28
CHICO
Es ist fünf vor zwölf und ich sitze mit einem Bier in der Hand auf Perrys ranzigem Sofa im Keller. Die Luft ist stickig und ich sehe kaum was, weil Leute der Meinung waren, sie müssten hier drinnen hotboxen. Der Qualm ist dicht und liegt schwer in der Luft, der Fernseher läuft im Hintergrund, aber das bemerkt kaum jemand. Es stinkt. Perry würde mich schlagen und grinsend sagen es duftet, hätte ich das laut ausgesprochen.
Aber das hab ich nicht, weil mir sowieso keiner zuhören wird.
Ich lasse mich tiefer in das Sofa sinken und starre gelangweilt auf den Fernseher. Weil die anderen so laut sind, verstehe ich aber kein Wort und versuche eine Weile lang stattdessen mein Glück im Lippenlesen, aber wie's aussieht, macht das bei Spongebob keinen Sinn.
Ich schaue wieder auf mein Handy. Jetzt ist es Punkt zwölf. Ich versuche nicht daran zu denken, wie ich jetzt eigentlich mit meinem Wagen vor Elliots Haustür stehen sollte. Es ist seine Schuld, dass ich da nicht stehe. Ich will ihm ja helfen, will ich wirklich, aber das kann ich nicht, wenn er der Meinung ist, er kann mich behandeln, wie er will. Ich bin nicht sein Butler, der ihn überall hinfährt. Ich bin nicht der Robin zu seinem Batman. Ich bin auch Batman. Wir sind beide Batman.
Ich schüttle bei meinen Gedanken den Kopf und stelle das Bier auf den Couchtisch vor mir ab. Ich hab nicht mal was getrunken und fühle mich trotzdem betrunken.
Ich schaue mich um, sehe, wie zwei Leute - Vincent und Parker - sich darüber streiten, welche Fernbedienung jetzt zum Fernseher und welche zum Blue-Ray Player gehört. Ein anderer Typ (von dem ich den Namen nicht weiß, irgendein Cousin von Perry) mischt sich ein und jetzt sind es drei Leute, die sich darüber streiten. Zwei andere Typen sitzen auf dem Boden vor dem Couchtisch und lachen sich über irgendwas wahrscheinlich überhaupt nicht so witziges kaputt, Perry selbst sitzt neben mir und schaut mit seinem typischen Stonerblick auf den Fernseher, in seiner eigenen Welt versunken.
Was mach ich eigentlich hier? Ich trinke nicht, ich hab nicht mitgeraucht, ich rede nicht mal mit den anderen. Ich kann auch genauso gut nach Hause fahren und schlafen.
Und das mache ich jetzt auch.
Ich stehe auf, fange mir ein paar perplexe Blicke von den drei Streitenden ein, die plötzlich nicht mehr streiten. Die beiden auf dem Boden sind immer noch am lachen und lassen sich dabei auch nicht stören. Ich lehne mich zu Perry rüber. „Ich fahr jetzt nach Hause."
Perry nickt bloß.
Ich weiß nicht, ob er mich überhaupt verstanden hat, aber das ist mir jetzt auch egal. Ich jogge die Treppen hoch und verschwinde. In meinem Kopf höre ich Elliots Stimme die mich fragt, ob es nicht anstrengend ist, sich anpassen zu müssen.
Zuhause im Bett kann ich nicht schlafen. Ich rolle mich die ganze Zeit von der einen Seite auf die andere, versuche, meinen Körper endlich still zu halten, damit ich einschlafen kann. Aber egal wie still ich bin, meine Gedanken sind es nicht.
Ich hätte mit Elliot gehen sollen. Mich plagt ein schlechtes Gewissen, obwohl ich eigentlich keines haben brauche. Ich will mit Fonda reden, aber sie ist nicht hier und schläft wahrscheinlich sowieso schon. Ich drehe mich wieder auf die andere Seite, die roten Ziffern meines Weckers leuchten in die Dunkelheit.
2:11 AM.
Noch ist es nicht zu spät, oder? Ich könnte immer noch hinfahren und wenigstens dafür sorgen, dass Elliot sicher nach Hause kommt. Aber ist es das Wert? Ich werd von ihm wahrscheinlich nicht mal ein Danke bekommen.
Ich drehe mich wieder auf die andere Seite, schließe die Augen. Aber ich kann es für mich machen. Um mein schlechtes Gewissen loszuwerden.
Ich seufze in die Dunkelheit hinein. Nach einem kleinen Moment reiße ich die Decke von mir und stehe auf.
Ich hoffe, er weiß das zu schätzen.
Ich habe Black Jack extra etwas weiter von der Studentenverbindung weg geparkt, aus Angst, dass irgendwelche besoffenen Leute auf die Idee kommen, irgendwas mit meinem Wagen anzustellen.
Der Vorgarten des riesigen Hauses ist vollbeleuchtet, ein paar Studenten torkeln draußen herum, einer hätte mir gerade fast auf die Schuhe gekotzt. Plastikbecher liegen überall, mindestens genauso viele wie Zigarettenstummel. Ich bin froh, dass ich den Scheiß nicht aufräumen muss. Die Musik ist laut, es läuft irgendein Techno-Remix und der Bass dröhnt durch die offene Haustür, bringt die Fenster zum Vibrieren. Mich wundertˋs, dass noch keine Cops hier sind. Die Nachbarn müssen doch mit Sicherheit schon angerufen haben.
Im spärlich beleuchteten Flur laufe ich an ein paar rummachenden Pärchen vorbei, in einer der vielen Türschwellen liegt jemand und pennt. Oder er ist bewusstlos, keine Ahnung. Jedenfalls ist es nicht Elliot.
Ich scanne das Wohnzimmer (oder zumindest glaube ich, dass es das Wohnzimmer sein soll) mit meinem Blick, aber ich sehe nirgendwo blonde Locken zwischen all den Leuten. Draußen am Pool auch nicht. Und da sind erschreckend viele Leute. Wie kann man denn so blöd sein, unter Alkoholeinfluss schwimmen zugehen?
Ich will gerade wieder reingehen, als ich oben an der Hauswand einen Balkon entdecke. Ich kann nicht sehen, ob da oben jemand ist, aber ich bin mir plötzlich zu 100% sicher, dass ich Elliot dort finden werde.
Ich bahne mir meinen Weg zurück in das Haus, rempel dabei aus Versehen ein Mädchen an, dass kurz darauf ins Gras fällt. Ich will mich gerade hinunterbeugen und schauen, ob sie okay ist, da fängt sie an zu kichern und ihre Freundin legt sich einfach neben sie ins Gras, beide heftig am Lachen. Das ist nicht nur Alkohol im Blut.
Ich lasse die beiden da liegen und laufe weiter. Ich brauche gefühlt eine halbe Ewigkeit, bis ich eine Treppe gefunden habe, die in das erste Stockwerk führt. Erstaunlicherweise ist hier oben niemand, alle Türen sind bis auf zwei Ausnahmen abgeschlossen. Die erste Ausnahme ist ein Badezimmer, in dem die Dusche läuft, in der gerade zwei Leute (mit Klamotten!) am rummachen sind. Ich glaube nicht, dass die beiden bemerkt haben, dass ich da reingeplatzt bin.
Hinter der zweiten Tür verbirgt sich ein Schlafzimmer. Zumindest glaube ich, dass es eins ist. Ich kann ein Bett erkennen, über dem Bett hängt ein Regal mit ein Dutzend Pokalen und Medaillen. Ich hab keine Ahnung, wer die Studenten sind, die hier wohnen, aber der hier scheint ziemlich gut in Football zu sein.
Der Gedanke verfliegt wieder, als ich die Balkontür hinter den zugezogenen Gardinen entdecke.
Egal, was Elliot hier oben will: er wollte nicht gefunden werden.
Aber ich habe ihn gefunden. Er sitzt auf dem Boden des Balkons, den Rücken an das Geländer gelehnt, die Beine hochgezogen, den Kopf im Nacken, Augen geschlossen. In seiner Hand sehe ich eine Zigarette glühen, neben ihm stehen zwei Becher. Der eine ist leer, der andere noch halb voll.
Ich zögere einen Moment, bevor ich die Balkontür aufdrücke. Ich habe ihn gefunden, ich werde ihn nach Hause bringen. Mein schlechtes Gewissen kann also wieder verschwinden, aber wieso spüre ich davon nichts?
Die Tür quietscht leise und Elliot öffnet erst ein Auge, dann beide, als er mich erkennt. Ein falsches Schmunzeln schleicht sich auf seine Lippen und er greift grob nach dem halb vollen Becher und prostet mir sarkastisch zu.
„Chico, wow", nuschelt Elliot und er nimmt einen großzügigen Schluck von seiner Mische. „Ich bin auch ohne dich hergekommen."
Ich wische mir mit meinem Ärmel über die Stirn und setze mich einfach kurzerhand neben ihn auf den Boden, denn ich hab keine Ahnung, was ich sonst machen soll. Elliot ist offensichtlich betrunken. Kein Wunder, dass er sitzt. Er kann wahrscheinlich gar nicht mehr stehen.
„Das kann ich sehen", lache ich freudlos. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und starre nach oben in den Nachthimmel. Von unten höre ich die Musik dröhnen und Stimmen und Gelächter aus dem Garten wehen zu uns herauf. Es ist so laut, dass ich Elliot fast nicht verstanden hätte.
„Ich hätte dich heute fast geschlagen."
Ich schaue Elliot von der Seite an, er schaut nur mit einem abwesenden Blick geradeaus, als könnte er dort was sehen, was ich nicht sehen kann. Er sieht fertig aus. Verschwitzt und nach Alkohol und Gras stinkend, Wangen gerötet und seine Locken verknotet. Seine weißen Schuhe sind auch komplett dreckig. Als wäre er damit durch den Wald gelaufen.
„Du meinst gestern", antworte ich, mein rechter Mundwinkel zuckt kurz nach oben.
Ich spüre Elliots Schulter an meiner vibrieren, als er lacht. Ich habe bis zu diesem Moment nicht mal bemerkt, wie nah ich mich neben ihn gesetzt habe. Oder ist er näher gekommen?
„Wieso musst du eigentlich immer alles besser wissen?" Er hat das in einem anklagendem Ton gesagt, aber irgendwie weiß ich, dass er das nicht wirklich schlimm findet. Er hat's einfach nur bemerkt und gesagt. Wie so andere Sachen die Leute bemerken und sagen, wenn sie betrunken sind. Betrunkene Menschen sind manchmal schmerzhaft ehrlich.
Ich lache leise, Elliot lehnt seinen Hinterkopf wieder an das Geländer und schließt die Augen, die Spur eines Lächelns auf seinen Lippen. Er sieht gerade so entspannt aus, dass ich ihn eigentlich gar nicht stören will.
Aber dann realisiere ich, was er eigentlich gerade gesagt hat und ich werde wieder ernst. „Warum hast du mich nicht geschlagen?"
Ich weiß genau, wann dieser Moment war. Ich hab's in seinem Blick gesehen, im Diner. Es war der selbe Blick gewesen, wie kurz bevor er mich das erste Mal geschlagen hat. Ehrlich gesagt war ich sogar ein bisschen überrascht darüber, dass er sich diesmal zurückgehalten hat.
„Warum?", wiederholt er, sein Adamsapfel geht auf und ab, als er schluckt. „Ich wollte dir dein hübsches Gesicht nicht ruinieren."
Schmerzhaft ehrlich. Schmerzhaft ehrlich. Schmerzhaft ehrlich.
Ich halte meinen Atem an und zähle innerlich bis fünf, bevor ich wieder ausatme. Das hat Onkel Rafael Fonda immer gesagt, wenn ihr alles zu viel wurde. Schließe die Augen, halte die Luft an und zähle bis fünf. Uno... Dos... Tres... Cuatro.... Cinco. Und jetzt langsam ausatmen. Öffne die Augen. Siehst du? Jetzt sieht die Welt schon wieder ganz anders aus, niño.
Ich öffne die Augen, aber die Welt sieht nicht anders aus. Elliot und ich sitzen immer noch auf dem Balkon, die Musik und das Geschrei und Gelächter der Leute ist immer noch bis hier oben zu hören und mein Herz rast immer noch im selben, ungesunden Tempo in meiner Brust.
Ich räuspere mich. Ich bin schon viel zu lange still. "Hübsch, huh?", versuche ich die Stimmung mit einem unbeholfenen Lachen aufzulockern, aber das bewirkt eher das Gegenteil. Selbst ich kann hören, wie anders sich meine Stimme plötzlich anhört.
„Hübsch?", echot Elliot so abwertend, dass mir klar wird, dass das nicht ernst gemeint war. Und natürlich war das nicht ernst gemeint. Wieso sollte Elliot das auch ernst meinen? Und selbst wenn, was sollte das schon bedeuten? Es wäre keine große Sache.
„Hast du mal in den Spiegel geguckt?", redet er plötzlich weiter, als wäre er nicht gerade einfach mindestens zwei Minuten lang still geblieben. "Du siehst aus, wie'n fucking Gemälde. Als hätte Da Vinci höchstpersönlich dich gemalt. Du bist dafür gemacht, von der ganzen Welt angestarrt zu werden." Elliot hält plötzlich inne, die Stirn gerunzelt, als wäre er sich bewusst, was er da eigentlich gerade redet. Er leckt sich über die Unterlippe und starrt auf den Boden zwischen seinen Füßen. „Was ziemlich scheiße sein muss, wenn ich so drüber nachdenke. Würd mich ankotzen, wenn ich du wäre", fügt er leise hinzu.
Ich schaue ihn von der Seite an, das erste Mal in meinem Leben wirklich sprachlos. Der Mond am Himmel spendet genug Licht, dass Elliots Wimpern Schatten auf seine definierten Wangenknochen werfen. Sie sehen in dem Licht ein bisschen aus, wie ganz viele kleine Spinnenbeine. Wenn er nur wüsste, dass er selbst ein Ebenbild des Erzengel Gabriels ist. So ein unmenschlich schönes, feines, unschuldiges Gesicht, und doch so unbarmherzig und grausam.
Aber das kann ich ihm nicht sagen. Wahrscheinlich würde er mich dafür auslachen.
Während ich ihn aus dem Augenwinkel beobachte, fällt mir auf, wie er sich die Seite hält. Erst denke ich mir nichts dabei, aber dann sehe ich, wie sich sein Gesichtsausdruck verändert.
„Alles okay?", frage ich, meine Stimme etwas heiser.
Elliot starrt mich an, als hätte er mich jetzt erst richtig bemerkt. „Huh?", blinzelt er, eine blonde Locke fällt ihm über die Stirn. Dann folgt er meinem Blick mit seinem eigenen. „Achso, ich hab mir gerade ein Tattoo stechen lassen." Seine Worte sind zwar klar, aber seine Stimme verrät, wie betrunken er eigentlich noch ist.
Die merkwürdige Stimmung von gerade eben ist vorbei und ich bin erleichtert. Das ist der Elliot, den ich kenne und mit dem ich umgehen kann. Den anderen Elliot kenne ich nicht und ich bin mir auch ziemlich sicher, dass ich das nicht ändern will.
„Du hast was?", sage ich erstaunt, als mein Gehirn seine Worte richtig verarbeitet hat.
Elliot zuckt bloß mit den Schultern, als wär's keine große Sache. „Da war so'n Typ, der ein bisschen üben wollte."
Ich öffne den Mund und schließe ihn wieder, denn ich hab ehrlich gesagt keine Ahnung, was ich dazu sagen soll.
„Willst du's sehen?", fragt Elliot plötzlich und bevor ich was sagen kann, zieht er sein T-Shirt hoch.
Das Licht des Mondes reicht, damit ich die schwarze Tinte unter seiner leicht gebräunten Haut sehen kann. Es ist ein kleines Kreuz, nicht größer als mein Daumen, zwischen zwei Rippen. Die Haut ist an der Stelle gerötet und hebt sich leicht vom Rest der Haut ab. Es sieht überraschend sauber gestochen aus. Keine unförmigen, schiefen Linien, keine Unebenheiten. Es sieht gut aus. Aber das sage ich ihm nicht.
„Du bist verrückt", wende ich den Blick von Elliots Oberkörper ab und schüttle den Kopf. Wer lässt sich auf einer Party von irgendwelchen fremden, besoffenen Leuten ein Tattoo stechen?
Die Antwort sitzt anscheinend neben mir. Und er ist merkwürdig still geworden, wie ich gerade bemerke. Das ist nämlich die Sache mit Stillen. Es sind zwar Stillen und Stillen sollten eigentlich still sein, aber das sind sie nicht. Stillen sind gefüllt mit Emotionen und unausgesprochenen Worten und manchmal kann man diese Emotionen und unausgesprochenen Worte fühlen, so als würden sie in der Luft hängen und darauf warten, gepflückt zu werden. Wie eine unreife Frucht. Denn wäre sie reif, würde sie nicht mehr am Baum hängen, sondern schon unten auf dem Boden liegen. Wie mit unausgesprochenen Worten. Wären sie reif, müsste man sie nicht aus der Stille pflücken, sondern sie würden schon auf dich hinunterprasseln.
Und das hier ist eine merkwürdige Stille, denn ich kann die Emotionen in der Stille nicht zuordnen und das macht mir ein bisschen Angst.
„Willst du was wirklich Verrücktes sehen?", unterbricht Elliot endlich die Stille. Sein Ton ist merkwürdig flach und ich kann den Ausdruck in seinem Gesicht nicht identifizieren.
"Was?", frage ich, mein Mund trocken.
"Umarm mich."
Mein Kopf dreht sich. „Was?"
Bevor ich noch was anderes sagen kann, greift er plötzlich ohne Vorwarnung nach dem Kragen meines T-Shirts und zieht mich zu sich heran. Im nächsten Moment spüre ich seine Arme um meinen Nacken, sein Gesicht in meiner Halsgrube, seinen unregelmäßigen Atem auf meiner Haut. Ich kann sein Herz in seinem Brustkorb schlagen spüren. Oder ist das meins? Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.
Ich zögere einen Moment lang, bin komplett überfordert, und dann höre ich ihn ganz leise "Bitte" wispern und das ist alles, was er tun muss, damit ich meine Augen schließe und meine Arme um seinen Oberkörper schlinge, sein Körper warm gegen meinem.
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