mich nach Hause, Chico." Das ist alles, was er sagt. Seine Stimme klingt rau und heiser, als hätte er die ganze Zeit geschrien.
Ich beiße frustriert meine Zähne zusammen, aber ich kann nichts dagegen sagen. Er will, dass ich ihn nach Hause bringe, also bringe ich ihn nach Hause. Was soll ich machen?
Er ist den Rest der Fahrt über still. Ab und zu schiele ich zu ihm rüber und vergewissere mich, dass er wirklich noch neben mir sitzt.
Ich fahre ihn den Weg hoch bis zum Haus. Eine Sekunde lang bin ich unschlüssig, ob ich mit reingehen soll, aber als Elliot ohne ein Wort aussteigt, folge ich ihm einfach.
Ich muss wissen, was passiert ist. Jeder andere hätte wahrscheinlich gecheckt, dass er sich mit diesem Exfreund von Clara geprügelt haben muss, und das habe ich auch, aber das reicht mir nicht als Erklärung. Ich will wissen, warum. Ich will wissen, was er gesagt oder gemacht hat, dass Elliot so ausgerastet ist. Es ist merkwürdig, dass ich ihn gut genug kenne, um zu wissen, dass Schubert irgendwas gemacht haben muss, um ihn soweit zu bringen. Elliot macht nichts ohne Grund.
Ich höre Elliots Eltern im Wohnzimmer sitzen und Fernsehen gucken, aber sie hören uns nicht. Elliot verschwindet direkt nach oben und ich folge ihm. Anstatt ihm ins Zimmer zu folgen, biege ich ins Badezimmer ab. Ich kenne niemanden, der keinen Verbandskasten oder zumindest etwas zum Wundenverarzten im Badezimmer stehen hat. Ich krame Wundsalbe, Pflaster, und nach langem Suchen auch Desinfektionsmittel und Verbandszeug zusammen, dann nehme einen der sauberen Waschlappen aus dem Regal und befeuchte ihn mit warmen Wasser. Ich weiß nicht, wann ich zu Elliots persönlicher Krankenschwester geworden bin, aber irgendjemand muss es ja machen.
Ich betrete sein Zimmer, ohne zu klopfen. Er hätte mir sowieso nicht geantwortet. Ich entdecke ihn erst auf dem zweiten Blick auf seinem Balkon stehen, eine Zigarette glüht zwischen seinen schlanken Fingern. Er starrt ruhig nach oben in den Nachthimmel. Es wäre egal gewesen, was ich gesagt hätte, er hätte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Ich stelle die Sachen aus dem Badezimmer auf seinem Schreibtisch ab und folge ihm auf den Balkon. Alles, was ich momentan zu tun scheine, ist ihm zu folgen. Egal, wohin.
„Tut's weh?", frage ich ihn nach langem Überlegen, was ich sagen soll. Als Elliot seinen Kopf in meine Richtung dreht und mich anschaut, als hätte er jetzt erst bemerkt, das sich auch noch da bin, weiß ich, wie dumm die Frage war.
Seine Augen scannen mein Gesicht ab, als würde er nach irgendwas suchen. Ich wünschte, ich wüsste, was. Aber er sagt nichts.
Nach einer Weile flippt er seine aufgerauchte Zigarette den Balkon runter und geht ohne ein Wort wieder rein. Ich schaue kurz hoch in den Himmel, es sind keine Sterne zu sehen. Bloß schwere, dunkle Wolken. Ich seufze und folge ihm wieder.
Ich bin etwas überrascht zu sehen, wie er schon auf seinem Bett sitzt und mit Blick auf die Sachen auf dem Schreibtisch darauf zu warten scheint, dass ich ihn wieder zusammenflicke. Ich hätte gedacht, er würde darauf bestehen, es selbst zu tun. Aber als ich ihm ins Gesicht schaue und die dunklen Ringe unter seinen Augen entdecke, verstehe ich, dass er viel zu müde ist, sich großartig zu wehren. Der Blick in seinen Augen ist seltsam leer.
Ich drehe mich zum Schreibtisch und mache ich an die Arbeit. Ich tränke den Waschlappen in Desinfektionsmittel und drehe mich wieder zu Elliot um, Elliots Mundwinkel zuckt beim Anblick des Waschlappens kurz nach oben.
„Selbst Schuld", murmle ich und fasse mit meinen Fingern vorsichtig unter sein Kinn, um seinen Kopf ein bisschen anzuheben. Ich tupfe die Wunden in seinem Gesicht behutsam sauber, wische ihm das Blut unter seiner Nase und an seiner Unterlippe weg. Erst jetzt, wo ich ihm so nah bin, sehe ich den kleinen Schnitt über seiner rechten Augenbraue. Ich streiche seine Haare aus dem Weg und kümmere mich um die Wunde. Ich bemerke, wie seine Augen mein Gesicht absuchen, und das macht mich nervös. Ich wünschte, er würde mich nicht so anschauen. Oder zumindest nicht, wenn mein Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt ist. Ich schlucke und drehe mich wieder zum Schreibtisch, um nach der Wundsalbe zu greifen. Ich presse ein bisschen davon auf meinen Zeigefinger und fange an, die Salbe auf seinen Wunden zu verteilen. Als ich mit meinem Finger die Kontur seiner Lippe nachfahre, schaue ich kurz flüchtig hoch in seine Augen - und halte in meiner Bewegung inne.
Da ist etwas in seinen Augen, dass mir Angst macht, aber ich kann nicht weggucken. Ich kann den Ausdruck nur identifizieren, weil ich ihn kenne. Hunger. Das Verlangen, etwas zu tun, von dem man nicht weiß, wie es enden wird. So ähnlich hat er mich angeschaut, als er auf dieser einen Hausparty der Studentenverbindung plötzlich meinen Kragen gepackt und sein Gesicht in meiner Halsgrube versteckt hat; als meine Arme sich um seinen Rücken geschlungen haben und wir da so gesessen haben, als gäbe es nichts anderes mehr auf dieser Welt außer das.
Ich öffne meine Lippen, um etwas zu sagen, aber in der nächsten Sekunde weiß ich nicht mehr, was, und ich werde mich auch den Rest meines Lebens nicht mehr daran erinnern können, denn im nächsten Augenblick schnellt Elliots Hand hervor, schlingt sich um meinen Nacken und zieht mein Gesicht in seines.
Mein Herz bleibt stehen, als ich seine warmen Lippen auf meinen spüre, als sich mein Atem mit seinem vermischt, als meine sich Hände wie von selbst um sein schönes Gesicht legen. Mein Herz bleibt stehen, mein Atem bleibt stehen, die Welt bleibt stehen.
Aber so plötzlich, wie Elliot mich geküsst hat, so plötzlich hört Elliot auch wieder auf. Er lässt von mir ab und ich zucke reflexartig von ihm zurück, als hätte ich mich verbrannt.
Ich starre ihn mit großen Augen an, mein Herz pocht unangenehm schnell in meiner Brust, so, als wäre ich gerade mitten im Lacrosse Training.
Elliots Augen sind groß, doch in der Zeit, die ich brauche, einmal zu blinzeln, sind die Emotionen in seinem Gesicht wie weggewischt. Ich kann die meterdicken Schichten der unzähligen Mauern förmlich sehen, die sich plötzlich aufbauen und alles Verletzliche einschließen und vor mir verstecken. Es fühlt sich an, wie ein Schlag ins Gesicht. Ich trete unabsichtlich einen Schritt zurück. Elliot dreht sein Gesicht weg und schaut auf den Balkon.
„Elliot?"
„Ich bin müde", sagt er fast zur gleichen Zeit, wie ich seinen Namen sage.
Sein Blick begegnet meinem flüchtig, aber ich kann nichts in seinen Augen erkennen. Nichts.
Ich bin nicht dumm, ich habe verstanden, was er damit sagen wollte. Lass mich alleine.
Also tue ich das. Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll.
Er hat mich geküsst.
Ich suche meine Sachen zusammen.
Richtig geküsst.
Ich schließe seine Tür hinter mir, als ich sein Zimmer verlasse.
Ich hab's zugelassen.
Ich kann die Treppe nicht schnell genug runterlaufen.
Ich hab ihn zurückgeküsst.
Im Auto ist der Geschmack von Wundsalbe auf meinen Lippen das Einzige, was mich davon abhält zu glauben, dass ich das gerade alles nur geträumt habe.

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