20
CHICO
Benzin ist glaube ich mein Lieblingsgeruch. Wenn ich meine Nachmittage bei Onkel Rafael in der Werkstatt verbringe und dort aushelfe, fühle ich mich wohl zwischen den ganzen Wagen. Ich kann in Ruhe an den Autos herumbasteln, nebenbei Musik hören und einfach abschalten. Hier muss ich mich auf ganz andere Probleme konzentrieren und es gibt mir ein gutes Gefühl zu wissen, dass die Lösung zu dem Problem nie weit entfernt liegt. Man muss nicht erst stundenlang darüber nachdenken, man muss einfach nur Ahnung von dem haben, was man da tut. Ich glaube, in dem Punkt bin ich ein bisschen wie meine Schwester.
Da es heute nicht allzu viel zutun gibt, baue ich nebenbei an meinem eigenen Auto herum. Ich muss die Scheibenwischer austauschen und Öl nachfüllen. Außerdem überlege ich schon die ganze Zeit, ob ich meinen Chevrolet Camaro nicht vielleicht rot lackiere. Oder vielleicht orange. Ich hab nur keine Lust mehr auf schwarz.
Oder vielleicht weiß mit zwei schwarzen Streifen auf der Haube?
„Was überlegst du?", höre ich Onkel Rafael hinter mir sagen und ich drehe mich um. Er wischt sich gerade seine ölverschmierten Hände an einem ranzigem Tuch ab, das mindestens genauso dreckig ist, wie seine Hände. Onkel Rafael tritt näher an mein Auto heran und wirft einen kurzen Blick in die offene Haube. Er greift hinein und schraubt eine Kappe auf. Sein Blick ist kritisch. „Du solltest mal einen Ölwechsel machen."
„Ich war gerade dabei", erwidere ich und lehne mich neben ihn an das Auto. „Ich war am Überlegen, ob ich den Wagen neu lackiere."
„Ah", sagt Onkel Rafael mit einem Lächeln auf den Lippen. „Welche Farbe?"
Ich zucke mit den Schultern. „Vielleicht rot oder orange oder so. Ich bin mir noch nicht sicher."
„Ich weiß noch damals, mein Ford Mustang, Baujahr '69. Gelb mit zwei schwarzen Streifen auf der Haube. So ein schönes Auto. Das war mein ganzer Stolz. Dein Opa hat's gehasst", lacht er und gibt mir einen kurzen Klaps auf den Hinterkopf. Ich muss schmunzeln. Ich wünschte, er hätte den Wagen immer noch. Ich hätte so gerne mal hinter dem Lenkrad gesessen.
Onkel Rafael schaut auf die große Uhr über der Tür seines kleinen Büros. „Ich glaube, du kannst für heute Schluss machen. Hier wird nicht mehr viel passieren." Er gibt meinem Wagen einen leichten Klaps auf die offene Haube. „Wechsel dein Öl noch und dann kannst du fahren."
Ich nicke und er verschwindet in seinem Büro. Ich mache mich an die Arbeit und nach zehn Minuten kann ich die Haube wieder zumachen. Ich wische mir mit meiner Hand den Schweiß von der Stirn und fange an, die ganzen Werkzeuge, die ich über den Nachmittag gebraucht habe, wieder wegzuräumen.
Als ich soweit bin, stecke ich kurz meinen Kopf in Onkel Rafaels Büro. Er sitzt auf seinem abgenutzten, halbkaputten Bürostuhl und kümmert sich wie's aussieht um ein paar Abrechnungen.
„Ich fahre", verabschiede ich mich von ihm.
Er schaut hoch, den Stift schon gehoben, als hätte er gerade was schreiben wollen. In solchen Momenten sieht er meinem Vater trotz des eher schmutzigen Erscheinungsbilds so ähnlich. „Ich glaube, ich würde deinen Wagen komplett rot mit zwei schwarzen Streifen auf der Haube lackieren." Er denkt kurz nach, dann nickt er, als würde er sich selbst bestätigen wollen. „Ja, ich glaube, das würde ihr stehen."
Ich muss lächeln. „Ich überleg's mir."
„¡Hasta luego, Chico!", ruft er mir noch hinterher.
„Ciao!" Ich muss selbst lachen, als ich sein tiefes Lachen durch die Werkstatt brummen höre. Das ist schon immer ein kleiner Witz zwischen uns gewesen. Eine kleine Anspielung darauf, dass ich eigentlich mehr Spanisch können sollte, als ich wirklich kann. Stattdessen antworte ich immer auf anderen Sprachen.
Ich lasse mich in meinen Wagen fallen und checke kurz mein Handy auf neue Nachrichten. Außer ein paar unwichtige Nachrichten von Freunden wird mir noch angezeigt, dass ich vor drei Minuten angerufen wurde. Die Nummer ist unbekannt.
Ich runzele die Stirn, klicke aber trotzdem auf Zurückrufen. Mit Fonda bin ich mir nie sicher, ob das nicht vielleicht sie war.
Ich kaue auf meiner Unterlippe herum, während ich ungeduldig dem gleichmäßigen Tuten lausche. Ein paar Sekunden lang tut sich nichts, bis ich ein Knacken am anderen Ende der Leitung höre.
„Hey", spricht jemand zögernd.
Meine Zähne hören sofort auf, auf meiner Unterlippe herumzukauen. Ich setze mich etwas aufrechter hin. „Elliot?"
„Ja." Mehr sagt er nicht.
„Ist was mit Fonda?", hake ich nach. Ich kann mir nicht erklären, warum er mich sonst anrufen sollte.
Er zögert schon wieder. „Nein."
Ich bleibe einen Moment lang still. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wenn nichts mit Fonda ist, warum ruft er mich dann an?
„Ist alles okay bei dir?", frage ich ihn schließlich vorsichtig und starte gleichzeitig den Motor meines Camaros.
Es ist einige Sekunden lang still und ich dachte schon, er hätte einfach aufgelegt, aber dann höre ich ihn „Nein" sagen. Meine Augenbrauen schießen in die Höhe. Ich habe nicht mit dieser Antwort gerechnet. Meine Gedanken rasen. Was soll ich sagen?
„Wo bist du?" Ich muss ihn sehen, um das Problem einschätzen zu können. Es bringt mir nichts, nur seine Stimme zu hören.
Er nennt mir eine Adresse und legt kurz danach einfach auf.
Ich schmeiße mein Handy auf den Beifahrersitz und blicke mir im Rückspiegel kurz entgegen. Ich kann nicht fassen, dass ich da jetzt wirklich hinfahre. Aber dann denke ich daran, wie viel Überwindung es ihn gekostet haben muss, ausgerechnet mich anzurufen. Er hat niemand anderen. Seine einzige Freundin steckt in einer psychiatrischen Anstalt fest und ich bin der einzige, der ihm sonst noch in den Sinn gekommen ist.
Ich schalte in den Rückwärtsgang und trete aufs Gas.
Als ich an der genannten Adresse ankomme, bin ich ein bisschen verwundert, eine Kirche zu sehen. Bei Elliot hätte ich mit allem gerechnet, aber ganz bestimmt nicht mit einer Kirche. Er kommt mir nicht vor, wie der gläubige Typ.
Ich parke etwas abseits am Bürgersteig und steige aus. Ich sehe ihn nirgendwo, also laufe ich langsam den Weg zur Kirche hoch. Die Sonne geht langsam unter und es wird kühler. Ich ärgere mich, dass ich keine Jacke mitgenommen habe.
Ich fühle mich ein bisschen komisch, als ich die große Flügeltür der Kirche aufstoße. Mein Vater ist zwar religiös, aber ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal eine Kirche betreten habe. Ich finde, Kirchen und allgemein religiöse Einrichtungen haben immer was gruseliges an sich. Ich fühle mich zwischen den Wänden nie wirklich wohl und ich hab immer das Gefühl, von irgendjemanden oder irgendwas beobachtet zu werden. Ich weiß, dass die Gänsehaut auf meinen Armen nicht von der Kälte kommt.
Die Kirche ist leer. Ich schaue mich kurz um, scanne mit meinem Blick die Bänke und den Altar ab, aber hier ist niemand. Ich drehe mich wieder um und lasse die Tür mit meinem lauten Donnern hinter mir zufallen. Wo steckt Elliot?
Ich stecke meine Hände in meine Hosentaschen und laufe den Weg langsam wieder hinunter. Mein Blick wandert über den großen Friedhof um mich herum. Ich frage mich gerade, von wie vielen Menschen ich wohl die letzte Ruhe störe, als ich plötzlich etwas weiter hinten eine Person vor einem Grabstein sitzen sehe.
Ich weiß sofort, dass er es ist.
Kleine Kieselsteine knirschen unter meinen Schuhen und ich weiß, dass er mich schon gehört hat, bevor ich neben ihm stehen bleibe.
Elliot sagt nichts. Er schaut nicht mal hoch.
Ich nutze die Gelegenheit und betrachte ihn. Er sitzt im Schneidersitz vor dem Grab, neben ihm liegt sein Rucksack, als wäre er direkt nach der Schule hierhergekommen. Seine dunkelblonden Locken liegen durcheinander auf seinem Kopf, als würde es ihn absolut nicht interessieren, wie er aussieht. Normalerweise trägt er seine Haare in einem Mittelscheitel, die Locken bis kurz über seine Ohren hängend, sodass man den leichten Undercut noch sehen kann. Man kann ihn jetzt auch noch sehen, aber der Mittelscheitel ist verschwunden. Ich nehme sein Profil in Augenschein. Seine hellbraunen Augen sind ausdruckslos, komplett leer. Seine Oberlippe zuckt kurz nach oben und er blinzelt.
Ich richte meinen Blick auf den Grabstein vor uns. Ich habe es mir schon gedacht, aber es dann wirklich zu lesen, ist was ganz anderes.
Clara Louise Whitham
*21. Oktober 1999, †30. April 2018
Ganz leise ohne ein Wort, gingst du für immer von uns fort. Es ist so schwer dies zu verstehen, doch einst werden wir uns wiedersehen.
„Happy Birthday", murmle ich leise und setze mich neben Elliot hin. Es bleibt still zwischen uns, aber die Stille ist nicht unangenehm. Nicht so wie im Auto. Ich schließe die Augen und versuche mir ihr Gesicht vorzustellen. Sie war letztes Schuljahr ein Senior, nur einen Jahrgang über mir. Ich weiß, dass ich sie schon öfter gesehen habe. In der Schule läuft jeder jedem Mal über dem Weg. Ich weiß, dass sie Mitglied des Dramaclubs war, aber ich bin nie zu den Vorstellungen gegangen. Wieso auch? Dramaclub und das Lacrosseteam sind zwei ganz verschiedene Welten. Ich versuche mich wirklich daran zu erinnern, wie sie aussah, aber es funktioniert nicht. Ihr Gesicht geht unter all den anderen Gesichtern der Mitschüler unter. Würde mir jemand ein Bild zeigen, wüsste ich sofort, wer sie ist. Aber wenn ich sie unter hunderten vorbeilaufenden Schülern raussuchen müsste, würde ich sie nicht erkennen.
Ich weiß, wie beschissen das klingt, aber es ist wahr.
„Sie ist heute 19 geworden", höre ich Elliot plötzlich in die Stille sagen. Ich öffne meine Augen wieder. Seine Stimme hört sich heiser an, als hätte er die ganze Zeit geschrien. Ich schaue ihn von der Seite an. Sein Blick liegt auf etwas in seinem Schoß, zwischen seinen Händen. Ich kann nicht erkennen, was es ist. Dafür ist es zu klein. „Sie wäre jetzt in Yale."
„In Yale, huh", sage ich und wundere mich, warum sich meine Stimme plötzlich auch so heiser anhört. „Wow."
Ich weiß nicht so richtig, was ich sagen soll. Ich weiß nicht, wie ich mit diesem Elliot umgehen soll. Ich kenne nur die eine Seite, die er jedem zeigt. Der unnahbare Einzelgänger mit der scheißegal-Einstellung und den provokanten Sprüchen. Aber ich hatte keine Ahnung, dass noch eine zweite Seite existiert. Es macht mir ein bisschen Angst, aber ich weiß nicht, warum.
„Ich hasse diesen Spruch."
Ich schaue auf den weißen Marmorgrabstein. Ganz leise ohne ein Wort, gingst du für immer von uns fort. Es ist so schwer dies zu verstehen, doch einst werden wir uns wiedersehen. Ich kann verstehen, warum er ihn nicht mag. Es hört sich an wie etwas, das auf jedem dritten Grabstein steht.
„Meine Eltern haben den Spruch ausgesucht. Würde Clara mitkriegen, was auf ihrem Stein steht, würde sie sich im Grab umdrehen."
„Was hättest du raufgeschrieben?", frage ich aus Interesse.
Es ist das erste Mal, seitdem ich hier angekommen bin, dass Elliot mich anschaut. Da ist etwas in seinem Blick, das ich nicht identifizieren kann. Ich kriege Gänsehaut.
Elliot schaut wieder auf den Stein und scheint kurz zu überlegen. „Wer früher stirbt, ist länger tot", sagt er schließlich trocken.
Ich fühle mich sofort beschissen, als mir ein leises Lachen rausrutscht. Ich könnte mich erschlagen. Aber dann sehe ich Elliots Schmunzeln im Augenwinkel und die Welt ist wieder in Ordnung.
„Das ist hart", kommentiere ich seine Wahl. Aber es ist lustig. Die Ironie dahinter.
„Wir haben ständig darum gewettet, wer als erstes den Löffel abgibt. Wir haben uns immer über den Tod lustig gemacht. Wir wussten, dass wir eh alle irgendwann sterben werden, du kommst hier halt nicht lebend raus. So funktioniert das Leben."
Ich mag die Denkweise dahinter. Er hat recht, wir werden alle irgendwann sterben. Die einen früher, die anderen später. Also warum die wertvolle Zeit damit verschwenden, Angst vor dem Tod zu haben?
„Ich hätte nur nicht gedacht, dass es schon so früh soweit ist", fügt Elliot hinzu und schaut wieder runter auf seine Hände. Jetzt erkenne ich auch, was es ist. Es ist ein kleiner, silberner Ohrring.
Ich weiß nicht mehr, was ich dazu sagen soll, also bleibe ich still. Die Stille streckt sich über eine ganze Zeit lang hinaus. Der Sonnenuntergang kommt und taucht den weißen Marmorstein in ein orangenes Licht, fast so, als würde der Stein von innen heraus leuchten. Vögel zwitschern und ab und zu kommen ältere Menschen vorbei, die ihre toten Familienangehörigen besuchen. Der Sonnenuntergang geht und mit ihm gehen auch die Vögel und die anderen Menschen. Die Stille bleibt.
Es ist ein komisches Gefühl, hier neben Elliot vor dem Grabstein seiner Schwester zu sitzen. Vor allem wenn man weiß, wie Elliot sonst drauf ist. Aber Elliot ist auch nur ein Mensch, wie ich heute festgestellt habe. Er ist auch nur ein Mensch und jeder Mensch braucht mal eine Pause.
Später im Auto traue ich mich endlich die Frage zu stellen, die mir schon die ganze Zeit auf der Zunge gebrannt hat. „Warum hast du mich angerufen?"
Elliot und ich stehen uns alles andere als nah. Und ich hatte immer den Eindruck, dass er mich nicht ausstehen kann. Also was hat ihn dazu gebracht zu denken, dass meine Anwesenheit besser ist, als alleine zu sein? Ich dachte immer, Alleinsein wäre sein Ding.
„Warum bist du hergekommen?", stellt er die Gegenfrage.
Ich habe mich schon gefragt, wann er wieder zu seinem alten Ich wird.
Ich lasse mir Zeit mit der Antwort, schalte in den nächsten Gang und gebe ein bisschen mehr Gas.
„Du hast dich scheiße angehört. Ich dachte, vielleicht brauchst du jemanden zum Reden. Und wenn's nur ich bin."
„Nur du?", wiederholt er und hebt eine Augenbraue.
Ich sage nichts.
Nach ein paar Sekunden stöhnt Elliot plötzlich auf. „Es ist das erste Mal, dass ich seit der Beerdigung dahingegangen bin, okay? Ich dachte, wenn ich da alleine hingehe, ertrinke ich in meinen eigenen Gedanken. Das ergibt keinen Sinn, ich weiß", fügt er hinzu, als er meinen Blick sieht.
Ich schüttele schnell den Kopf. „Nein, das ergibt Sinn. Ich verstehe, was du meinst. Du brauchtest einfach jemanden, der dich am Boden hält."
Elliot schaut stumpf geradeaus und ignoriert meinen Blick. „Ich brauchte jemanden, vor dem ich mich zusammenreißen muss. Sonst weiß ich nicht, was ich vielleicht getan hätte."
Ich dachte vorher schon, ich hätte ihn verstanden. Aber jetzt, jetzt, hab ich ihn erst wirklich richtig verstanden. Ich war seine Ablenkung. Wäre er dort alleine hingegangen, hätte er wahrscheinlich sonst was gemacht. Blumen rausgerissen, das Grab vandalisiert, was weiß ich. Er hätte nicht gewusst wohin mit all dieser Wut, die er sowieso schon in sich zu tragen scheint. Aber er war schlau genug zu wissen, dass er seine Wut kontrollieren musste, wenn jemand anderes dabei wäre.
Er hat mich als Schild benutzt. Er hat mich nur als Schild benutzt. Aber trotzdem bin ich mir sicher, dass er nicht jeden als Schild benutzt hätte und ich weiß nicht, was ich mit dieser Information anfangen soll.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top