21


ELLIOT

Die nächsten Tage in der Schule versuche ich, Chico so gut es geht zu ignorieren. Ich merke, wie dumm es war, dass ich ihn an Claras Geburtstag angerufen habe. Richtig, richtig dumm. Ich will nicht, dass er denkt, dass wir jetzt plötzlich irgendeine Bindung zueinander haben. Ich bin immer noch ich, und er ist immer noch er. Daran wird sich nichts ändern.
Ich merke aber auch, dass ausnahmsweise mal nicht er derjenige ist, der das Ganze so komisch macht. Ich erwische mich immer häufiger dabei, wie ich mittags in der Cafeteria nach ihm Ausschau halte. Er sitzt immer mit seinen Leuten vom Lacrosseteam an einem Tisch, laut und lachend. Aber immer öfter gibt's die Momente, wo er plötzlich still wird und gedankenverloren auf sein Handy starrt. Ich will mir einreden, dass es wegen Fonda ist, aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Ich fluche und lasse mein Essen auf dem Tisch stehen, als ich es schon wieder beobachte. Er soll einfach aufhören darüber nachzudenken, damit ich es auch kann.
Das war ein Fehler. Ein großer, beschissener Fehler. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Die Wahrheit ist, ich wusste, wenn er kommt, dann würden all die faulen Gedanken in meinem Kopf aufhören, mich zu quälen. Immer wenn er da ist, sind meine Gedanken über Clara nicht so gefährlich wie sonst. Meistens, weil ich dann gar nicht dazu komme, so viel über sie nachzudenken. Aber das ist nicht gut, und das weiß ich. Ich kann trotzdem nicht damit aufhören.
Ich räume gerade meine Sachen in den Spind ein, als ich hinter mir höre, wie die Tür der Cafeteria aufgeht. Natürlich. Natürlich, natürlich, natürlich. Ich weiß, dass er mich ansprechen wird, bevor er überhaupt den Mund aufmacht. Nein, bevor ich eigentlich wissen sollte, wer das ist. Aber ich weiß es. Ohne mich umzudrehen.
„Hast du kurz Zeit? Ich wollte mit dir reden."
Ich verdrehe die Augen, schlage meinen Spind zu und drehe mich um. Los geht's.
Chico steht vor mir, in der selben Lacrossejacke wie immer. Mainstream. Hat er eine Ahnung, wie lächerlich er damit aussieht? Der Gedanke amüsiert mich und ich spüre meinen Mundwinkel kurz zucken, aber ich halte den Mund.
Er betrachtet mich und ich hebe genervt eine Augenbraue, als mir das Ganze zu lange dauert.
„Seit wann trägst du den Ohrring?", fragt er mit gerunzelter Stirn, als sein Blick auf meinem Ohr hängen bleibt.
Der Ohrring. Es ist Claras. Es ist eigentlich nur ein kleiner silberner Ring, aber ich habe noch einen winzigen silbernen Mondanhänger rangehangen. Wenn man lange genug hinschaut, sieht der Anhänger aus wie ein C. Mir gefällt's.
„Darüber wolltest du mit mir reden?"
„Was?", fragt er verwirrt, dann schüttelt er schnell mit dem Kopf. „Nein, ich wollte eigentlich-"
„Fonda hat mir das Loch gestochen", unterbreche ich ihn.
„Fonda hat was?" Sein Gesichtsausdruck ist so entsetzt, dass ich fast lachen muss.
„Mit einer heißen Nadel." Sein Blick wird immer besser.
„Seid ihr bescheuert?", sagt er fassungslos. „Weißt du, wie unhygienisch das ist?"
„Sie hat sich vorher die Hände gewaschen." Hoffentlich.
Chico sieht aus, als würde er was sagen wollen, aber dann schüttelt er den Kopf. Ich glaube, er weiß, dass es mich eh nicht interessiert, was er zu sagen hat. Ich hab's gemacht und fertig.
„Ich hoffe, es tat weh."
„Nein." Das ist gelogen. Es hat wehgetan wie scheiße, aber das muss Chico nicht wissen. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass sich das noch entzünden wird, aber das ist es mir wert.
Chico schüttelt bloß den Kopf. Er schüttelt immer den Kopf. „Egal. Was ich eigentlich sagen wollte: ich werd dir helfen herauszufinden, was mit Clara passiert ist."
Ich bin so perplex, dass mir ein Lachen entkommt. Was will er? Spätestens jetzt weiß ich, dass es wirklich ein Fehler war. Er kann mich mal. „Hör zu, nur weil ich dich-" Ich werde wütend, als er mich nicht ausreden lässt.
„Nein, du hörst mir zu. Weißt du eigentlich, wie viele Leute denken, dass du das warst? Ich weiß, dass du's nicht warst und ich weiß, dass du auch die Wahrheit wissen willst."
Ich war gerade eben schon wütend, aber jetzt werde ich richtig wütend. Wer zur Hölle denkt er, der er ist? Er kennt mich nicht. Nicht ein bisschen. „Du willst die Wahrheit wissen?", fauche ich. „Die Wahrheit ist, Clara und ich haben uns gestritten und sie hat sich umgebracht. Fertig."
Ich hätte nicht gedacht, dass Worte so wehtun können. Aber das ist die Wahrheit. Soll er das doch Fonda erzählen. Soll sie doch von mir denken, was sie will. Es ist mir egal.
Ich hab kein Bock mehr auf das Gespräch und will gehen, aber er ist schneller.
„Das ist nicht wahr", sagt er mit so einer Überzeugung in der Stimme, dass ich mich umdrehe und ihn anschaue. Ich kann den Ausdruck in seinen lächerlich hellen Augen nicht identifizieren. Er spannt seinen Kiefer an.
Mein rechter Mundwinkel hebt sich zu einem sarkastischen Lächeln. „Und woher willst du das wissen, huh? Du kanntest sie nicht, du weißt nicht-"
Chico unterbricht mich mit einer so lauten Stimme, dass sich mein Mund von alleine schließt. „Wenn Clara auch nur ansatzweise so ist wie Fonda, dann hätte sie sich niemals nach einem Streit mit dir umgebracht! Sie hätte ganz genau gewusst, dass du dir dein Leben lang die Schuld dafür geben würdest und wenn du und deine Schwester euch wirklich so nahe gestanden habt, dann hätte sie dir das nie angetan!"
Es ist einen Moment lang still. Und dann schlage ich ihm ins Gesicht.
Ich hab nicht mal darüber nachgedacht, es kam einfach. Wie ein Reflex.
Ein hässliches Geräusch ertönt und Chicos Kopf fliegt nach hinten. Ich schüttele zischend meine Hand aus.
Chico stöhnt vor Schmerz auf und als ich von meiner Hand hochschaue, sehe ich das dunkle Blut aus seiner Nase tropfen.
Ugh, das wird ein hässlicher Bluterguss.
„Was zur Hölle?", ruft Chico wütend und tupft sich mit seinem Ärmel das Blut unter der Nase weg. Es reicht nicht. Das Blut kommt schneller, als er tupfen kann. Es ist seltsam befriedigend.
„Sag sowas noch mal, und ich bring dich um", zische ich leise, bevor ich ihn da blutend im Flur zurücklasse.
Was zur Hölle fällt ihm ein, mir Hoffnungen zu machen?
Und was noch viel schlimmer ist: warum will ich ihm glauben?

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top