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CHICO
„Hier verbringst du deine Freizeit? In einer Werkstatt?", fragt Elliot und schaut sich um. „Ich werd dir zu Weihnachten ein Wörterbuch schenken."
„Ein Wörterbuch?", frage ich irritiert und bin kurz abgelenkt von meiner Suche nach Onkel Rafael. Er ist nicht in seinem Büro und in der Werkstatt scheint er auch nicht zu sein. Entweder ist er hinten im Lager oder auf Klo. Wo auch immer er ist, er hat die Schlüssel für Black Jack und die brauche ich.
„Dann kannst du das Wort Freizeit nachschlagen. Das hier ist keine Freizeit. Das ist Arbeit."
Ich verdrehe die Augen. Ich hätte Elliot nicht mit hierher nehmen sollen. „Onkel Rafael!", rufe ich laut, meine Stimme hallt an den Wänden der Werkstatt wider. „¿Dónde estás?" Wo steckt der Kerl? Ich will mein Auto wiederhaben. Vor zwei Tagen habe ich mir endlich die Zeit genommen und Black Jack umlackiert. Der Lack sollte mittlerweile wieder trocken sein. Ich kann's kaum abwarten, die alte Schrottkiste draußen wieder gegen meinen Camaro einzutauschen. Es sind nur zwei Tage gewesen, aber Gott, ich vermisse mein Auto.
„Ich dachte, du sprichst kein Spanisch."
Ich begegne Elliots spottenden Blick. Er steht lässig an einem fremden Wagen gelehnt und ich bin kurz davor ihm zu sagen, dass er da wegkommen soll, bevor der Kunde auftaucht und das sieht, aber ich tue es nicht, weil ich weiß, dass es ihn sowieso nicht interessiert. Wahrscheinlich würde Elliot sogar noch extra seinen Schlüssel rausholen und irgendwas in den Lack einritzen. Einfach, um mich zu provozieren.
„Ich hab gesagt, ich spreche nicht besser Spanisch, als der Spanischkurs im Jahrgang", antworte ich ihm stattdessen.
„Ich hätte das nicht gekonnt."
„Hast du nicht Französisch?"
„Touché." Er hebt seinen rechten Mundwinkel, seine hellbraunen Augen glitzern süffisant.
Ich schüttle den Kopf und schaue weg, um mein Schmunzeln zu verstecken. Elliot kann ganz witzig sein, wenn er will. Aber das bedeutet nicht, dass ich ihn das wissen lasse.
„Chico? Hast du mich gerufen?", ertönt Onkel Rafaels Stimme von hinten aus dem Lager. Endlich.
Ich folge seiner Stimme ins Lager, wo er gerade hinter einem Stapel Reifen auftaucht. „Du hast doch heute frei", begrüßt er mich mit einem Lachen.
„Ich weiß, ich will mein Auto abholen", antworte ich ihm und halte die Hand nach meinen Schlüsseln aus.
Onkel Rafael fässt sich an die Brust und gibt ein dramatisches Seufzen von sich. „Und ich dachte, du hättest mich vermisst..."
Ich muss lachen und fange im selben Moment die Schlüssel auf, die Onkel Rafael mir zuwirft. „Träum weiter."
Sein tiefes Lachen folgt mir bis in die anliegende Garage, in der ich Black Jack abgestellt hatte.
„Woah", haucht Elliot hinter mir. Ich habe für einen kleinen Augenblick vergessen, dass er überhaupt da ist, aber jetzt nehme ich seine Anwesenheit umso mehr wahr. Ich beobachte ihn, wie er mit langsamen Schritten mein neu lackiertes Auto umrundet, in seinen braunen Augen schimmert ein Funken kindlichen Staunens. Ich habe ihn selten so unbehütet gesehen. Normalerweise versteckt er jegliche Emotionen, vorsichtig hinter hohen Mauern eingeschlossen. Aber in diesem Moment ist es, als hätte mein Wagen eine unsichtbare Tür in der Mauer geöffnet. Elliot ist plötzlich viel interessanter als mein Camaro.
„Hast du das gemacht?", fragt er, ohne mich anzuschauen. Er ist zu beschäftigt damit, sich im Seitenspiegel zu betrachten. Zugegeben, der Spiegel war noch nie so sauber wie jetzt.
Ich bejahe seine Frage.
„Das Ding sieht aus wie eins von diesen Hot Wheels Autos, mit denen man früher als Kind gespielt hat."
Egal, wie sehr ich es versuche, ich kann mir Elliot nicht als Kind vorstellen. Was natürlich dumm ist, denn er ist offensichtlich nicht so auf die Welt gekommen, wie er jetzt ist.
„Das Ding hat einen Namen", sage ich.
Elliot schaut von dem Seitenspiegel auf und hebt eine Augenbraue. „Du hast deinem Auto einen Namen gegeben?"
„Fondas Idee", versuche ich wie beiläufig zu sagen, als wäre es keine große Sache. Aber selbst in meinen Ohren hört sich das nach einer Verteidigung an.
„Ist es eine Sie oder ein Er?", fragt Elliot, als wäre es wirklich keine große Sache. Ich frage mich gerade, ob er seinen Autos auch Namen gibt. Aber dann fällt mir wieder ein, dass er kein Auto hat. Sonst wären wir jetzt nicht hier.
„Ein Er. Black Jack. Aber mein Onkel sagt, es ist eine Sie und hat ihn Betty getauft."
„Betty", schnaubt Elliot.
„Ich weiß", verdrehe ich die Augen. Als Elliot nicht mehr antwortet, drehe ich ihm und Black Jack den Rücken zu, um meine Sachen zusammenzukramen, die ich vor dem Lackieren vorsichtshalber aus dem Auto genommen habe. Als ich mich wieder umdrehe, ist Elliots Zeigefinger dem frischen Lack gefährlich nah.
„Hey, ich weiß nicht ob der Lack schon ganz trocken ist, also nicht-"
Elliot berührt den Wagen.
„...anfassen", beende ich meinen Satz stumpf.
„Oops", sagt Elliot trocken.
Ich lasse meine Sachen wütend wieder auf die Werkbank fallen und laufe zu ihm herüber. Das kann nicht sein. Hat er eine Ahnung, wie lange ich dafür gebraucht habe? Wie verdammt schwer es ist, den roten Lack so gleichmäßig und unbeschadet aufzutragen?
Elliot geht mir aus dem Weg und ich bücke mich, um die Stelle zu betrachten. Natürlich ist dort sein Fingerabdruck zu sehen. Natürlich. Nicht sehr doll, nur ganz leicht und man merkt es eher, wenn man mit den Fingern darüber fährt, als dass man es sieht, aber trotzdem.
Black Jack hat jetzt Elliots Fingerabdruck in seinem Lack.
Ich denke kurz darüber nach, die eine Stelle mit neuem Lack überzusprühen, entscheide mich dann aber dagegen. Das würde alles nur noch schlimmer machen und ich müsste noch länger warten, bis der Lack trocken ist.
Ich schaue zu Elliot auf, der mich schon emotionslos anschaut. Ich öffne den Mund um ihn zusammenzuscheißen, aber dann besinne ich mich eines Besseren und schließe ihn wieder. Es wird ihn sowieso nicht interessieren. Stattdessen stehe ich wortlos auf, sammle die Sachen von der Werkbank ein und räume sie wieder in meinen Wagen. Ich versuche dabei möglichst wenig die Karosserie anzufassen, weil ich nicht noch einen Fingerabdruck im Lack haben will. All das passiert in Stille.
„Du bist wütend."
„Huh?" Ich schaue von der Fahrerseite auf, Elliot schaut mich mit schiefgelegtem Kopf an, als würde er nicht ganz verstehen, warum ich wütend bin. Aber als ich ihn da so stehen sehe, bin ich nicht mehr wütend. Ich weiß nicht warum, aber ich bin es nicht mehr.
„Bist du nicht?" Jetzt sieht er verwirrt aus. Wie ein kleines Kind, das Emotionen noch nicht ganz einschätzen kann.
Ich muss lachen und sein Gesichtsausdruck wirkt plötzlich mehr genervt als verwirrt. Wahrscheinlich denkt er, ich würde ihn auslachen. „Hast du Hunger?", wechsle ich schnell das Thema.
Elliots Gesichtszüge werden wieder weicher. „Nur wenn's Chicken Nuggets gibt."
„Das lässt sich einrichten."
Das Diner ist um diese Uhrzeit fast leer. Kommt wahrscheinlich daher, weil keiner bei diesem Wetter auf die Idee kommt, was Warmes zu essen. Elliot und ich setzen uns etwas weiter hinten in die Sitzecke, die Fonda und ich als unseren Stammplatz deklariert haben. Bevor Fonda in die Klinik gekommen ist, haben wir fast jeden Tag nach der Schule hier gegessen.
Es ist ein eher unbekanntes kleines Diner, eingerichtet im 50er-Jahre Stil mit roten Sitzbänken, deren Kunstleder schon an allen Ecken abblättert. An den Wänden hängen Retroschilder mit Werbung für Coke, verschiedene Automarken und diversem Alkohol, von dem ich noch nie gehört habe. Der Boden ist im Schachbrettmuster gefliest und ich muss daran denken, wie Fonda und ich früher ein Spiel daraus gemacht haben, nicht auf die schwarzen Fliesen zu treten. Wer trotzdem raufgetreten ist, musste zahlen. Meistens war ich das, aber nur, weil ich wusste, dass Fonda nicht viel Geld hat und ich sie deswegen extra gewinnen lassen habe. Wenn sie mir vorher auf die Nerven gegangen ist oder wir uns gestritten haben, hab ich sie verlieren lassen. Ich vermisse das ein bisschen, wenn ich so daran zurückdenke.
Anhand Elliots neugierigem Blick kann ich sehen, dass er noch nie hier gewesen ist und das gibt mir einen Schub an Selbstbewusstsein.
„Aye, Chico", strahlt Kelly, die Bedienung, als sie mich sieht. „Wo hast du deine Schwester gelassen?" Sie kommt zu uns herüber und da gerade niemand da ist, den sie bedienen muss, setzt sie sich kurz zu uns.
Kelly ist schon so lange hier, wie Fonda und ich hierherkommen. Anfangs hatte sie den Job hier, um sich nebenbei das College finanzieren zu können, aber dann ist sie schwanger geworden und hat das College geschmissen. Sie hat angefangen, hier Vollzeit zu arbeiten, um sich und ihre Tochter durchfüttern zu können. Vom Vater ihrer Tochter weiß ich nichts. Wahrscheinlich hat er sie beide sitzen lassen.
„Ist mit Freunden unterwegs", beantworte ich ihre Frage. Was natürlich gelogen ist. Manchmal erschrecke ich mich vor mir selber, wenn ich feststelle, wie leicht es mir fällt, Lügen zu erzählen. Aber Kelly weiß nichts von Fonda und ihren Problemen und ich bin mir nicht sicher, ob meine Schwester wollen würde, dass ich das herumerzähle. Ich würd's nicht wollen.
Elliot wirft mir einen Blick zu, aber ich ignoriere ihn.
„Sag ihr mal, sie soll mal wieder vorbeischauen. Ich vermisse es, Pancakes zu machen. Niemand anderes will Pancakes essen, kannst du dir das vorstellen?" Kelly lacht und die hereinscheinende Sonne lässt ihre blondgefärbten Haare glänzen.
„Pancakes sind super", sage ich.
„Erzähl das mal den anderen Kunden." Sie verdreht ihre hellen Augen, aber in ihnen schimmert ein amüsiertes Funkeln. „Also", sagt sie plötzlich lauter und holt Papier und einen Stift aus ihrer roten Schürze hervor. „Was kann ich euch bringen?"
„Chicken Nuggets mit Mayo", sagt Elliot sofort.
Erst in diesem Moment scheint Kelly Elliot zu bemerken. „Oh", gibt sie überrascht von sich, „Du bist aber ein Hübscher. Cooler Ohrring."
Bevor Elliot reagieren kann, senkt sie den Kopf und schreibt seine Bestellung auf. „Chicken Nuggets mit... Mayo?" Sie hebt den Blick von ihrem Papier und schaut Elliot an, als erwarte sie, dass er sie korrigiert (wer isst denn auch Chicken Nuggets mit Mayo?), aber das tut er nicht, er nickt bloß.
„Okay", sagt Kelly mehr zu sich selbst und zieht das ‚O' dabei in die Länge. Dann schaut sie mich an. „Und du wie immer?"
„Wie immer", lächle ich und sie notiert sich etwas, bevor sie wieder aufsteht und uns sagt, dass sie etwa eine Viertelstunde brauchen würde. Danach verschwindet sie in die Küche hinter dem Tresen.
„Du isst Chicken Nuggets mit Mayonnaise?", frage ich, sobald Kelly außer Hörweite ist.
„Was ist falsch daran?"
„Nichts", sage ich schnell, „Ich hab nur noch nie jemanden sowas essen sehen. Ist eine ungewöhnliche Kombination."
„Clara isst immer-" Er bricht den Satz ab und schaut aus dem Fenster. Ich hätte gerne gehört, was seine Schwester immer gegessen hat, aber ihr Name erinnert mich an den Grund, warum wir überhaupt hier sind.
„Apropos", räuspere ich mich und zögere einen Moment lang. Ich will diese unbeschwerte Stimmung um uns herum nicht zerstören. Es ist das erste Mal, dass Elliot und ich uns einigermaßen gut verstehen (wenn man von dem Vorfall mit Black Jack absieht) und ich will das eigentlich noch einen Moment länger genießen. Noch einen kleinen Augenblick. Aber es wäre komisch, wenn ich meinen Satz nicht beenden würde und außerdem muss das Thema so oder so angesprochen werden. Deswegen sind wir hier. „Deine Schwester. Du willst jetzt also doch rausfinden, was passiert ist?"
Ich beobachte Elliots Reaktion vorsichtig. Ich kann genau sehen, wie sich die kleine Tür, die Black Jack geöffnet hat, wieder schließt. Ich kann das Knallen der zufallenden Tür fast hören. Sein Gesichtsausdruck ist plötzlich leergefegt von Emotionen und ich hasse mich einen kleinen Augenblick selbst dafür, das Thema aufgebracht zu haben.
Elliot zuckt mit den Schultern, sein Blick liegt auf dem Salzstreuer, den er zwischen seinen langen Fingern dreht.
Als ich mir sicher bin, dass er nichts anderes sagen wird, rede ich einfach drauf los. "Ich hab mir gedacht, dass wir erstmal alle Personen aufschreiben, an die du dich von dieser Party erinnern kannst. Am besten wären natürlich Leute, die deine Schwester gekannt haben und mit denen sie am meisten zutun hatte. Freunde, Freund oder Ex-Freunde, Leute aus dem Dramaclub... Solche Personen halt. Ich würde sagen, dass wir dann versuchen, die Leute ausfindig zu machen. Wir werden sie zu der Nacht befragen und erstmal alle nützlichen Infos sammeln, danach können wir schauen, wie's weitergeht. Je nachdem, was halt bei der Befragung rausgekommen ist. Was sagst du?"
Elliot dreht den Salzstreuer schneller zwischen seinen Fingern. Es ist eine so flüssige Bewegung, dass ich die Drehungen fast nicht sehe. Wie eine optische Täuschung.
Er hört abrupt auf und schaut mich an. Ich erwidere seinen Blick, auch wenn es mir schwerfällt, nicht wegzuschauen. Elliots Augen sind immer so intensiv, dass ich das Gefühl habe, sie würden mich blenden.
„Was ist mit den Leuten, die weggezogen sind? Die meisten gehen woanders aufs College, teilweise sogar in ganz anderen Staaten."
Darüber habe ich zugegebenermaßen nicht nachgedacht. Aber er hat recht. Wenige Leute bleiben nach der High School hier. Ich überlege kurz.
„Wir könnten versuchen, ihre Handynummern herauszufinden. Oder sie auf Instagram oder so anschreiben."
Als Elliot seine Augenbraue hebt, wird mir klar, dass Elliot kein Instagram nutzt. Ich kann nicht genau sagen warum, aber ich finde es gut. Er ist wahrscheinlich der einzige Teenager in diesem Ort, der kein Instagram hat. Das zeigt wieder, wie anders er teilweise ist.
„Ich kann sie auf Instagram anschreiben", korrigiere ich und ich bin überrascht, als ich Elliot schmunzeln erwische.
„Deal", sagt Elliot und er lehnt sich zurück, verschränkt seine Arme hinter seinem Kopf. Sein T-Shirt rutscht dabei ein Stückchen hoch und mein Blick huscht wie automatisch zu der plötzlich entblößten Haut zwischen Hosenbund und T-Shirt Saum. Er hat Muskeln, stelle ich fest, und seine Haut ist von der Sommersonne leicht gebräunt. Jetzt gerade, mit seinen dunkelblonden Locken, der sonnengebräunten Haut und diesem halben verschmitzten Lächeln im Gesicht, sieht er aus wie einer dieser Bilderbuch Surfer aus Kalifornien. Nur der Ohrring will nicht ganz in das Bild hineinpassen.
Ich bemerke nicht, wie lange ich ihn schon angestarrt habe. Erst als ich wieder hoch in seine braunen Augen blicke und dieses spottende Funkeln entdecke, wird mir bewusst, wie merkwürdig still es geworden ist.
Ich schaue zum Tresen, plötzlich ungeduldig für das Essen. Ich merke, wie meine Wangen warm werden und ich weiß genau, dass Elliot das sehen kann.
Ich hoffe, er denkt jetzt nicht, ich hätte ihn angestarrt, weil ich ihn attraktiv finde. Wobei ich zugeben muss, wäre ich ein Mädchen, wäre mir Elliot sofort aufgefallen. Blöd nur, dass er schwul ist.
Ich bin froh, als ich Kelly endlich entdecke, wie sie mit zwei Tellern auf uns zukommt. Und ich bin froh, dass sie nicht gleich wieder verschwindet, sondern sich einfach zu uns setzt und uns mit Geschichten aus dem College unterhält.
Ab und zu spüre ich Elliots intensiven Blick auf mir, aber ich ignoriere ihn und tue so, als wäre ich voll und ganz auf das Gespräch mit Kelly konzentriert.
Aber hätte mich danach jemand gefragt, worüber Kelly eigentlich geredet hat, hätte ich keine Antwort geben können.
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