25
ELLIOT
„Olivia, Cara, Jo, Keith, Leo, Hunter, Sammy, Irina, Danielle, Jem, Pickford", liest Chico meine Liste vor. Wir sitzen draußen, auf den Tribünen des Lacrossefeldes. Chico hat gerade sein Training beendet und hat sich nicht mal umgezogen, bevor er zu mir hochgeklettert ist. Er stinkt. Nach Schweiß und was weiß ich nicht was.
„Bist du dir sicher, dass das alle Namen sind, an die du dich erinnern kannst?"
„Ja", antworte ich genervt. Nimmt er mich überhaupt ernst? Denn es sieht nicht so aus, als würde er das tun. Er starrt unzufrieden auf meine Liste. Ich bin kurz davor ihm das blöde Stück Papier aus den Händen zu nehmen und es in Tausend kleine Teile zu zerreißen.
„Was ist mit Nachnamen?", hakt Chico nach.
„Woher soll ich wissen, wie die alle mit Nachnamen heißen?"
„Ist Jo sein richtiger Name?"
„Ihr richtiger Name. Keine Ahnung."
„Und du kannst mir nicht erzählen, dass der Typ wirklich Pickford heißt."
„Sein Nachname. Alle nennen ihn so."
„Vorname?"
„Keine Ahnung", knurre ich durch zusammengebissene Zähne. Er lässt mich fühlen, als hätte ich gestern komplett umsonst die ganze Nacht wachgelegen, während ich versucht habe, mich an die Namen von Claras engsten Freunden zu erinnern. Mich haben ihre Freunde nie wirklich interessiert. Sie hatte ein anderes Leben außerhalb der Familie, eines, von dem ich kein Teil war. Sie kann auch noch zwanzig andere Freunde gehabt haben, von denen ich nichts weiß.
„Also ist das hier alles, was wir haben?", fragt er und er klingt nicht begeistert.
„Kannst du lesen?"
Chico ignoriert mich und schaut nachdenklich auf die Liste. Dann schüttelt er den Kopf. „Sorry Whitham, aber das reicht nicht. Damit kann ich nicht viel anfangen."
„Nicht mein Problem. Ich hab gemacht, was du wolltest."
„Nicht dein Problem? Es geht hier um deine Schwester, nicht um meine! Du wolltest, dass ich dir helfe, also lass mich dir auch verdammt nochmal helfen", fährt er mich an, seine eisblauen Augen blitzen. Er ist wütend? Warum ist er jetzt wütend? Ich lasse ihn nicht wie den letzten Idioten dastehen. Er ist es, der mich wütend macht. Er hat kein Recht, so zu fühlen.
Ich reiße ihm die Liste aus den Händen und stehe auf. „Vergiss es. Ich mach alleine weiter."
Das ist gelogen. Ohne Chico mach ich nicht weiter. Ich hab keinen Grund, weiterzumachen. Er ist derjenige, der unbedingt beweisen will, dass das alles nicht meine Schuld war. Er ist der einzige, der daran glaubt. Ich tue es nicht. Ich weiß, was passiert ist, ich muss die Wahrheit nicht rausfinden.
Für immer Albträume? Nie wieder richtig lachen? Damit kann ich leben.
„Das ist lächerlich!", ruft Chico mir hinterher, als ich die Tribünen runterlaufe. „Das ist so- Oh mein Gott", unterbricht er sich plötzlich selbst, als wäre ihm ein Licht aufgegangen. „Oh mein Gott, Elliot!" Er klingt auf einmal so aufgeregt, dass ich nicht anders kann, als mich umzudrehen. „Gib mir die Liste! Ich weiß, wie wir die vollständigen Namen rauskriegen können." Chicos Gesicht leuchtet fast vor Stolz und ich bilde mir einen Moment lang ein, davon geblendet zu sein. Deswegen kann ich ihm gerade nicht ins Gesicht schauen.
Angezogen von der Aufregung in seiner Stimme, laufe ich widerwillig wieder zurück und lasse die Liste in seinem Schoß fallen, das Papier zu einem Ball zerknüllt. Ich hab nicht mal bemerkt, dass ich das gemacht habe. Komisch.
„Hast du das Jahrbuch deiner Schwester noch?"
Noch. Das hört sich an, als hätten wir nach ihrem Tod einfach alle Sachen weggeschmissen.
„Ich weiß, was du vorhast", sage ich stattdessen. Im Abschlussbuch meiner Schwester müssten alle vollständigen Namen mit Bildern zu finden sein. Selbst wenn ich die Namen nicht weiß, kann ich sie immer noch anhand der Bilder erkennen. Ich muss zugeben, das ist keine schlechte Idee. Hätte von mir kommen können.
Es gibt nur ein Problem. Ich weiß, dass wir das Buch zuhause haben. Aber es liegt in Claras Zimmer. Und es gibt absolut keine Chance, dass ich da reingehe und es raushole. Im Leben nicht. Nicht mal, wenn man mir eine Pistole an den Kopf halten würde. „Aber ich hab's nicht", lüge ich.
Chicos Schultern sacken fast schon enttäuscht zusammen. Die Aufregung verschwindet aus seinen Augen. Er starrt nachdenklich auf die Liste.
„Ich glaube nicht, dass ich jemanden kenne, der-" Er hält mitten im Satz inne, sein Kopf schießt hoch. Ein triumphierendes Lächeln liegt auf seinen Lippen. „Warte hier", befiehlt er und bevor ich was sagen kann, springt er die Tribünen herunter und rennt quer über das Feld, Richtung Schulgebäude.
Diesmal hab ich keine Ahnung, was er vor hat. Und das stört mich, wie ich feststellen muss. Ich mag's nicht, Dinge nicht zu wissen. Das gibt mir ein ungutes Gefühl.
Ich lehne mich auf meinen Händen zurück und warte. Und warte. Die Sonne knallt mit Hitze auf die Tribünen, das Holz unter meinen Händen ist heiß.
Chicos Punktestand liegt momentan bei einer soliden minus drei. Ab und zu hab ich ein paar Pluspunkte raufgerechnet, zum Beispiel, als er mich in der Nacht der Party im Loch zurückgebracht hat. Wenn er sich nicht langsam beeilt, sieht's wieder kritischer für ihn aus.
Gerade als ich das denke, vibriert mein Handy in meiner Hosentasche. Ich hole es raus, Chicos Name blitzt über den Sperrbildschirm. Er hat mir geschrieben.
Komm zum Parkplatz
Und gleich danach: Beeil dich
Warum genau sollte ich jetzt hier warten? Ich verdrehe die Augen, stecke mein Handy wieder in meine Hosentasche und lasse mir extra Zeit, zurück zum Parkplatz zu laufen.
War der Rasen eigentlich schon immer so grün?
„Hätte ich geschrieben, du kannst dir ruhig Zeit lassen, wärst du dann schneller gekommen?", fragt Chico, seine rechte Augenbraue genervt gehoben, als ich am Parkplatz ankomme. Wie macht der das eigentlich? Ich kann nur meine linke Augenbraue hochziehen.
„Wer weiß", zucke ich mit den Schultern.
Chico steht vor seinem Auto - Black Jack - und in seiner Hand hält er ein Buch, das aber nicht wirklich aussieht wie ein Buch. Eher wie ein Katalog. Bevor ich was dazu sagen kann, wirft er mir das Buch zu. Ich fange es auf und starre einen Moment lang auf das Cover. Ich kenne das Buch. Es ist das Jahrbuch aus dem letzten Schuljahr. Aus Claras letztem Schuljahr.
„Wo hast du das her?", frage ich monoton, ohne ihn anzuschauen.
„Eine Freundin von mir schreibt Artikel für das Jahrbuch. Sie hatte noch ein paar Ausgaben davon in der Schule rumliegen."
„Eine Freundin?" Diesmal hebe ich den Kopf. Ich wollte ihn damit in Bedrängnis bringen, wollte, dass meine Frage ihm unangenehm ist. Aber er lässt sich gar nicht darauf ein.
„Sasha", antwortet er bloß, „Wir spielen zusammen Lacrosse."
„Huh", murmle ich unter meinen Atem. Ich hab keine Ahnung wer das ist.
„Hast du Bock auf Chinesisch?"
Seine Frage überrumpelt mich komplett. „Chinesisch? Was soll mir denn Chinesisch hierbei helfen?"
Chicos Lippen heben sich zu einem Schmunzeln, seine hellen Augen glitzern amüsiert. Mein Mund wird trocken. „Ich meinte Essen", lacht er. „Hast du Lust auf chinesisches Essen?"
Ich fühle mich komisch. Ich kann das gar nicht richtig erklären, aber ich fühle mich, als würde eine riesige Welle auf mich runterkrachen. Ich erschaudere unfreiwillig und zwinge mich zu einem halben Schmunzeln, um mein Unwohlsein zu verstecken. „Kann ich fahren?"
„Im Leben nicht."
Wenig später sitzen wir bei mir zu Hause in meinem Zimmer, Apollo und Chico auf meinem Bett, asiatische Nudelboxen und Stäbchen auf meinem Schreibtisch verteilt. Ich stehe auf meinem Balkon, lasse die Zigarette zwischen meinen Fingern abbrennen und schaue Chico dabei zu, wie er das Jahrbuch durchsucht.
Er passt da irgendwie nicht rein. In mein Zimmer, meine ich. Auf meinem Bett.
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal jemanden in meinem Zimmer hatte, der nicht meine Schwester war.
In meinem Zimmer ist alles weiß. Die Wände, die Möbel, selbst meine Bettwäsche. Und Chico mit seinen schwarzen Haaren und seiner milchkaffeefarbenen Haut steht im seltsamen Kontrast zu dem Rest meines Zimmers. Nur seine Augen nicht. Seine Augen sind wie der Himmel zu meinen Wolken.
Ich schnipse den Zigarettenstummel über das Geländer und gehe wieder rein.
Apollo schaut kurz auf, bewegt seinen fetten Körper aber nicht vom Bett runter. Drecksack.
„Hier", sagt Chico ohne aufzuschauen und zeigt auf ein Bild von einem Mädchen. „Ist das Jo?"
Ich beuge mich über Apollo rüber und werfe einen Blick auf die Seite. Das Bild ist von einem blonden Mädchen, lange Haare, strahlend weißes Lächeln und Grübchen. Sie hat einen Piercing im rechten Nasenflügel.
Ich lasse mich in meinen Schreibtischstuhl fallen. „Das ist Jo", bestätige ich.
„Joanne Hauxley", murmelt Chico und schreibt sich den Namen auf. Ich schiele kurz rüber auf seinen Block. Er hat eine ziemlich unordentliche Schrift, aber wenn man genauer hinschaut, ist sie gar nicht so unordentlich. Die Form der Buchstaben ist immer gleich - die Kurve vom kleinen E, der Strich zwischen dem großen H, der über den Rahmen des Buchstaben hinausgeht.
Bis jetzt stehen drei Namen auf seiner Liste:
Olivia Kingsley, Cara Murray und seit drei Sekunden Joanne Hauxley.
Das ist nicht viel.
„Jo ist hiergeblieben", sage ich in die Stille. Ich schaue kurz in die Nudelboxen und sehe, dass Chico nicht aufgegessen hat. Sein Pech, denke ich mir und schiebe mir eine Portion davon in den Mund. Sie sind schon fast kalt, aber schmecken tun sie trotzdem.
„Du meinst hier in der Stadt?", fragt Chico und schaut auf. Er kneift seine Augen leicht zusammen, als er sieht, wie ich seine Nudeln aufesse, sagt aber nichts dazu.
Ich nicke. „Sie arbeitet im Annie's Lap."
Chico reißt die Augen auf, seine Augen noch heller als sonst. „Ist das nicht ein Stripclub?"
Ich muss grinsen. Ich weiß genau, was er denkt. „Sie arbeitet als Barkeeperin."
„Oh." Chicos Wangen verfärben sich leicht rosa und er ist plötzlich viel zu sehr damit beschäftigt, durch das Jahrbuch zu blättern, als mich anzuschauen.
Es überrascht mich ein bisschen, wie unschuldig er manchmal ist. Vielleicht hat das was mit seiner Familie zutun. Sind Mexikaner nicht überreligiös? Aber er ist kein Mexikaner, fällt mir dann ein. Komisch.
„Dann wissen wir ja, wo wir anfangen können", sagt Chico nach einer Weile und krault Apollo nachdenklich hinterm Ohr.
„Auf in den Stripclub", sage ich sarkastisch.
„Glaubst du, die lassen uns da rein?", fragt er und hält in seiner Bewegung inne. Apollo schaut anklagend zu ihm auf. „Wir sind noch nicht 21. Und wir sehen auch nicht aus, wie 21."
„Ich hab das eigentlich nicht ernstgemeint", antworte ich trocken. Ich schaue enttäuscht in die Box. Die Nudeln sind leer. „Aber wenn du da unbedingt reinwillst, kann ich dir 'nen gefälschten Ausweis besorgen."
„Du kannst Ausweise fälschen?", fragt Chico, seine Augen groß.
„Nein", antworte ich stumpf. „Aber ich kenne Leute, die das können." Meiner rechter Mundwinkel zuckt nach oben.
Chico verdreht die Augen. „Ich glaube, ich will gar nicht wissen, wer diese Leute sind", murmelt er und wendet sich wieder dem Jahrbuch zu. Seine schwarzen Haare fallen ihm über die Stirn, verheddern sich in seinen langen Wimpern. Er blinzelt abwesend, als würde er das gar nicht bemerken und ich schaue weg.
Er hat schon echt lange Wimpern. Wie ein Mädchen.
Ich muss daran denken, wie Chico mich gestern im Diner angeschaut hat. Ich hab genau gesehen, wie sein Blick über meinen Körper gewandert ist, über mein Gesicht. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er das überhaupt bemerkt hat. Ich frage mich, ob er Leute immer so anschaut.
„Wir können sie nach der Arbeit abfangen", sage ich, als mir der Gedanke kommt.
„Heute?" Chicos Stirn ist gerunzelt.
„Hast du was anderes vor?"
Chicos Blick wandert kurz über mein Gesicht, bleibt dann an meinen Augen hängen. Sein Blick ist unangenehm. Ich kann nicht beschreiben wieso, aber er ist es.
„Nein", schüttelt er dann den Kopf. „Hab ich nicht."
Erst spüre ich etwas, das ich Sekunden später erst als Erleichterung identifizieren kann. Und dann wird das Gefühl von einem anderen, unangenehmeren Gefühl überschattet. Wieso bin ich erleichtert?
Minus eins, denke ich mir. Ich weiß nicht warum, aber das gibt eine minus eins.
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