31
ELLIOT
Als Clara gestorben ist, ging's mir eine Weile lang so dreckig, dass ich zwischendurch Panikattacken und Schlafparalysen erlitten habe. Das war mit einer der Gründe, warum meine Eltern es für eine gute Idee hielten, mich nach Greenwood in die Psychiatrie zu stecken. Seitdem hab ich zwar weder Panikattacken noch Schlafparalysen gehabt, aber nach dieser Phase hab ich gemerkt, dass ich anders war. Ich bin nicht mehr derselbe Elliot. Es gibt den Elliot mit Clara, und es gibt den Elliot nach Clara.
Seit den Panikattacken reagiere ich sensibel auf Geräusche und Menschenmassen. Ich hab vorher immer in meinem Zimmer Musik auf voller Lautstärke gehört, mit dem Bass so hochgedreht, dass mein Herz sich dem Rhythmus angepasst hat. Parties und laute Stimmen, Leute die durcheinander reden und unangenehme Geräusche waren für mich nie ein Problem. Aber das war danach vorbei. Es hat schon gereicht, wenn meine Eltern im Auto laut diskutiert haben. In meinem Kopf hat es sich angefühlt, als würde irgendwas zerbrechen. Es war wie zerbrechendes Glas, schmerzhaft und zu laut und zu viel. Ich hab Ewigkeiten gebraucht, bis ich wieder soweit klar gekommen bin, dass ich auf Parties gehen konnte. Aber zwischendurch wird es mir immer noch zu viel und genauso ist es jetzt auch.
Ich hab das Gefühl, mein Kopf explodiert gleich. Da ist so viel Druck und ich kann ihn nicht ablassen. Nicht hier, wo all die Leute durcheinanderreden, wo die Musik so laut ist, dass ich nichts mehr wahrnehmen kann, weil ich mich nicht auf alles auf einmal konzentrieren kann. Es ist zu viel. Ich spüre mein Herz rasen und ich fühle mich orientierungslos, als wäre ich in meinem eigenen Körper gefangen und niemand da draußen bekommt mit, was eigentlich gerade abgeht. Ich weiß genau, was gerade passiert. Aber ich weiß nicht, warum es passiert. Mir geht es gut, alle sind gut drauf und Chico sitzt neben mir auf dem vollen Sofa, um mich herum sind Leute, die ich zumindest vom Sehen her kenne. Mir ging's den ganzen Tag über gut, also warum passiert das gerade?
Ich versuche mich an die Atemtechniken vom Doc zu erinnern, aber das macht es nur noch schlimmer. Wenn ich sie anwenden muss, muss ich mir eingestehen, dass absolut nichts okay ist. Ich versuche an etwas anderes zu denken, ich zähle die Becher auf dem Tisch (14), die Fransen an dem Teppich unter mir (36), Ich buchstabiere in meinem Kopf die Namen von Leuten, die ich kenne (C-H-I-C-O, F-O-N-D-A, C-L-A-R-A), aber das ist das beschissene an Panikattacken. Man kann an nichts anderes denken. Die Gedanken rasen und rasen, der Druck in deinem Kopf wird immer stärker, das Adrenalin in deinem Körper staut sich und will in Form von Bewegung raus. Einfach raus. Ich muss hier raus.
Ich springe auf, knalle dabei mit meinem Knie gegen den Tisch und schmeiße zwei Becher um. Irgendwelche Leute sagen was, aber ich verstehe nicht, was. Ich höre jemanden meinen Namen rufen, aber ich bin schon lange draußen.
Draußen ist es genauso voll wie drinnen. Leute rempeln mich an, schreien rum, Lachen laut, die Musik dröhnt aus Lautsprechern. Mein Kopf. Ich muss hier weg. Ich muss alleine sein.
Warum passiert das gerade? Warum, warum, warum? Mir geht's gut. Mir geht's gut.
Eine warme Hand schlingt sich um mein Handgelenk und ich erschrecke mich so sehr, dass ein Schauer über mein Hirn läuft und ich wirklich denke, dass ich sterbe. Ich werde sterben, mein Herz wird aufhören zu schlagen, hier und jetzt, auf der Hausparty von einem Lacrossespieler, den ich nicht einmal kenne.
„Elliot, alles okay? Was ist los?" Es ist Chico. Seine Augen sind so hell, dass es wehtut. Das ist zu viel, zu viel.
Er hat gefragt, was los ist. Ich kann ihm nicht sagen, was los ist. Wenn ich es ausspreche, mache ich es wahr. Dann weiß ich, dass gerade was falsch ist und das würde alles nur noch schlimmer machen. Ich kenne das. Ich weiß, wie das abläuft.
Ich versuche zu reden. Ich versuche ihm zu sagen, dass er sich verpissen soll, aber ich kann nicht reden. Ich hab nicht die Kontrolle über meinen Körper. Ich weiß nicht, wer sie hat, aber ich habe sie nicht. Mir wird heiß. Viel zu heiß. Mein Herz schlägt zu schnell.
Chico sieht mich an meinen Worten würgen, wie ein erbärmliches kleines Kind, das kurz vorm Heulen ist.
Er sagt nichts. Stattdessen wird sein Griff um mein Handgelenk stärker und er zieht mich mit durch die Leute, vorbei an den Gartenteich, vorbei an Gebüschen, vorbei an der Gartenhütte, bis die Geräusche leiser werden und die Leute weniger. Hinter der Gartenhütte zieht er mich mit auf den Boden, sodass ich mit dem Rücken an dem Holz gelehnt sitze, er hockt vor mir, sein Gesicht klar und ernst im Mondschein.
„Elliot, hör auf", befiehlt Chico im ernstem Ton und legt seine Hand auf meinen Oberschenkel, der bis dahin auf und ab gewippt ist.
Ich kann nicht, will ich ihm sagen, aber es kommt nichts raus. Da ist so viel Adrenalin in meinem Körper und ich muss das loswerden, ich muss mich bewegen, mich ablenken, sonst muss ich denken und wenn ich denke-
„Schau mich an. Mach mir nach."
Chico nagelt mich mit seinem Blick fest, selbst wenn ich gewollt hätte, ich hätte nirgendwo anders hingucken können. Er atmet tief durch die Nase ein, spitzt seinen Mund, als würde er gleich pfeifen, und drückt mit Druck die Luft durch das kleine Loch zwischen seinen Lippen wieder raus. Er macht das nochmal und nochmal, bis ich ihm schließlich nachmache. Das ist genau die gleiche Atemtechnik, die der Doc mir gezeigt hat. Woher zur Hölle weiß Chico davon?
Die Ränder meiner Sicht flimmern. Mein Puls geht sofort wieder hoch, die Atemtechnik funktioniert nicht mehr, weil ich nicht genug Luft habe. Mein Oberschenkel wippt wieder auf und ab. Ich kann nichts dagegen machen. Ich will einfach nur noch, dass der ganze Scheiß aufhört. Ich will raus aus meinem Körper, raus aus meinem Kopf. Ich will einschlafen, bewusstlos werden, irgendwas, damit ich das nicht weiter mitmachen muss.
„Es flackert alles", höre ich mich selbst sagen, meine Stimme klingt, als würde ich jeden Moment anfangen zu heulen. Ich kann nicht mehr.
„Das ist dein Kreislauf. Leg deine Füße auf meine Beine", befiehlt Chico und bevor ich machen kann, was er gesagt hat, nimmt er meine Unterschenkel und legt sie sich auf seine Oberschenkel.
Ich schließe die Augen, damit ich das Flimmern nicht mehr sehen muss, aber stattdessen sehe ich plötzlich überall schwarze Punkte. Werde ich jetzt wirklich bewusstlos?
Ich öffne meine Augen wieder und alles was ich sehe, sind Chicos eisblaue Augen, die so hell sind, dass sie dem Mond Konkurrenz machen. Ich muss bei dem Gedanken fast lachen. So viel hab ich doch noch gar nicht getrunken.
„Fühlst du dich besser?", fragt Chico nach einer Weile.
Ich weiß nicht. Fühle ich mich besser? Es ist immer noch alles anders. Das Rascheln der Blätter in den Bäumen ist zu laut, der Bass im Hintergrund zu stark. Aber mein Herzschlag ist ruhiger geworden. Und meine Sicht flimmert nicht mehr.
„Mein Kopf ist so voll", sage ich stattdessen.
„Das ist normal. Versuch einfach, mit mir zu reden. Ich hol dir gleich was zu trinken, Wasser hilft auch dabei", antwortet Chico. Er sieht erleichtert aus.
Ich runzele die Stirn, höre aber sofort auf, als ich davon Kopfschmerzen bekomme. „Woher weißt du das alles?"
Chicos rechter Mundwinkel hebt sich ein bisschen. Aber es ist ein freudloses Lächeln. „Fonda hat auch ab und zu mit Panikattacken zu kämpfen. Ihr wird schnell mal alles zu viel."
„Das hat sie mir nicht erzählt."
„Hast du ihr von deinen erzählt?" Es ist eine rhetorische Frage, also antworte ich nicht.
„Kann ich dich kurz alleine lassen? Ich will dir eben was zu trinken holen, ich beeile mich auch." Chico steht auf, bevor ich was sagen kann, meine Beine rutschen von seinen. Als er um die Ecke verschwunden ist und ich seine Schritte nicht mehr höre, schließe ich die Augen und zähle solange meine Atemzüge, bis ich seine Schritte wieder hören kann.
Scheiße, denke ich und ziehe meine Beine an meinen Körper, wann bin ich so ein Baby geworden?
Das Wasser ist warm, aber wahrscheinlich das erste Mal in meinem Leben halte ich den Mund und beschwere mich nicht. Ich wünschte, es wäre anders, aber ich wüsste nicht, was ohne Chico passiert wäre. Hätte ich es alleine geschafft, mich wieder runterzukriegen? Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.
Mit der Zeit merke ich, wie alles wieder normal wird. Mein Kopf wird wieder normal, meine Gedanken. Meine Sicht, meine Umgebung. Ich fühle mich wieder normal. Als wenn nichts gewesen wäre. Als hätte ich mir das alles nur eingebildet.
Hab ich ja auch. Was schon echt erbärmlich ist.
Chico bietet mir eine Zigarette an und ich nehme sie wortlos an. Zigaretten helfen mir, am Boden zu bleiben. Was dumm ist, wenn man bedenkt, dass man sich beim Nikotinflash high fühlt. Aber sie beruhigen mich. Ich weiß, dass sie schlecht sind, aber sie beruhigen mich.
Chico raucht auch eine. Seine Hand zittert ein bisschen als er sie anzündet und ich tue so, als hätte ich das nicht gesehen.
Er meint, er ist nicht schwul. Ich weiß nicht, ob ich ihm das glaube. Wäre es so, dann würde er mich nicht so anschauen wie jetzt gerade. Oder er schaut jeden so an und ich bin einfach dumm. Ich weiß es nicht.
„Willst du nach Hause?", fragt Chico, nachdem er aufgeraucht hat.
Ich nehme einen letzten Zug und drücke die Zigarette auf dem Boden aus, dann nicke ich. Ich hab keinen Bock mehr auf diese scheiß Party.
Chico geht nochmal ins Haus und verabschiedet sich von seinen Leuten (ich wette, er sagt niemanden, dass er wegen mir fährt), ich warte draußen bei seinem Auto auf ihn.
Ich hab's Chico nie gesagt, aber ich mag seinen Wagen. Normalerweise hasse ich Autofahren, aber den würde ich gerne mal ausprobieren. Irgendwann krieg ich Chico noch dazu, mich fahren zu lassen. Irgendwann.
Ich muss Chico nicht sagen, wo er lang muss, er scheint den Weg zu mir schon auswendig zu kennen. Was ein komischer Gedanke ist, denn bald werden wir nichts mehr miteinander zutun haben, also warum sich extra den Weg merken?
„Kann ich noch kurz mit rein? Ich muss auf Klo", sagt Chico, als der Wagen vor meinem Haus zum Stehen kommt.
Die Lichter drinnen sind aus, meine Eltern schlafen schon.
„Mach, was du willst", sage ich, während ich mich abschnalle und aussteige.
Chico folgt mir die Treppe hoch, verschwindet dann aber gegenüber von meinem Zimmer ins Badezimmer. Ich verkrieche mich auf meinen Balkon.
Dafür, dass es noch Sommer ist, ist die Luft ziemlich kühl. Aber das tut gut. Ich lehne mich an das Geländer und schließe die Augen, atme einmal tief durch. Ich denke sofort an die Party, obwohl ich nicht daran denken will. Ich hab keine Ahnung, wo die Panikattacke so schnell herkam. Ich hab nichts gemacht. Ich hab nicht mal an Clara gedacht oder so. Vielleicht lag's auch einfach an den Leuten. Vielleicht hab ich mich da nicht wohlgefühlt. Manchmal verdränge ich meine Gefühle soweit, dass ich nicht mal weiß, dass es mir scheiße geht.
Ich weiß nicht, was ich über Chico denken soll. Was ich heute gesagt habe, stimmt. Ich könnte ihm immer noch jedesmal ins Gesicht schlagen, wenn ich ihn sehe. Aber ich glaube, der Grund dahinter hat sich geändert. Vielleicht bin ich neidisch, weil er so schön ist und ihm alle Mädchen hinterherstarren. Vielleicht liegt's aber auch an den Augen.
Und dann denke ich wieder daran, wie seine Augen gerade das einzige waren, was mich davon abgehalten hat, komplett durchzudrehen.
Irgendwas ist mit diesen Augen. Ich kann's nicht erklären.
Ich höre, wie hinter mir die Balkontür aufgeht. Chico stellt sich neben mich und starrt in den Garten runter, seine dunklen Haare wehen leicht im Wind.
„Ich geh pennen", sage ich ins Nichts, „Was du machst, ist mir egal."
Was meine Worte eigentlich bedeuten: Bleib.
Ich hasse es, dass ich ihm das nicht direkt sagen kann.
Ich lege mich mit meinen Klamotten ins Bett, die Gardinen vor der offenen Balkontür wehen leicht im Wind. Chico bleibt auf dem Balkon stehen.
Die Panikattacke hat mich so krass erschöpft, dass ich schneller einschlafe, als ich eigentlich gewollt habe.
Ich habe keine Albträume.
Als ich am nächsten Morgen aufwache, schläft Chico zusammengerollt auf dem Teppich neben meinem Bett.
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