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ELLIOT

Es regnet so sehr, dass Chicos Scheibenwischer nicht hinterherkommen und ich langsam anfange, Angst um mein Leben zu kriegen. Ich würde im Bruchteil einer Sekunde mit ihm Plätze tauschen, wenn er mich fragen würde. Dann hab ich wenigstens die Kontrolle darüber, ob wir's lebend zur Klinik schaffen.
„Der hinter dir hat dir gerade den Mittelfinger gezeigt", sage ich trocken nach einem Blick in den Seitenspiegel.
Chicos Blick wechselt frustriert zwischen dem Rückspiegel und der Windschutzscheibe. „Ich kann nicht schneller fahren", murmelt er und umfasst das Lenkrad fester.
Ich muss schmunzeln. „Das war'n Witz. Ich kann nicht mal aus dem Fenster schauen."
„Hättest du nicht einfach den nächsten Bus oder so nehmen können?", fragt er genervt von meinem Witz und schaltet in den nächsten Gang.
„Wo wäre da der Spaß?" Als ich bemerke, dass Chico das absolut nicht witzig findet, werde ich ernst. „Es fährt nichts zur Klinik. Wäre ich anders hingekommen, hätte ich dich nicht gefragt, glaub mir."
„Du hättest auch einfach absagen können, Fonda hätte da kein Drama draus gemacht."
Er hat recht, das weiß ich. Fonda hätte das nicht groß gejuckt, ihr Bruder wäre ja sowieso vorbeigekommen. Aber es geht auch nicht um Fonda. Ich will nur einfach nicht nach Hause.
Anstatt zu antworten, drehe ich die Musik im Radio lauter.
„Foreigner?", frage ich nach ein paar Sekunden mit einem komischen Blick auf das Radio, nachdem ich ein paar Zeilen wiedererkenne.
„Willst du mich jetzt auch noch für meinen Musikgeschmack runtermachen?"
Ich schaue kurz sein Profil an. Hab ich mich so abwertend angehört? Oder ist ihm das Ganze einfach nur unangenehm?
„Du siehst nicht aus wie jemand, der Rock hört."
„Wie seh ich denn aus?" Er ist ein bisschen angepisst.
„Ich hätte eher auf Enrique Iglesias getippt."
Könnten Blicke töten, läge ich jetzt schon sechs Meter unter der Erde. Aber ich muss lachen.
„Das ist nicht nur rassistisch, sondern geographisch auch noch komplett daneben. Das ergibt nicht mal Sinn. Der Typ kommt aus Spanien, meine Abuelos sind Mexikaner."
„Ihr sprecht alle ein und die selbe Sprache", zucke ich mit den Schultern.
„Ich kann nicht mal Spanisch!"
Ich starre ihn von der Seite an. Alles an ihm schreit nach hispanischen Wurzeln - von den Haaren zum Körperbau bis zu seinem Hautton. Das einzige, was da nicht so ganz reinpasst, sind seine eisblauen Augen. Und er will mir erzählen, er kann kein Spanisch?
„Ich dachte, euer Vater ist Halbmexikaner." Das hat Fonda zumindest immer gesagt.
„Ja, er hat aber nur selten Spanisch mit uns geredet. Ich kann ihn zwar verstehen, aber sprechen kann ich wenn überhaupt nur ein paar Sätze. Ich bin nicht besser, als der Spanischkurs im Jahrgang."
„Wie auch immer."
„Was hörst du denn für Musik? Ich wette, du hörst Drake und so'n Scheiß."
Ich hab bei ihm wahrscheinlich wirklich einen sensiblen Nerv getroffen, sonst wäre er jetzt nicht so angepisst. Dabei hab ich den Kram doch nicht mal ernst gemeint.
„Eher Tupac und Eminem. Zwischendurch auch Frank Ocean."
„Das ist so Mainstream."
„Sagt der Richtige." Ich schaue an Chico hinunter. Weiße abgetragene Air Force, dunkelgrüne Cargohose und ein schwarzes T-Shirt, darüber die Collegejacke des Lacrosseteams aus dem Merchshop der High School. Jeder Dritte an unserer Schule läuft mit dieser Jacke rum. Er soll mir nichts von Mainstream erzählen.
„Was?", fragt Chico genervt. Er hat meinen Blick mitbekommen. „Damit kann man nichts falsch machen. Außerdem haben wir von Musik geredet."
Abgesehen vom Musikpart hat er gerade indirekt zugegeben, dass er wirklich Mainstream ist. Wenigstens weiß er's.
„Wird das nicht irgendwann anstrengend?", frage ich ernst und schaue ihn von der Seite an.
Er schaut kurz rüber, hält meinen Blick eine lange Sekunde lang und tut dann so, als würde er sich wieder aufs Fahren konzentrieren. Aber seine Körpersprache verrät was anderes. Das ist das Ding an Körpersprache. Sie wird ständig unterschätzt, dabei macht Körpersprache um die 60% unserer Kommunikation aus. Wenn Leute das wüssten, wären sie viel vorsichtiger in dem, was sie von sich preisgeben.
„Was?", hakt er nach und fährt sich kurz mit der Zunge über die Lippen.
„Versuchen, reinzupassen? So zu tun, als wäre man jemand anderes? Sich anzupassen?"
„Es ist kein Wunder, dass du keine Freunde hast. Muss beschissen sein, mit jemanden abzuhängen, der sich für was Besseres hält."
Ich schaue ihn nachdenklich an. Das war eine Beleidigung, keine Frage. Aber das war eine gute Beleidigung, eine, die tief vordringt und einen zum Nachdenken anregt. Eine, die wirklich wehtun könnte. Wenn es mich nur interessieren würde, was er zu sagen hat, hätten seine Worte wirklich Kraft.
„Ich bin beeindruckt", sage ich.
„Weil ich recht habe?", fragt er und ich höre die Überraschung in seiner Stimme.
„Weil du nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein könntest", lächle ich mit nur einem Mundwinkel oben.
„Ach ja?" Er hebt eine Augenbraue. „Wieso hast du dann keine Freunde?"
„Ich hab Freunde. Fonda zum Beispiel."
„Meine 16-Jährige Schwester, die du in einer psychischen Einrichtung kennengelernt hast. Wow."
Ich kaue stirnrunzelnd auf meiner Unterlippe und starre ihn gedankenverloren an. Es vergehen ein paar Augenblicke, bis ich meinen Mund wieder aufmache. „Minus eins. Sieht nicht gut für dich aus, Fernández." Ich seufze gespielt.
Ich glaube nicht, dass er weiß wovon ich rede, aber er ist zu stolz, um nachzufragen und bleibt still.
Die Autofahrt dauert nicht mehr lange und schon bald parkt Chico seinen Wagen auf dem Parkplatz der Klinik. Es regnet immer noch so krass, dass die Windschutzscheibe ohne die Scheibenwischer in nur Sekunden so überschwemmt ist, dass man draußen nichts mehr erkennen kann.
„Sag Fonda, dass ich später vorbeikomme", sagt Chico und meidet meinem Blick, indem er durch die Windschutzscheibe starrt. Das Prasseln des Regens auf dem Autodach ist so laut, dass er ein bisschen lauter reden musste.
„Du kommst nicht mit rein?", frage ich.
„Ich fahr noch zu Perry. Nicht, dass dich das interessieren würde."
Das tut es nicht. Nicht wirklich, jedenfalls. „Du bist komplett umsonst hergefahren." Hätte ich gewusst, dass er eigentlich nicht sowieso direkt hierhergefahren wäre, hätte ich ihn nicht gefragt. Jetzt fühle ich mich, als wäre ich ihm irgendwas schuldig und ich hasse es, Leuten etwas schuldig zu sein.
Chico seufzt und legt seine Hände um das Lenkrad. Er schaut mich immer noch nicht an. „Du bist jetzt hier, oder? Also war's nicht umsonst."
Er ist diesen riesigen Umweg gefahren, nur damit ich hierherkomme. Das klingt bescheuert, aber ich wünschte, er hätte das nicht gemacht. Warum?
Ich räuspere mich, als ich merke, dass es schon viel zu lange still ist. „Ich werd's ihr ausrichten", sage ich und greife nach dem Türgriff. Plötzlich habe ich das starke Bedürfnis, so schnell wie möglich aus diesem Wagen zu kommen. Scheiß auf den Regen.
„Gut", höre ich ihn beim Aussteigen sagen, und falls er noch irgendwas hinterher gesagt hatte, wurden seine Worte im Zuschlagen der Tür verschluckt.
Noch während ich durch den Regenschauer zum Eingang laufe, höre ich den alten Chevrolet hinter mir mit quietschenden Reifen vom Parkplatz rasen.

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