27
ELLIOT
Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll, als sich Chico in der Cafeteria plötzlich zu mir setzt. Normalerweise sitzt sonst niemand neben mir. Nicht, weil andere Leute nicht neben mir sitzen wollen, sondern weil ich es nicht will. Andere Leute nerven mich und ich will meine Ruhe haben. Das wissen eigentlich alle, deswegen werde ich auch von allen Seiten angestarrt, als Chico plötzlich mit an meinem Tisch sitzt. Die Blicke vom Lacrosseteam sind mit am schwersten.
„Was hast du gleich für Unterricht?", fragt Chico normal, als ob er sich nicht bewusst wäre, dass das hier gerade verdammt komisch ist.
„Small Talk?", frage ich mit Blick auf meinem Essen. Ich hasse das Essen hier. Aber ich hab Hunger. „Was wird das hier?"
„Vergiss es. Das ist ekelhaft", starrt er auf sein Tablett, dann schaut er mich an. „Lass uns woanders essen gehen."
„Bin dabei", sage ich sofort und schiebe das Tablett von mir.
Wir stehen gleichzeitig auf und verschwinden.
„Das hier ist viel besser", nuschelt Chico mit zufriedenem Blick und beißt in seinen Burger.
Wir sitzen in dem selben Diner wie vor ein paar Tagen, in der selben Ecke. Diesmal ist die Kellnerin aber zu beschäftigt, um uns so vollzulabern. Ich hab ihren Namen schon wieder vergessen.
Ich nicke und ertränke meine Pommes in Ketchup. Wie Clara immer meint: man kann nie genug Ketchup haben. Gleiches Prinzip gilt für Käse und Salz. Das hier ist wirklich tausendmal besser als diese unidentifizierbare Pampe in der Cafeteria.
„Wann holst du mich heute ab?", frage ich nach einer Weile.
Chico meinte zwar in der Nacht noch, dass er eigentlich was mit jemand anderen vorhatte, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich heute nicht alleine auf diese Studentenparty gehen werde. Ziemlich sicher.
„Um zehn?"
Ich starre ihn an, die Pommes auf halben Weg zu meinem Mund. Zehn? „Zu früh."
„Zu früh? Fangen da nicht die meisten Parties an?"
„Das, Fernández, ist genau das Problem", sage ich. Ich lehne mich zurück und schaue ihn so lange an, bis es ihm unangenehm wird und er wegschaut. „Um zehn ist noch keiner besoffen. Um zwölf fängt der Spaß erst richtig an."
„Ich dachte eigentlich, wir befragen diesen Sammy einfach und verschwinden dann?"
„Und lassen uns die Party entgehen? Wenn wir schon da sind, können wir auch mitfeiern."
Chico sieht nicht begeistert aus und ich verstehe nicht, wieso. Er ist doch derjenige von uns, der im Lacrosseteam spielt und jedes Wochenende auf irgendeiner Hausparty hockt. Was ist da eine mehr? Er legt den Burger auf den Teller, wischt sich seine Hände an einer Serviette ab und seufzt.
„Ich weiß nicht, ich dachte eigentlich, du bist nicht so der Typ für Parties. Und außerdem kann ich eh nichts trinken, ich muss fahren."
Chico hat recht, bin ich nicht. Aber jetzt gerade finde ich den Gedanken nicht schlecht, mich mal wieder richtig abfüllen zu lassen. Wenn er nicht dabei ist, okay. Dann mach ich's alleine. Er schaut bloß aus dem Fenster, als ich ihm genau das sage. Eine ganze Weile lang bekomme ich keine Reaktion von ihm, nicht mal einen Blick. Ich beginne mich langsam zu fragen, ob das wirklich so eine gute Idee war. Und das ist komisch, weil normalerweise mach ich immer einfach das, was ich will, scheißegal, was andere Leute denken.
Ich schiebe meinen Teller von mir, lege meine Ellbogen auf den Tisch und beuge mich leicht vor. Ich hoffe, mein Blick ist eindringlich. Das soll er nämlich sein. „Hör zu, wenn du keine Lust hast, geh ich da heute halt alleine hin. Mir ist das egal." Und das ist es wirklich. Glaube ich. Ich weiß es nicht. Ist es mir egal? Ich ärgere mich über meine eigenen Gedanken.
Chico seufzt wieder. Das ist wie mit seinem Kopfschütteln. Er schüttelt immer nur den Kopf und seufzt. Seine eisblauen Augen begegnen meinen. „Ich lass dich da nicht alleine hingehen. Aber ich will auch nicht, dass du trinkst."
Ich bin so überrascht, dass ich einen Moment lang die Kontrolle über meine Körpersprache verliere und ich hasse es. Die Überraschung muss mir so krass im Gesicht stehen, dass nicht mal Chico das übersehen kann. „Was? Warum?", blinzle ich.
Er zögert. Es ist nur kurz, vielleicht den Bruchteil einer Sekunde lang, aber ich hab's gesehen. Er seufzt wieder. „Weil ich weiß, warum du das machst. Das Ganze hier-", er zeigt mit seinem Zeigefinger um sich herum, „wird dir zu viel. Das heute Abend ist dein Ventil. Und das ist nicht gut, Elliot." Chico schaut mich an, seine Augen behütet.
Es ist nicht mal das, was er gesagt hat, was dazu führt, dass ich meine Tasche nehme und aufstehe. Was er gesagt hat, kann mir völlig am Arsch vorbeigehen, er kann von mir denken, was er will. Nein, es ist, wie er meinen Namen betont hat. So anders. Ganz anders. Ich kann's nicht erklären, aber das ist es, was mir zu viel wird.
Ich schmeiße einen 10er auf den Tisch, Chico wird blass. „Bist du um zwölf nicht da, geh ich alleine hin."
Ich drehe mich um und gehe, Chico kommt mir nicht hinterher. Gut. Ich glaube, wenn er es getan hätte, hätte ich ihn nochmal geschlagen. Und das wäre schade, denn er hat eigentlich ein ganz hübsches Gesicht.
„Du gehst heute feiern? Das ist so unfair", beschwert sich Fonda mit einem theatralischen Seufzen, als ich ihr von meinem Vorhaben erzähle. Eigentlich ja eher unserem Vorhaben, wenn man Chico mit einbezieht. Aber den hab ich weggelassen. „Hier passiert echt gar nichts, es ist so langweilig. Und Chico kommt auch immer seltener."
Ich hebe eine Augenbraue, sage aber nichts dazu. Ich frage mich gerade, ob das meine Schuld ist, dass er Fonda nicht mehr so oft besucht, aber meine Gedanken werden unterbrochen, als Fonda plötzlich aufkeucht. „Doch, heute ist was passiert!" Ich weiß nicht, ob ihre leuchtenden Augen jetzt was positives oder negatives bedeuten. Beides.
„Kennst du Daisy?"
„Die Verrückte?" Meine Augenbraue ist immer noch oben.
Fonda schenkt mir einen verurteilenden Blick. „Sind wir das nicht alle?"
Ich zucke mit den Schultern. Kann schon sein. Aber dieses Mädchen ist nochmal ein ganz anderes Level. Als ich hier neu war, war sie in meiner Gruppentherapie. Nach nicht mal drei Tagen hat sie mir vor versammelter Mannschaft in der Mensa eine Liebeserklärung gemacht, mit Gedicht und allem drum und dran. Ich krieg immer noch eine Gänsehaut, wenn ich daran denke. Als ich dann meinte, dass ich schwul bin, ist sie komplett ausgerastet, ist über Stühle und Tische geklettert und hat herumgeschrien. Sie hat mich sogar mit einem Teller abgeworfen. Wären meine Reflexe nicht so gut, hätte ich jetzt wahrscheinlich eine fette Narbe auf der Stirn. Es war das erste Mal, dass ich gesehen habe, wie Pfleger eingegriffen und jemanden mit einer Spritze ein Neuroleptikum injiziert haben. Das Mädchen war sofort still. Bewusstlos. Ganz komisch. Danach war sie plötzlich nicht mehr in meiner Gruppentherapie und ich hab sie auch nie wieder gesehen.
„Was ist mit der?", frage ich, weil ich's wissen will.
„Sie hat sich heute seelenruhig mitten in der Mensa mit einem Messer den Arm aufgeschnitten. Und du weißt, wie stumpf die Messer hier sind. Ich will nicht wissen, wie weh das getan haben muss", erzählt sie, ihre Stimme schon fast bewundernd, „Irgendjemand meinte, dass ihr Stimmen befohlen haben, das zu machen. Wie krank ist das?"
Schön. Gut, dass ich mir das nicht mitanschauen musste. „Ich glaube, sie ist schizophren", sage ich bloß.
Ich will mich nicht über Daisy lustig machen, Schizophrenie ist eine ernstzunehmende Krankheit. Wie man sieht. Aber für Leute, die nicht verstehen, was in ihrem Kopf vorgeht (und ich bezweifle, dass das irgendjemand wirklich kann) mag ihre ein oder andere Aktion vielleicht lustig erscheinen. Ich findˋs jedenfalls nicht lustig. Es muss beschissen sein, wenn man nicht mal mehr Herr über seine eigenen Gedanken ist. Als ob noch jemand anderes in dir wohnen würde, der langsam aber sicher versucht, dich aus deinem eigenen Körper zu drängen. Ich erschaudere unfreiwillig. Normalerweise macht mir sowas nicht viel aus, aber das ist schon echt übel.
Ich schaue Fonda an. Mir fällt auf, dass ich sie nie gefragt habe, warum sie eigentlich hier ist. Nicht, dass das wichtig ist, aber ich würdˋs gerade schon echt gerne wissen. Drogen können nicht das einzige Problem gewesen sein. Dafür landet man höchstens in einer Entzugsklinik, aber nicht in einer Psychiatrie. Es interessiert mich, aber ich frage nicht.
Wenn ich hier eins gelernt habe, dann, dass man Leute nicht danach fragt, warum sie hier sind.
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