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CHICO

„Was war das denn gerade?", höre ich meine Schwester hinter mir sagen, doch ich bin viel zu konzentriert darauf, Elliot hinterherzustarren, um ihr zu antworten. Was war das gerade? Ich wollte ihm doch nur helfen. Ich verstehe das nicht.
„Ich weiß es nicht", antworte ich ehrlich und fühle mich wie der letzte Volltrottel, während ich mitten im Zimmer stehe und keine Ahnung habe, wie ich mich jetzt verhalten soll. Ich will da kein großes Ding draus machen, aber das gerade eben zieht mein Selbstbewusstsein schon ziemlich runter und das kann ich vor Fonda nicht verbergen, egal, wie sehr ich es versuche.
„Also manchmal würde ich echt gerne in deinen Kopf schauen können."
„In meinen?", frage ich stirnrunzelnd. „Frag ihn mal."
„Er wollte mir gerade erzählen, was mit seiner Schwester passiert ist. Und dann kommst du reingestürmt und zerstörst alles", sagt Fonda und lässt sich mit einem frustrierten Seufzen auf das Bett fallen.
„Ach, jetzt ist das meine Schuld? Ein Wort, und ich wär wieder weggewesen." Auch wenn es mich schon interessiert hätte, was er hatte sagen wollen.
„Zu spät."
Ich verdrehe die Augen und lasse mich auf den Stuhl vor ihrem Fenster fallen. Draußen bricht langsam der Sonnenuntergang an, die Besucherzeiten sind bald vorbei und ich sehe einige Leute schon wieder gehen.
„Wie kommt's eigentlich, dass Elliot dich überhaupt besuchen kann? Ich dachte, nur Familienangehörige sind erlaubt."
Ich sehe in der Reflexion des Fensters, wie Fonda auf meinen Hinterkopf starrt. „Die haben bei ihm 'ne Ausnahme gemacht. Wahrscheinlich denken die, dass wir uns gegenseitig gut tun, oder so. Und außerdem kennen sie ihn ja schon."
Ich bin mir nicht sicher, ob ihn irgendjemand wirklich kennt. Aber das sage ich nicht.
„Warum wurde der überhaupt eingewiesen?"
„Er meinte wegen Drogen, aber ich glaub ihm nicht."
„Ach was", murmle ich und starre nachdenklich ins Nichts. Alles an Elliot ist ein einziges Rätsel. Er ist wie ein Zauberwürfel; immer wenn man denkt, man würde der Lösung ein bisschen näher kommen, wirft ein kleines Teil wieder alles durcheinander und man muss von vorne anfangen.
„Glaubst du, das hat was mit seiner Schwester zu tun?", frage ich gedankenverloren.
„Ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass es was damit zu tun hat. Aber solange er nichts sagt, hat uns das nicht zu interessieren", antwortet Fonda ein bisschen forsch. „Also... Wie war Schule?"

Tage, nein sogar Wochen vergehen, ohne dass ich was von Elliot mitkriege. Ich habe mittlerweile meinen alten Tagesablauf zurück, wo nur Schule, Lacrosse, meine Freunde und Fonda zählen. Sie wird in fast eineinhalb Monaten wieder entlassen. Ich besuche sie immer noch jeden Tag, aber ich schreibe ihr jedes Mal, bevor ich hinfahre. So passiert es, dass Elliot schon immer weg ist, bevor ich ankomme. In den Stunden, die wir zusammen Unterricht haben, ignoriere ich ihn und er ignoriert mich. Es ist alles wieder beim Alten, fast so, als wüsste ich nicht, dass er überhaupt existiert.
Aber das ist der Punkt. Ich weiß, dass er existiert. Und so vergeht nicht ein Tag, wo ich nicht über ihn und seine Schwester nachdenke. Ich will wissen, was passiert ist. Leute in dem Alter sterben nicht einfach so. War sie krank? Ein Autounfall? Wenn ich mir vorstelle, meine Schwester zu verlieren, sehe ich nur noch schwarz. Da ist nichts ohne sie. Mein Leben würde ohne Fonda gar keinen Sinn mehr ergeben, egal wie sehr sie mir manchmal auf die Nerven geht. Ich frage mich die ganze Zeit, wie es für Elliot sein muss. Aber jedes Mal aufs Neue wird mir klar, dass ich ihn nicht gut genug kenne, um das beurteilen zu können. Ich kann nur Vermutungen anstellen, aber das reicht nicht.
Es ist erst drei, vielleicht vier Wochen später, als endlich wieder was passiert. Es ist ein typischer Herbsttag, dicke Wolken hängen schwer am Himmel und es regnet und stürmt, als stehe der Weltuntergang vor der Tür. Gerade hat es zum Unterrichtsschluss geklingelt und ich räume meine Sachen zusammen, schaue kurz nach hinten, um zu gucken, wo Perry steckt. Wir haben für heute Schluss und da es so stürmt, fällt das Lacrosse Training heute aus. Also war eigentlich der Plan, dass wir jetzt zu Perry fahren und was rauchen. Normalerweise rauche ich nicht viel, vielleicht ein oder zwei Mal im Monat auf irgendwelchen Parties. Aber heute will ich meine Kontrolle einfach mal für einen kurzen Moment abgeben. Einfach Spaß haben und entspannen.
Aber da macht mir jemand einen Strich durch die Rechnung.
„Chico."
Ich dachte erst, ich hätte mich verhört. Aber als ich mich umdrehe, steht niemand anderes als Elliot vor meinem Tisch. Er sieht nicht begeistert aus. Eher so, als würde er dem Lauf einer Pistole entgegenschauen.
Die Leute um uns herum verlassen langsam den Raum, wir sind fast die einzigen, die noch zurückgeblieben sind.
„Huh?", frage ich locker, während ich aufstehe und versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich das Ganze hier verwirrt.
„Es regnet."
„Ja? Schon den ganzen Tag, falls du's noch nicht mitbekommen hast." Ich nehme meine Bücher und laufe ihm voraus aus dem Raum. Perry ist nirgends mehr zu sehen. Wahrscheinlich ist er schon zum Parkplatz gelaufen.
„Das weiß ich", entgegnet er und ich bin ein bisschen stolz, die Frustration in seiner Stimme zu hören. Genauso fühle ich mich immer, wenn ich mit ihm rede.
„Und was wolltest du mir damit jetzt sagen?"
Ich bleibe stehen, als ich Elliots Schritte nicht mehr hinter mir höre. Er ist irgendwann ein paar Meter entfernt von mir einfach stehen geblieben. Außer uns ist niemand mehr im Flur.
„Was?", hake ich nach, als er einfach nur dasteht und mich anstarrt. Ich habe keine Ahnung, wo das Gespräch hinführen soll. Er hat ein kleines Muttermal links über der Oberlippe, das mir vorher nie aufgefallen ist. Ich glaube das kommt daher, weil ich ihn noch nie richtig angeschaut habe.
„Vergiss es", lacht er plötzlich trocken, schüttelt den Kopf und wendet sich zum Gehen.
Oh nein. So einfach werde ich es ihm nicht machen.
„Du hättest mich einfach fragen können, ob ich dich zur Klinik bringe, anstatt da so drumherum zu reden", rufe ich ihm hinterher. Ich weiß nicht, ob er mich das wirklich fragen wollte, aber er hat mich sicherlich nicht ohne Grund angesprochen und es ist nicht schwer, eins und eins zusammenzuzählen. Wie er schon sagte, es regnet. Und er muss laufen.
Ich drehe mich zu meinem Spind, bevor ich sehen kann, wie er stehen bleibt und sich umdreht. Ich räume meine Bücher ein.
„Chevrolet?", sagt er bloß.
„Der schwarze", nicke ich und als ich meinen Spind zuschlage und mich umdrehe, ist er schon verschwunden.

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