23
ELLIOT
Sterne sind was ganz komisches. Sie erinnern mich daran, wie bedeutungslos wir alle sind. Ich fühle mich wie in einer Schneekugel. Wir leben in unserer eigenen kleinen Welt und haben keine Ahnung, dass es eigentlich noch was viel Größeres da draußen gibt. Es geht nicht um uns, das Universum ist nicht für uns da. Es ist einfach nur da. Und wir sind nur winzige Ameisen, nur ein Nebenprodukt, das entstanden ist, weil eine Anordnung von bestimmten Ereignissen und Bedingungen dazu geführt haben. Das Universum würde auch ohne unsere Existenz existieren. Wir würden nicht ohne die Existenz des Universums existieren. Das Universum ist Alles. Wenn ich darüber nachdenke, fühle ich mich so einsam und unwichtig, dass ich mich Frage, was das Ganze hier eigentlich soll. Warum ich eigentlich hier bin. Ich habe keine Bedeutung. Die ganze Menschheit hat keine Bedeutung. Wir sind einfach nur da.
Ziemlich deprimierend.
Clara und ich haben mal darüber nachgedacht, fast eine ganze Nacht lang. Und danach haben wir uns geschworen, nie wieder darüber nachzudenken. Und ganz bestimmt nicht high.
Ich hab den Schwur gebrochen, Clara, denke ich und schaue nach oben in den Nachthimmel. Die Wolken sind weg. Ich sehe nur Satelliten, Sterne und Planeten. Ich denke darüber nach und bin high.
Ich schaue dem dichten Rauch hinterher, bis er sich mit der Luft um mich herum vermischt und verschwindet.
„Alleine high zu sein ist scheiße", erzähle ich Clara. Ich weiß natürlich, dass sie mich nicht hören kann. Sie ist tot. Aber das stört mich nicht, ich fühle mich ihr gerade näher als je zuvor. Komisch sowas. „Alleine zu sein ist scheiße", murmle ich.
Ich denke nach. „Ohne dich zu sein ist scheiße", korrigiere ich mich. Andere Menschen sind mir egal.
Aber das ist nicht wahr. Nicht mehr, zumindest.
Mein Handy klingelt. Ich erschrecke mich so sehr, dass mein Herz rast.
Es ist Fonda.
„Was geht", spreche ich ins Handy und schaue dem Joint beim Abbrennen zu. Pure Verschwendung, eigentlich.
„Deine Stimme hört sich komisch an", sagt Fonda. „Hast du gekifft? Ohne mich?"
„Deine Stimme hört sich komisch an", antworte ich. Sie hört sich wirklich komisch an. Aber ich weiß nicht, ob sie sich wirklich anders anhört oder ob das nur ich bin.
Ich höre Fonda lachen und meine Mundwinkel heben sich automatisch.
„Ich hab auch gekifft", lacht sie unkontrolliert. „Jere war gerade hier."
Dann bin ich wohl doch nicht alleine high.
„Hast du mich deswegen angerufen?" Ich lehne mich an das Geländer von meinem Balkon. Der Joint ist ausgegangen.
„Nein. Ja. Mir war langweilig. Ich kann nicht schlafen."
Mein Hirn braucht eine halbe Ewigkeit, um den Sinn hinter Fondas Worten zu verstehen. Genauso lange brauche ich auch, um zu antworten. „Ich kann auch nicht schlafen."
„Ach was. Erzähl mir einen Fakt."
Das ist so ein Ding zwischen uns geworden. Wenn ich stoned bin, fallen mir die unnötigsten Fakten ein und wir reden manchmal stundenlang darüber. Wahrscheinlich sind es keine Stunden, aber so lange fühlt es sich an.
„Wenn Hunde Marihuana rauchen, sind sie ein Leben lang high."
„Was?", lacht sie laut. „Wieso?"
„Weil die Jahre brauchen, bis die den Stoff abgebaut haben."
„Verrückt."
„Ich weiß." Deswegen haben Clara und ich nie vor Apollo geraucht. Man weiß ja nie.
„Stell dir vor, das würde bei uns so lange dauern."
„Ich weiß nicht, ob ich das gut oder schlecht finden würde." Wahrscheinlich eher schlecht.
„Gut", überlegt Fonda. „Aber auch ein bisschen schlecht. Ich rede immer so langsam."
Ich muss lachen und Fonda lacht mit. Ich brauche lange, bis ich mich wieder eingekriegt habe.
„Aber dann wäre alles lustig. Ich mag lachen."
„Also doch nicht schlecht", sage ich.
Fonda bleibt einen Moment lang still. „Du lachst selten", sagt sie dann.
Ich schaue nach oben in den Nachthimmel. Eine dichte Wolke hat sich vor die Sterne geschoben. „Ich hab nicht viel zum Lachen."
„Du musst dir dein Lachen zurückholen", sagt Fonda simpel. Als hätte mir irgendjemand mein Lachen gestohlen. Als wäre es so einfach.
„Du musst nochmal mit Chico reden", sagt sie, als ich nichts sage.
Ich runzele die Stirn. „Der Themenwechsel ging mir jetzt zu schnell."
„Kein Themenwechsel", widerspricht sie mir. „Du kannst den ganzen Scheiß erst hinter dir lassen, wenn du endlich weißt, was passiert ist. Und dann kannst du wieder lachen."
„Ich weiß, was passiert ist", antworte ich ein bisschen genervt. Ich habe so die Schnauze voll, ständig wieder davon zu reden. Was ist mit den Fernández-Geschwistern, dass sie ständig alles besser wissen wollen? Plötzlich habe ich keine Lust mehr auf das Gespräch.
Ich lege auf, bevor Fonda noch was sagen kann.
Ein paar Sekunden lang starre ich auf mein Display. Ich fühle mich schlecht, obwohl ich das nicht will.
In der Nacht habe ich einen Albtraum. Ich träume von einer durchsichtigen Glaskugel, in der Glaskugel schimmert eine milchig weiße Substanz. Nicht fest, nicht flüssig. Gasförmig. Es ist mein Lachen. Ich kann es hören. Schwarze Schatten sind überall und kicken die Kugel immer weiter auf ein endloses Loch im Boden zu. Die Schatten lachen. Es ist ein Geräusch, das ich nie wieder aus meinem Kopf bekommen werde. Ich will wegrennen, aber ich bin wie paralysiert. Ich kann nichts tun, außer zuzuschauen, wie die Kugel immer weiter in Richtung Loch rollt. Sie wird reinfallen. Sie wird reinfallen und ich weiß, wenn sie einmal reingefallen ist, werde ich sie nie wieder zurückholen können. Mein Lachen wird für immer verschwunden sein. Das Lachen der Schatten wird lauter. Meine Ohren tun weh und ich will hier weg. Ich glaube, ich werde sterben.
„Nein!", höre ich jemanden über das ohrenbetäubende Lachen der Schatten schreien und jemand schießt an mir vorbei. Es ist Chico. Chico.
Ich will ihn warnen, sieht er die Schatten nicht? Ist er dumm? Aber meine Lippen bleiben versiegelt.
Ich kann nur mit Horror zusehen, wie Chico auf das Loch zu rennt. Er wird reinfallen. Er wird reinfallen, genau wie die Kugel reinfallen wird und er wird nie wieder zurückkommen können.
Fonda. Fonda wird das nicht überleben.
Im nächsten Moment renne ich. Ich weiß nicht, wie ich das gemacht habe. Bis gerade eben war ich noch wie paralysiert und jetzt plötzlich fühle ich mich, als könnten mir nicht mal die Schatten was anhaben.
Mein Blick liegt auf der Kugel. Sie ist fast im Loch. Nur noch ein paar Zentimeter trennt sie vom Abgrund.
Ich weiß nicht, was im nächsten Moment passiert. Es ist zu viel auf einmal. Erst sehe ich die Kugel, wie sie unaufhaltbar über den Abgrund rollt, mein Lachen für immer verloren. Dann sehe ich Chico, wie er mit einem Lacrosseschläger nach der Kugel fischt und für einen kleinen Augenblick dachte ich, ich dachte wirklich, dass er die Kugel noch gekriegt hat - aber dann donnert ein tiefes, böses Lachen über uns hinweg und die Schatten stoßen Chico mit in das Loch.
Ich wache schweißgebadet auf, mein Herz rast in meiner Brust und für die ersten paar Sekunden kann ich meine Atmung nicht kontrollieren.
Dann bricht alles über mir zusammen.
Ein Traum. Es ist nur ein Traum gewesen.
Mein Lachen ist nicht verschwunden, genauso wenig wie Chico.
Ich fahre mir durch die Haare, meine Hand zittert.
Ich bin das gewohnt. Ich hab immer solche kranken Träume. Aber das hier war nochmal 'ne Nummer größer. Normalerweise träume ich immer von Clara und es ist immer sie, die in dieses Loch fällt und nie wieder zurückkommt, während ich da stehe und nichts dagegen tun kann.
Aber diesmal war es mein Lachen. Und Chico. Was für kranke Scheiße.
Ich lege mich hin, schließe die Augen und versuche, wieder einzuschlafen. Aber das Bild von der Kugel und Chico, die beide in das schwarze Loch fallen, hat sich so sehr in meinem Kopf eingebrannt, dass ich die Nacht kein Auge mehr zukriege.
„Ey." Ich schlage mit der flachen Hand auf das Autodach. Ich hab eine halbe Ewigkeit gebraucht, ihn zu finden. Ich habe die ganze Zeit nach einem schwarzen Chevrolet Camaro Ausschau gehalten, aber das hier ist kein Chevrolet Camaro. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich mag's nicht.
Chico zuckt hinter dem Lenkrad zusammen und ich verkneife mir ein fieses Lachen.
Ich darf mir das hier nicht versauen. Ich hab die letzten Tage darüber nachgedacht und würde es einen anderen Weg geben, wäre ich mehr als nur glücklich, ihn zu gehen. Aber den gibt's nicht. Ich brauche seine Hilfe. Ich brauche ein objektives Auge, alleine kann ich das nicht durchziehen.
Und von all den Leuten an dieser Schule, hasse ich Chico am wenigsten. Fonda ausgeschlossen.
Ich öffne die Beifahrertür und lasse mich ohne ein Wort in den Beifahrersitz fallen.
Chico starrt mich an, als wäre ich sonst irgendwer. Der Bluterguss auf seiner Nase ist schon fast wieder verschwunden. Er schimmert grün und gelb. Ich verdrehe die Augen und schaue stur nach vorne.
„Du bist im falschen Auto", sagt Chico, nachdem er sich endlich gefangen hat.
„Ich weiß. Wo ist der Camaro?"
„Nein, ich meine... Was?", unterbricht er sich selbst. Er ist völlig durcheinander. Ich genieße seine Verwirrung noch einen kleinen Augenblick länger, bis es selbst mir langsam unangenehm wird. Ich drehe meinen Kopf wieder zu ihm. Seine hellen Augen suchen fragend mein Gesicht ab. Als ob er da seine Antwort finden wird.
Ich schnipse kurz mit meinen Fingern und seine Aufmerksamkeit liegt wieder auf meinen Augen.
„Hör zu", fange ich an, obwohl ich schon weiß, dass er mir zuhört. „Ich werd mich nicht dafür entschuldigen, dich geschlagen zu haben. Es tut mir nicht leid und ich werd für dich auch nicht so tun, als wäre es so. Aber-"
„Wow", unterbricht er mich.
„Aber", wiederhole ich lauter, meine Stirn genervt gerunzelt. „Tun wir mal so, als würde ich dein Angebot annehmen. Wo würden wir anfangen?"
Chicos Augenbrauen schießen hoch, als hätte er das überhaupt nicht erwartet. Kann er auch nicht. Ich hab's ja selbst nicht erwartet.
Er bleibt lange still. So lange, dass ich schon mit dem Gedanken spiele, einfach wieder auszusteigen und so zu tun, als hätte dieses Gespräch nie stattgefunden.
„Okay", sagt er schließlich und ich wundere mich einen kleinen Moment lang über die Erleichterung, die ich spüre. „Aber erst holen wir meinen Wagen ab, ich hab die Schnauze voll von dieser Schrottkiste."
Wie aufs Stichwort fällt plötzlich der Rückspiegel ab. Ich schaue zu Chico, der mit angespanntem Kiefer auf den abgebrochenen Spiegel zwischen uns starrt. Er ist so kurz davor, zu fluchen. Ich kann es ihm ansehen. Aber er reißt sich zusammen, startet wortlos den Motor und fährt vom Parkplatz.
„Es würde dir nicht wehtun, ab und zu einfach mal-"
„Halt die Klappe", knurrt er. „Halt einfach die Klappe."
Ich muss grinsen und ich lehne mich entspannt in den abgeranzten Sitz zurück. Jap, das war eindeutig ein Fluchen.
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