22
CHICO
Meine Nase will nicht aufhören zu bluten. Es läuft und läuft und läuft, das ganze Waschbecken ist voller Blut und ich kann nichts dagegen machen. Hinter mir geht die Tür zu den Jungstoiletten auf. Ich sehe Perry hinter mir im Spiegelbild. Seine dunklen Augen weiten sich, als er das Chaos sieht.
„Woah, hast du dich geprügelt? Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt?" Er klingt ein bisschen enttäuscht.
„Ich hab mich nicht geprügelt", knurre ich genervt und nehme die Papiertücher von meiner Nase, um das Ausmaß im Spiegel zu betrachten. Ich rümpfe meine Nase testend. Es tut weh. Aber wenigstens ist sie nicht gebrochen. Arschloch.
Was fällt ihm ein, mich zu schlagen? Wir sind nicht mehr im Kindergarten, wo man verdammt nochmal Fäuste sprechen lassen musste, weil das Vokabular nicht ausgereicht hat. Jesus. Er hatte absolut keinen Grund dafür.
„Du musst den Kopf in den Nacken legen."
„Ich weiß", fauche ich. Im Spiegel sehe ich, wie er abwehrend die Hände hebt. Nach dem Motto Ich sag's ja nur.
Ich seufze und drehe mich um. Es ist nicht fair, dass ich meine Wut jetzt an Perry auslasse. „Sieht's schlimm aus?"
Perry lacht. „Jetzt gerade nicht. Aber warte mal bis morgen."
Ich verdrehe die Augen. Das wird ein richtig fetter Bluterguss. Wie um alles in der Welt soll ich das vor Fonda verstecken?
„Wer war das?", fragt Perry.
Ich lehne mich an das Waschbecken und lege den Kopf in den Nacken. Oben an die Decke hat jemand 1312 gekritzelt.
„Whitham."
Ich weiß genau, dass er mich mit einem Blick anschaut der sagt, Ich hab's dir gesagt.
„Ich will nicht drüber reden", füge ich hinzu, bevor er mir genau das sagen kann.
Es ist das erste Mal seit einer ganzen Weile, dass ich Fonda nicht besuche. Stattdessen verbringe ich meinen ganzen Nachmittag in der Werkstatt und bastel an anderen Wagen herum, um auf andere Gedanken zu kommen. Onkel Rafael hilft mir ein bisschen dabei und ich bin froh, dass er keine Fragen zu meiner demolierten Nase stellt.
„Hast du dich schon für eine Farbe entschieden?", fragt mein Onkel, als ich gerade mit einem Rollbrett unter den Mercedes rutsche.
„Nicht so richtig", antworte ich konzentriert und versuche, mich unter dem Wagen zurecht zu finden. „Hier tropft's", rufe ich nach oben, als was Nasses an meinem Oberarm runterlaufen spüre.
„Ich bin immer noch für rot und schwarz, die Farben haben wir hier. Wonach riecht's?"
„Vielleicht mach ich das am Wochenende, mal gucken. Bin mir nicht sicher, ich tippe auf Kühlflüssigkeit."
„Dann ist der Kühlerschlauch wahrscheinlich gerissen. Maldito", höre ich meinen Onkel leise fluchen. Das kann selbst ich noch übersetzen.
Ich komme wieder unter dem Auto hervor und wische mir mit einem nassen Tuch die Kühlflüssigkeit vom Arm. Das Zeug ist eigentlich giftig.
Wir werkeln ein bisschen weiter an dem Auto herum, wechseln die Schläuche aus und schneller als ich gucken kann, ist es Zeit, die Werkstatt für heute zu schließen.
„Grüß Fonda, wenn du sie siehst."
Ich sage ihm nicht, dass ich heute nicht hinfahren werde und nicke bloß, während ich in meinen eigenen Wagen klettere. Ich fühle mich ein bisschen schlecht, ihn anzulügen.
„¡Hasta luego!", ruft er mir aus dem Büro hinterher.
„Au revoir!"
Der Motor vom Camaro ist zu laut, um sein Lachen noch zu hören, aber es ist da. Das weiß ich.
„Also ich hab's mir schlimmer vorgestellt." Mittlerweile sind seit dem Vorfall mit Elliot in der Schule zwei Tage vergangen. Da sich mein Lacrosse Training gestern so lange hingezogen hat, war ich gestern wieder nicht bei Fonda. Ich habe eigentlich damit gerechnet, dass sie mir den Kopf abreißt, sobald ich ihr Zimmer betrete. Ich hatte ihre Beschwerde schon im Kopf: Guck mal einer an, wer sich auch mal wieder blicken lässt! oder Scheiße, du lebst ja noch! oder Eigentlich kannst du auch gleich wieder umdrehen, ich hab mich schon dran gewöhnt. Aber stattdessen sitzt sie seelenruhig mit einem Buch im Schoß auf ihrem Bett und betrachtet mein Gesicht mit schiefgelegtem Kopf. Sie ist überhaupt nicht überrascht, mich so zu sehen.
Elliot muss ihr davon erzählt haben.
„Er hat dir nicht die Wahrheit erzählt, oder?" Ich schließe die Zimmertür hinter mir.
„Oh, du meinst, dass er dich so zugerichtet hat?", sagt sie, ihre Stimme desinteressiert. „Doch, hat er."
Ich lasse langsam zischend Luft entweichen. „Und du stehst auf seiner Seite." Irgendwie bezweifle ich, dass er ihr wirklich die ganze Wahrheit gesagt hat.
„Er ist nicht derjenige, der mich zwei Tage hängengelassen hat."
„Und los geht's", murmele ich mir selbst zu.
„Hast du eigentlich eine Ahnung, wie fucking langweilig es hier ist?"
„Anderen Ton, bitte."
„Ach, fick dich."
Ein Buch fliegt in meine Richtung und ich muss schmunzeln. Wenigstens ist sie nicht mehr sauer.
„Hab ich dir schon erzählt, dass ich Black Jack umlackiere?" Black Jack war der Name meines Autos, den Fonda und ich uns mal aus Spaß ausgedacht haben. Eigentlich sollten wir uns damit nur über die Leute lustig machen, die ihren Autos wirklich Namen geben, aber irgendwie habe ich mich jetzt so sehr daran gewöhnt, dass mein Camaro jetzt einfach so heißt.
„Aber dann ergibt der Name ja gar keinen Sinn mehr!", beschwert sie sich. „Außer du lackierst ihn rot/schwarz."
Ich zeige mit meinem Zeigefinger auf sie, als hätte sie gerade hundert Punkt in einem Quiz erzielt. „Ganz genau."
Fonda überlegt kurz. „Damit kann ich leben", sagt sie schließlich.
„Ich hätte es auch ohne deine Zustimmung gemacht."
„Krieg ich Black Jack, wenn du stirbst?" Es ist keine ernstgemeinte Frage, eher so ein laut ausgesprochener Gedanke. Aber ich find's schon ein bisschen morbide, dass sie überhaupt über meinen Tod nachdenkt.
„Den kriegt keiner. Den lass ich mit mir begraben."
Fonda pustet sich sorglos eine ihrer dicken Strähnen aus dem Gesicht. „Das wird teuer."
„Ich muss es ja nicht bezahlen", grinse ich.
„Dein Tod würde mich so hoch verschulden, dass es sich gar nicht mehr lohnen würde, noch weiterzuleben", überlegt sie.
„Gut, dass ich nicht vor habe, in nächster Zeit zu sterben, huh?"
Fonda schaut mich an, ihre Augen verdunkeln sich plötzlich. „Ich werde dich für den Rest meines Lebens hassen, wenn du vor mir sterben solltest."
Ich muss lachen. „Wie stellst du dir das vor? Erstens bist du eine Frau und Frauen haben durchschnittlich eh schon eine höhere Lebenserwartung. Zweitens bin ich älter als du. Es ist mehr als nur wahrscheinlich, dass ich vor dir sterben werde."
„Ich würde dich trotzdem hassen."
„Viel Spaß dabei. Was liest du da eigentlich?" Ich hebe das Buch auf, was sie nach mir geworfen hat und lese den Titel auf dem alten Einband. Stolz und Vorurteil von Jane Austen. Ich hebe meine Augenbrauen in ihre Richtung, Fondas Wangen färben sich leicht rot.
„Ich dachte, du hasst Liebesromane und den ganzen Bullshit. Das hast du letztes Mal noch gesagt!"
Fonda hasst sowas normalerweise wirklich. Sie ist niemand, die sich mit Romantik beschäftigt - weder mit der Epoche, noch mit dem Genre und in ihrem Liebesleben schon gar nicht. Sie ist keine Träumerin, die hoch oben in ihrem Turm sitzt und darauf wartet, von einem Prinzen auf weißem Pferd gerettet zu werden. Sie würde einfach selbst runterklettern und sich eher alle Knochen brechen, bevor ihr Prinz auftaucht.
Und jetzt erwische ich sie hier mit Stolz und Vorurteil, dem Liebesroman überhaupt. Ich rümpfe meine Nase.
Fonda reckt ihr Kinn, um zu verstecken, wie peinlich ihr das eigentlich ist. „Ich wollte wissen, wie Liebe definiert wird."
Ich muss auflachen. „Liebe? Was willst du denn mit- Oh", unterbreche ich mich selbst, als mir ein Gedanke in den Sinn kommt. Ich starre sie an. „Du weißt schon, dass Elliot schwul ist, oder?"
Fonda reißt mir wütend das Buch aus den Händen. Ihre dunklen Augen glitzern vor Zorn. „Natürlich weiß ich das, ich bin nicht dumm. Es geht nicht um Elliot."
„Um wen sonst? Jeremy?" Bitte nicht Jeremy.
Sie spannt ihren Kiefer an und schaut aus dem Fenster. Na klar. Natürlich ist es der Dealer. Jetzt gerade wünsche ich mir, sie würde doch einfach auf ihren Prinzen warten.
„Oh, komm schon", verdrehe ich die Augen. „Du kannst mir nicht erzählen, dass du Jeremy liebst. Ich dachte das wäre bei euch nur so'n on-off Ding?"
„Was weißt du schon von Liebe", sagt sie leise und drückt sich das Buch schützend an die Brust.
Jetzt gerade, in diesem Moment, erkenne ich meine Schwester nicht wieder. Bin das nur ich, oder verändert dieser Ort sie wirklich?
Ich wechsle das Thema, als ich bemerke, wie ernst sie das Ganze nimmt und wir reden über unsere Eltern, über andere Jugendliche hier in der Klinik und natürlich über Elliot. Aber die ganze Zeit muss ich daran denken, was sie mir an den Kopf geworfen hat.
Was weißt du schon von Liebe?
Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nichts.
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