18
CHICO
Perry lebt nur zwei Straßen weiter entfernt von mir. Wahrscheinlich ist er deswegen mein bester Freund. Es ist verrückt, dass der Freundeskreis früher als Kind davon abhängig war, wie weit man voneinander entfernt gewohnt hat. Jetzt ist es egal, wo Freunde wohnen. Jetzt hat sowieso jeder ein Auto. Fast jeder, zumindest.
Ich brauche bestimmt eine halbe Stunde, bis ich bei Perry bin. Dieser verdammte Regen. Ich muss unbedingt was mit meinen Scheibenwischern machen, vielleicht hat Onkel Rafael noch irgendwelche in der Werkstatt rumliegen.
Die Tür ist offen und ich gehe einfach rein. Ich höre oben Musik aus einem Zimmer dröhnen. Das ist bestimmt Perrys kleine Schwester, wahrscheinlich hat sie sich wieder mit ihren Eltern gestritten.
Ich gehe direkt in den Keller, wo Perry sich quasi ein zweites Zimmer eingerichtet hat. Es ist nichts besonderes, da unten steht bloß eine alte unbequeme Couch, ein Tisch, der schon so lange nicht mehr sauber gemacht wurde, dass einem die Hände schon kleben, obwohl man das Ding nicht mal angefasst hat und ein alter Flachbildfernseher mit einem Riss in der Mitte. Ich weiß noch genau, wie das passiert ist. Wir haben mit zwei anderen Kumpels aus dem Lacrosse Team zusammen FIFA gespielt und bei einem Spiel ist Perry so wütend geworden, dass er den Controller gegen den Fernseher geschmettert hat.
Seitdem spielen wir kein FIFA mehr.
Ich sehe Perry schon auf der Couch sitzen, aus den Lautsprechern des Fernsehers klingt leise Musik.
„Sorry", sage ich, als ich mich neben ihm auf die Couch fallen lasse. „Ich musste noch was erledigen."
Perry sitzt im Schneidersitz da und schaut hochkonzentriert auf seine Finger, zwischen denen er gerade den Joint baut. Der Tip sitzt locker zwischen seinen Lippen, damit er sich nicht wieder auseinanderrollt.
„Passt schon", antwortet er und es ist ein Wunder, dass der Tip nicht aus seinem Mund fällt.
Ich bin froh, dass er nicht weiter nachfragt. Liegt vielleicht auch eher daran, dass er gerade schlecht reden kann, aber ich bin trotzdem froh darüber. Ich wüsste nicht, was ich gesagt hätte. Ich könnte natürlich einfach die Wahrheit sagen, aber das wirft wieder weitere Fragen auf, die ich nicht unbedingt beantworten will.
„Ich bin gleich soweit", höre ich ihn nuscheln, als ich mein Handy raushole und mich kurz damit beschäftige, bis er fertig ist.
„Ich kann eh nicht mitrauchen", sage ich beiläufig.
„Huh?" Ich kann im Augenwinkel sehen, wie er kurz innehält und mich anschaut.
„Ich muss noch fahren", zucke ich mit den Schultern und schiebe mein Handy zurück in die Hosentasche.
Normalerweise interessiert mich das nicht. Solange ich alleine im Auto sitze und mein High vorbei ist, ist mir das egal. Aber sobald andere Leute mit im Auto sitzen und deren Leben in meiner Verantwortung liegt, kann ich das nicht machen. Und ich weiß nicht mit Sicherheit, ob ich nicht nachher noch jemanden mitnehmen muss. Ich muss auf Nummer sicher gehen, nur für den Fall.
Ein kleiner Teil von mir wünscht sich in dem Moment, ich wäre einfach mit Elliot zusammen in die Klinik gegangen. Dort wäre es wahrscheinlich spannender gewesen, als mit Perry in seinem Keller, wenn er der einzige von uns beiden ist, der komplett high dasitzt.
Obwohl, wäre es?
Ich denke an das Gespräch gerade im Auto, als Elliot mir vorgeworfen hat, ich wäre Mainstream und würde vorgeben, jemand anderes zu sein, nur um dazuzugehören. Alleine bei dem Gedanken daran bin ich wieder angepisst. Ich bin ich. Ich versuche nicht, jemand anderes zu sein, um möglichst viele Freunde zu haben, das hier bin ich und ich war auch nie jemand anderes. Er ist wahrscheinlich einfach nur angepisst, weil ihn keiner mag und er keine Freunde hat.
Vielleicht sollte er mal darüber nachdenken, warum er keine Freunde hat.
„Wen fährst du?", fragt Perry und nimmt den Filter aus seinem Mund, um ihn in das Pape zwischen seinen Fingern zu legen. Er fängt an, den Joint zusammenzurollen.
Perry weiß genau, dass ich nur nicht rauche, wenn ich jemanden mitnehmen muss. Siehst du, Elliot? Er kennt mich.
„Irgendeinen Freund von Fonda", sage ich und spiele dabei mit einem losen Faden an der Sofalehne herum. Das ist nicht gelogen.
„Ich dachte, die hat keine Freunde", murmelt Perry, ist aber mehr fokussiert auf das, was sich zwischen seinen Fingern abspielt.
„Scheinbar schon", zucke ich teilnahmslos mit den Schultern. Ich schaue Perrys Profil einen Moment lang an. Und dann entschließe ich mich dazu, ihm davon zu erzählen. Einfach, um Elliot und mir selbst zu beweisen, dass das, was Elliot gesagt hat, nicht wahr ist. „Du kennst ihn vielleicht, er ist bei uns im Jahrgang. Elliot Whitham?"
Ein Lachen zuckt durch Perrys Körper. „Dude", fängt er an, hält aber kurz inne, um das Pape mit seiner Zunge zu befeuchten. „Deine Schwester hat 'nen komischen Geschmack."
„Ach was", murmle ich und beiße mir nachdenklich auf die Unterlippe.
„Du weißt schon, dass Whitham seine Schwester umgebracht hat?"
Mein Körper erstarrt augenblicklich. „Was?" Ich vergesse einen Moment lang, zu atmen. Elliot hat doch seine eigene Schwester nicht umgebracht.
Oder?
„Dude, komm schon. Da haben die doch letztes Schuljahr ein riesen Drama draus gemacht, die haben doch extra für sie diese riesige Trauerfeier in der Sporthalle abgezogen. Wir waren dabei." Perry zieht seine Augenbrauen hoch, als wäre ich schwer von Begriff.
„Warte. Das war seine Schwester?" Ich reiße die Augen auf. Ich erinnere mich. An dem Wochenende davor wurde nach einer Party eine Leiche im Ashvern Lake geborgen. Es stand überall in den Zeitungen. Überschriften wie „Tragischer Unfall am Ashvern Lake" oder „18-Jährige ertrinkt im Ashvern Lake" oder „Leiche eines Teenagers im See geborgen" flackern vor meinem inneren Auge auf. Ich weiß noch genau, wie von allen Seiten darüber diskutiert wurde, ob es ein Unfall oder nicht doch vielleicht Selbstmord war. Die ganze Stadt hat tagelang von nichts anderem mehr geredet.
Ich kann nicht fassen, dass ich nicht sofort darauf gekommen bin, dass es sich um Elliots Schwester gehandelt hat. Er hat es mir sogar indirekt gesagt! Das wird mir jetzt erst klar. Damals, während der Party im Loch. Pass auf, dass du nicht auch noch tot im See gefunden wirst, hatte er zu mir gesagt. Wieso hab ich nicht da schon gecheckt, was Sache ist?
„Aber es wurde doch nie bestätigt, ob's ein Unfall oder Selbstmord war", füge ich nach einer Weile hinzu. Vielleicht ist das naiv, aber ich glaube Perry nicht. Ich glaube nicht, dass Elliot seine Schwester umgebracht hat.
„Ich weiß auch nur das, was Jeremy damals erzählt hat. Er hat die beiden auf jeden Fall kurz vorher noch heftig streiten sehen. Und am nächsten Tag wird sie tot im See gefunden. Sorry man, aber irgendwas stimmt da nicht, wenn du mich fragst", antwortet Perry gleichgültig.
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich weiß es einfach nicht. Kann Elliot wirklich was damit zu tun gehabt haben? Oder war es einfach nur Zufall, dass er sich vorher mit seiner Schwester gestritten hat?
Aber dann muss ich wieder an sein Verhalten das eine Mal im Auto denken, als ich ihn zurück nach Hause gefahren habe und wir über seine Schwester geredet haben.
Nein, denke ich und schüttele innerlich den Kopf. Was auch immer damals passiert ist, Elliot hatte nichts damit zu tun.
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