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ELLIOT

Er ist schon wieder hier. Ist das ihr Freund?
Nein, das kann nicht sein. Nur Familienangehörige sind zu Besuch erlaubt.
Dann wahrscheinlich ihr Bruder. Oder irgendein Cousin.
Sie sitzen wieder draußen auf der Bank, so wie gestern. Sie streiten sich. Er ist wütend.
Plötzlich steht die Neue auf und kommt auf mich zugelaufen. Ich weiß, was sie will, bevor sie hier ist. Sie hat Selbstbewusstsein, das muss man ihr lassen. Das kann sie auch haben. Sie ist hübsch. Nur nicht mein Typ.
Genau wie gestern denkt sie, sie müsse mit ihrem Charme spielen, um sich eine Zigarette von mir zu schnorren. Sie spielt mit ihren dunklen Locken, ihre dunklen Augen glitzern frech.
Es ist fast schon erbärmlich, wie sie glaubt, ich würde sie geil finden und ihr nur deswegen Zigaretten geben. Dabei ist es nicht ihr Körper, der mich interessiert. Es ist ihr Kopf, es sind ihre Gedanken.
„Wie heißt du?", fragt sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Anscheinend hat sie keine Lust, zu ihrem Bruder oder Cousin oder was auch immer zurückzugehen.
„Elliot."
„Elliot", wiederholt sie und atmet den Rauch aus. „Das passt nicht zu dir."
Ich hebe eine Augenbraue. „Nicht?"
Sie schmunzelt nur. „Wieso bist du hier?"
Ich klopfe die Asche von meiner Zigarette ab und lasse mir Zeit mit der Antwort. „Junkie", sage ich schließlich. Das sage ich immer, wenn ich gefragt werde.
„Junkie, huh?" Sie betrachtet mich. „Ich glaub dir nicht."
„Dann nicht", zucke ich mit den Schultern.
Sie wendet ihren Blick ab und starrt zu ihrem Besucher, der angepisst zu uns herüberschaut. Schon lustig.
„Mein Bruder glaubt, du willst mich flachlegen", sagt sie geradeheraus.
Ich grinse. „Und was glaubst du?"
Sie dreht ihren Kopf zu mir. „Ich glaube, du bist der einzig Normale hier."
Interessant. Genau das gleiche denke ich über sie.
Ich schnipse den übriggebliebenen Filter meiner Zigarette weg und nicke mit dem Kinn zu ihrem Bruder. „Wie heißt der?"
„Chico."
„Chico?"
„Ja."
„Einfach Chico."
„Einfach Chico", wiederholt sie.
„Okay", antworte ich und schaue zu ihm rüber. Einfach Chico. Es passt irgendwie zu ihm.
„Ich muss wieder zurück. Sonst bringt er mich um", verdreht sie die Augen und schnipst ihre Zigarette weg. „Wir sehen uns."
„Wir sehen uns."

Am nächsten Nachmittag ist etwas anders. Der Sitzkreis hat sich verändert. Will sitzt nicht länger neben mir. Nun ist es Fonda. Auch in der Mensa sitze ich nicht mehr alleine. Fonda ist da. Egal wo ich hingehe, sie hängt an mir.
Nicht, dass ich das schlimm finden würde. Nein, es tut gut mal jemand Normales hierzuhaben, mit dem man vernünftig reden konnte. Nicht nur ständig über irgendwelche Suizidgedanken oder Mordpläne zu reden, ist erfrischend. Über die Tage hinweg finden wir heraus, dass wir auf die selbe Schule gehen. Sie ist eine Stufe unter mir, deswegen ist sie mir wahrscheinlich nie aufgefallen. Sie ist erst 16. Vom Verhalten her hätte ich gedacht, sie wäre mindestens 18.
„18?", lacht sie. „Die Barkeeper dachten immer alle, ich wäre mindestens 21."
„Oder sie waren geil auf dich."
„Oder das", schmunzelt sie frech und spielt mit eine ihrer Locken.
„Hast du einen Freund?"
„Ja, Jeremy heißt er. Er ist dieses Jahr ein Senior."
„Jeremy Hastings?"
Sie nickt.
Hastings. Ich kenne Jeremy. Jeder kennt Jeremy. Er ist derjenige, der auf dem Schulhof Drogen an Minderjährige vertickt.
Interessant.
„Er ist ein Arschloch", sage ich und schaue aus dem Fenster. Von meinem Zimmer aus hat man Ausblick auf den Besuchergarten. Aber zu der Zeit ist er leer.
„Ich weiß", antwortet sie simpel. „Chico mag ihn auch nicht."
„Ist das der Grund, warum du mit Hastings zusammen bist?"
„Was?" Fonda schaut kurz auf.
„Aufmerksamkeit. Damit du deine Familie abfucken kannst. Das ist es doch, oder?"
Sie betrachtet mich einen Moment lang mit ihren dunklen Augen. Dann wickelt sie sich abwesend eine ihrer Locken um den Finger. „Ich hab dich unterschätzt."
Ich hebe eine Augenbraue. „Unterschätzt?"
„Kennst du Aristoteles? Den altgriechischen Philosophen?"
„Schon von gehört, ja."
„Kennst du das Zitat Das Ganze ist mehr, als die Summe seiner Teile?"
Ich blinzle irritiert.
Fonda wirft frustriert ihre Haare zurück. „Schau mal, ich hab noch nie versucht, es jemandem zu erklären, weil ich dachte, dass die Leute es eh nicht checken würden. Aber ich glaube, dass du verstehen könntest, was ich meine, also versuche ich's dir zu erklären."
„Okay?"
„Also sagen wir, wir haben eine Mannschaft. Meinetwegen eine Fußballmannschaft oder so. Das ist das Ganze. Was dieses Zitat meint ist, dass diese Mannschaft mehr wert ist, als die Spieler dieser Mannschaft als einzelne Personen. Ist ja auch logisch, als Mannschaft sind sie stärker als nur als einzelner Spieler. Weißt du, was ich meine? Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile."
„Logisch."
„Gut. Ich weiß, das klingt jetzt weird, aber so sehe ich Menschen."
Fonda schaut mich an, als müsse es in meinem Kopf jeden Moment Klick machen.
„Und du wunderst dich, warum du in der Klapse gelandet bist", murmle ich.
Fonda stöhnt frustriert auf. „Du checkst es nicht."
„Ich versuch's. Erklär's mir."
„Das ist leichter gesagt, als getan", murmelt sie. Sie setzt sie auf. „Okay. Es gibt verschiedene Dinge, die einen Menschen ausmachen. Bestimmte Charakterzüge. Eigenschaften. Erinnerungen, Taten. Egal, ob positive oder negative. Sagen wir, die positiven Eigenschaften und Charakterzüge, Erinnerungen und Taten sind jeweils eine eins. Die negativen sind eine minus eins. Wenn wir jetzt einen Menschen haben und all diese Charakterzüge und Eigenschaften und Erinnerungen und Taten addieren, kommt am Ende entweder eine positive oder eine negative Zahl heraus. Die meisten Menschen die ich kennenlerne, haben eine negative Zahl. Die Summe ihrer Teile ist weniger als das Ganze, denn das Ganze ist quasi die Null. Ganz selten kommt bei einem Menschen eine positive Zahl heraus und das sind die Menschen, die du festhalten solltest, Elliot. Der Rest ist egal. Aber Menschen, deren Summe ihrer Teile mehr ist, als das Ganze - von solchen begegnest du nur eine Handvoll. Wenn überhaupt."
Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Wow.
Ich glaube, ich weiß genau, wovon sie spricht. Ich habe es nur noch nie in so einem Licht gesehen. Ich habe es nie geschafft, so etwas in Worte zu fassen. Und hier sitzt Fonda vor mir, ein einfaches, nikotinabhängiges, 16-Jähriges Mädchen mit psychischen Problemen, das mehr über Menschen weiß, als jeder verdammte Philosoph, der je gelebt hat. Das ist Wahnsinn.
Kein Wunder, dass ich sie von Anfang an interessant gefunden habe.
„Und ich?", frage ich. Sie weiß genau, was ich meine.
Sie fängt an, zu Lächeln. Ich glaube, es ist das erste Mal, dass ich sie wirklich ehrlich Lächeln sehe. „Das versuche ich dir ja gerade zu erklären. Normalerweise reicht nur ein Blick um zu erkennen, ob ein Mensch mehr oder weniger ist. Ich dachte von Anfang an, du wärst weniger. So wie fast jeder. Aber jetzt gerade musste ich feststellen, dass ich mich getäuscht habe. Du bist mehr als die Summe deiner Teile."
Ich bin mehr.
Es ist das erste Mal, dass ich es auch wirklich anfange, zu glauben.

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