19


ELLIOT

Fonda und ich sind gerade in einer tiefsinnigen Unterhaltung über Klopapierverschwendung vertieft (ich weiß nicht mehr, wie wir darauf gekommen sind, aber es ist ein Problem), als Fondas Handy zwischen der Matratze und dem Lattenrost vibriert.
Fondas Blick schießt kurz zu mir, bevor sie das Handy aus ihrem Versteck hervorholt.
„Du hast den Ton an?", frage ich mit hochgezogener Augenbraue. „Es ist ein Wunder, dass das noch niemand mitbekommen hat." Mit niemand meine ich ganz offensichtlich die Ärzte, Schwestern, Sicherheitsleute und Putzfrauen, die gerne mal in den Zimmern der Patienten herumschnüffeln. Ich weiß, wovon ich rede. Ich wurde zwar nie erwischt, aber ich war unzählige Male kurz davor. Ich kann nicht glauben, dass Fonda wirklich so dumm ist.
„Du hast mir das Handy gegeben, damit ich erreichbar bin. Wie soll ich erreichbar sein, wenn ich nicht weiß, wann jemand versucht, mich zu erreichen? Außerdem hab ich nur den Vibrationsalarm an."
„Das ist zu laut."
„Leck mich", sagt sie, ohne von dem Display hochzuschauen.
Ich zeige ihr den Mittelfinger, aber Fonda sieht es nicht. Ich verdrehe die Augen und lehne mich mit dem Rücken an die Wand.
„Chico meint, er fährt jetzt los", sagt Fonda und schaut zu mir auf, als würde sie erwarten, dass ich etwas dagegen einwende.
Stattdessen schaue ich über ihre Schulter hinweg aus dem Fenster. Es stürmt immer noch so doll. Ich könnte mir Tausend andere Dinge vorstellen, die angenehmer sind, als fast eine Stunde durch den eiskalten Regen zu laufen. Alleine bei dem Gedanken an durchnässten Schuhen und das ekelhafte Gefühl, darin zu laufen, stellen sich bei mir die Nackenhaare auf. Aber was bleibt mir übrig. Chico wird mich nicht nochmal fahren und ich werd nicht nochmal in dieses Auto einsteigen. Zu viele unausgesprochene Worte liegen zwischen dem wenigen Platz, der Chico vom Beifahrersitz trennt. In dem Fall von mir.
Ich strecke mit einem Stöhnen meine Beine aus und stehe auf. „Zeit zu gehen."
Wenn Chico Fonda gerade geschrieben hat, dass er jetzt losfährt, dann hab ich bei dem Wetter schätzungsweise noch eine halbe Stunde, um mich rechtzeitig zu verpissen. Aber ich will kein Risiko eingehen.
„Du könntest auch einfach hierbleiben, weißt du", fängt Fonda an und ich weiß schon, wie der Satz zu Ende gehen soll, ohne sie überhaupt anzuschauen. „Chico kann dich nachher mit nach Hause nehmen. Oder du wartest wenigstens, bis der Regen aufgehört hat."
„Guck aus dem Fenster. Es wird nicht aufhören, zu regnen."
Fonda seufzt. „Du willst jetzt also wirklich durch den Regen nach Hause laufen?"
„Was bleibt mir anderes übrig?" Ich ziehe meine Jacke über und greife nach meinem Rucksack. Mein Blick bleibt kurz auf Fonda haften. Wäre ich nicht schwul, wäre Fonda wahrscheinlich genau mein Typ. Schwarze Locken, sonnengebräunte Haut, dunkle Augen und diese lächerlich langen Wimpern, die Chico auch hat.
Blöd gelaufen.
„Wir sehen uns morgen", salutiere ich sarkastisch und knalle beim Umdrehen fast in Chico rein.
Natürlich ist er schon hier. Natürlich.
Chico sieht mindestens genauso begeistert aus, mich zu sehen. Er hebt seine Augenbrauen und schaut über meine Schulter hinweg zu Fonda.
„Du hast mir doch gerade erst geschrieben, dass du losfährst?", fragt sie verwirrt.
Chico holt sein Handy aus der Hosentasche. Kann er vielleicht mal von der Tür verschwinden? „Das war vor zwanzig Minuten", sagt er und zeigt Fonda den Chatverlauf.
Fonda stöhnt auf und lässt sich zurück auf das Bett fallen. „Nie hab ich hier Internet", beschwert sie sich.
Chicos Blick wandert wieder zu mir. Wahrscheinlich hört er das jeden Tag, aber seine Augen sind schon echt besonders. So endlos blau, als könne man in ihnen ertrinken, wenn man zu lange hinschaut. Ich will wütend auf ihn sein, obwohl er nicht mal was getan hat.
Er hat es mir nicht angeboten, aber ich sage es trotzdem. „Ich laufe."
„Viel Spaß, Whitham", sagt er, als ich mich an ihm vorbeidränge.
Er sieht es nicht, aber ich muss schmunzeln.

Claras Geburtstag rückt immer näher. Es ist ihr 19. Geburtstag. Selbst wenn ich es nicht wüsste, kann ich es zu Hause deutlich spüren. Meine Mutter ist kaum zuhause, macht mehr Überstunden als sonst und kommt immer erst zurück, wenn ich schon im Bett liege und eigentlich schlafen sollte. Mein Vater redet noch weniger als sowieso schon und lebt quasi in seinem Büro. Selbst Apollo scheint zu merken, dass sich was verändert hat und klebt mehr an mir, als sowieso schon. Das Haus ist groß, aber ohne Clara ist es leer.
In den nächsten paar Tagen wird mir immer mehr bewusst, dass sich mein Zuhause schon lange nicht mehr wie Zuhause anfühlt. Es ist nur noch ein Haus, gefüllt mit Erinnerungen, die mehr und mehr miteinander vermischen, bis ganze Identitäten verschwinden. Es ist einfach nur noch ein stinknormales Haus.
Ich glaube, das ist der Grund, warum meine Mutter kaum noch Zuhause ist und mein Vater sich in seinem Zimmer einsperrt. Wenn sich das eigene Haus plötzlich fremd anfühlt, ist man nicht mehr willkommen.
Als ich den Tag vor Claras Geburtstag von der Klinik nach Hause komme, ist es das erste Mal, dass ich vor meiner Zimmertür zögere und kurz nach rechts auf Claras Tür schaue. Ihre ganzen Sticker von all ihren Lieblingsbands und Lieblingsmarken kleben immer noch an der weißen Tür. Ich bin mir nicht sicher, ob irgendjemand seit der Beerdigung nochmal dieses Zimmer betreten hat. Ich auf jeden Fall nicht.
Für den Bruchteil einer Sekunde überlege ich, mir den Schlüssel aus der Küche zu holen. Aber dann schüttele ich den Kopf und betrete mein eigenes Zimmer. Ich bin der letzte, der da rein gehen sollte.

Am nächsten Tag fühlt sich alles komisch an. Wäre Clara noch an der Schule, hätten ihre Leute ihren Spind dekoriert und sie wäre mit einem riesengroßen Lächeln durch die Gänge spaziert. Sie hat Geburtstage geliebt. Ich hab's nie verstanden.
Aber als ich durch die Schule laufe, fühlt sich alles so leer an, obwohl es das nicht ist. Claras alter Spind steht verlassen und stinknormal zwischen den anderen Spinds, als hätte sein Besitzer nie existiert. Alle haben's vergessen.
Ich hab mich noch nie in meinem Leben einsamer gefühlt.
Der Unterricht ist so langweilig, dass ich innerhalb von zehn Minuten wegnicke und erst wieder aufwache, als es zum Stundenende klingelt. Als ich benommen auf die Tafel starre und sehe, dass das ganze Ding vollgeschrieben ist, schließe ich kurz die Augen und fluche. Wenn das so weiter geht, werde ich meinen Abschluss dieses Jahr nicht schaffen.
Eigentlich kann es mir egal sein, ich weiß eh nicht, was ich nach der High School mit mir selbst anfangen soll. Aber ich weiß, dass Clara so verdammt wütend wäre, wenn sie das jetzt mitkriegen würde.
Als ich später nach Hause komme, merke ich sofort, dass etwas anders ist. Es riecht nach Kuchen. Nicht irgendein Kuchen, nein. Es riecht nach Käsekuchen. Claras Lieblingskuchen. Mir wird plötzlich schlecht.
Ich betrete die Küche und halte in meinen Bewegungen inne, als ich meine Mutter und meinen Vater zusammen am Tisch sitzen sehe, beide mit einem Kaffee in der Hand. Der Tisch ist für drei Personen gedeckt und mit weißen Kerzen dekoriert, in der Mitte steht ein großer, noch dampfender Käsekuchen. Mum hat sogar extra ihre gute Tischdecke rausgeholt, die sie sonst nur für besondere Anlässe aufgehoben hat.
„Was soll das", sage ich trocken. Ich bewege mich keinen Zentimeter. Apollo kommt bei dem Geräusch meiner Stimme durch die Terrassentür herein und legt sich hechelnd vor meine Füße.
Meine Mutter schaut auf, ihr Lächeln ist aufgesetzt, aber ich sehe ihr an, dass sie sich Mühe gibt, so viel Wärme wie möglich hineinzulegen. Ich schaue zu meinem Vater, der langsam seinen Kaffee umrührt und meinem Blick meidet.
„Sie hätte heute Geburtstag, Elliot. Ich dachte, es wäre schön, wenn wir vielleicht..." Mum schweift ab und schaut hilfesuchend zu meinem Vater, der ihren Blick aber nicht bemerkt.
„Hat."
„Was?", lächelt meine Mutter verwirrt.
Ich schlucke. „Sie hat heute Geburtstag."
Der Gesichtsausdruck meiner Mum gerät leicht ins Wanken. Über ihren braunen Augen, die Claras so ähnlich sehen, legt sich ein feiner Schatten. Andere hätten ihn vielleicht nicht bemerkt, aber ich schon.
„Ich weiß, Lio", sagt sie sanft und lässt ihren Blick auf den Kuchen sinken. „Ich dachte nur..."
„Nenn mich nicht so", unterbreche ich sie harsch und Apollo setzt sich auf. Lio ist Claras Spitzname für mich. Er ist damals entstanden, weil Clara früher meinen Namen nicht richtig aussprechen konnte. Meine Familie hat ihn übernommen, aber seitdem meine Schwester nicht mehr da ist, fühlt sich der Name nicht richtig an. Ich bin nicht mehr Lio. Lio ist vor einem halben Jahr mit seiner Schwester im Ashvern Lake ertrunken.
„Elliot", sagt mein Vater, bevor meine Mutter etwas erwidern kann. Ich kann ihr ansehen, dass ich sie mit meiner Aussage verletzt habe, aber gerade könnte es mich nicht weniger interessieren. „Wir müssen langsam wieder in unseren alten Alltag zurückkehren, so wie es jetzt läuft, kann es nicht weitergehen."
Das Gespräch hatten wir vor drei Monaten schon. Danach haben sie mich in die Klinik gesteckt.
„Ich verschwinde", schüttele ich den Kopf und drehe mich um.
Ich höre noch, wie mein Dad mir hinterherruft, aber die Haustür ist hinter mir schon lange wieder zugefallen.

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