15
ELLIOT
„Wie war Schule?", fragt Fonda zur Begrüßung, als ich ihr Zimmer betrete. Sie schaut nicht mal von ihrem Buch hoch. Ich hätte sonst wer sein können.
„Scheiße", antworte ich und schmeiße meine Tasche auf den Stuhl vor ihrem Fenster. „Was liest du da?" Eigentlich interessiert mich das gar nicht. Aber ich hab keinen Bock, über Schule zu reden. Heute ist echt nicht mein Tag gewesen.
„Sei froh, dass du überhaupt zur Schule gehen kannst und nicht hier festsitzt", sagt sie genervt, ohne ihren Blick von dem Buch abzuwenden. „Carroll."
„Lass mich raten: Alice im Wunderland." Ich schmeiße mich mit dem Gesicht voran neben ihr auf das Bett.
„Falsch. Alice Hinter den Spiegeln."
„Ist doch das Gleiche." Meine Stimme klingt durch die Bettdecke gedämpft.
„Nein, das eine ist ein Sequel und das andere nicht."
„Wen juckt's."
„Hast du die Bücher mal gelesen?"
„Klar. Das Ganze liest sich, wie ein einziger Drogentrip."
„Aber die harte Sorte. LSD oder so. Glaubst du, Carroll hat LSD genommen?", fragt Fonda nachdenklich und als ich meinen Kopf kurz hebe, sehe ich, wie sie mit beeindrucktem Blick auf das Buchcover starrt.
„Die haben in der Zeit doch alle irgendwas genommen", murmle ich in die Decke. Ich schließe meine Augen und es ist eine Zeit lang so ruhig um uns herum, dass ich fast in den Schlaf abdrifte. Ich bin so fertig. Ich hab die ganze verdammte Nacht kein Auge zugemacht. Das war einer der schlimmsten Nächte seit langem. Meine Mutter wollte heute morgen erst, dass ich zuhause bleibe, aber das hätte das Ganze nur noch schlimmer gemacht. Ich hasse es. Ich weiß, dass meine Medikamente dagegen helfen könnten, aber lieber ertrage ich die Albträume als dass ich mich mit irgendwelchen Medikamenten vollstopfe, die alles betäuben.
„Manchmal fühl ich mich wie Alice. Sie denkt immer so viel nach. Über so dumme, irrelevante Sachen."
„Du bist 16. Da denkt jeder über dumme, irrelevante Sachen nach."
„Erklär das mal dem Doc", höre ich sie sagen und ich weiß ganz genau, würde ich sie anschauen, würde ich sehen, wie sie ihre dunklen Augen verdreht.
Es ist komisch, dass ich sie erst seit einem Monat oder so kenne und ich ganz genau weiß, was gerade in ihr vorgeht. Das erinnert mich an etwas, das Clara mal gesagt hat. Sie meinte, dass ein Seelenverwandter nicht immer der eigene Partner sein muss, sie war immer der festen Überzeugung, dass man seinen Seelenverwandten auch in einem Freund finden kann. Eigentlich glaube ich an so einen Scheiß nicht, aber vielleicht ist das gerade genau so'n Ding zwischen uns. Vielleicht ist Fonda meine Seelenverwandte.
„Hat Chico dich Freitag eigentlich noch nach Hause gebracht?", fragt Fonda betont beiläufig. Ich hebe meinen Kopf, um sie anzuschauen, aber sie tut so, als wäre sie in das Buch vertieft und ignoriert mich. Hat er irgendwas erzählt, oder wieso fragt sie danach?
Ich richte mich auf und lehne mich mit dem Rücken an die Wand, bevor ich antworte. „Ja?"
„War bestimmt richtig komisch, mit ihm alleine im Auto zu sitzen."
„Geht." Anfangs ja, aber nur, weil er es komisch gemacht hat. Sobald er lockerer wurde, musste ich feststellen, dass man sich eigentlich ganz gut mit ihm unterhalten kann.
„Geht?", wiederholt sie meine Worte. Sie schaut mich an und legt das Buch in ihren Schoß. Ich mag ihren Blick nicht. Bei ihr hab ich immer das Gefühl, sie würde versuchen, meine Gedanken zu lesen. Mir ist natürlich klar, dass sie das nicht kann, aber es ist trotzdem ein komisches Gefühl. „Was hast du zu ihm gesagt?"
Ich runzele die Stirn. „Ich? Ich hab gar nichts gesagt. Warum?"
Fonda kneift ihre Augen leicht zusammen und starrt mich an, ich kann schon fast hören, wie die Räder in ihrem Kopf rattern. Ich entgegne ihren Blick ohne zu blinzeln. „Okay, was ist hier los?", frage ich, als sie nichts sagt. Das Ganze verwirrt mich und ich hasse Verwirrung. Wirklich.
Fonda seufzt und schmeißt sich ihre dicken Locken über die rechte Schulter. „Chico war gestern hier und ich weiß nicht, er hat sich irgendwie voll komisch verhalten."
Ich hebe meine Augenbrauen. „Klingt normal, wenn du mich fragst."
Ich kann gerade noch dem Kissen ausweichen, das Fonda im Bruchteil einer Sekunde nach mir schmeißt. „Ey!"
Sie lacht kurz, fängt sich aber schnell wieder. „Ich mein's ernst, Elliot. Er war voll neben der Spur. Und ich kann mir nicht erklären, warum. Es ist nichts passiert, deswegen dachte ich, dass es vielleicht was mit Freitag zu tun hat."
Ich zucke mit den Schultern. „Vielleicht ist was passiert und er hat's dir einfach nicht erzählt."
„Er erzählt mir immer alles."
Ich will gerade widersprechen, aber dann fällt mir auf, dass ich genau das gleiche über Clara gesagt hätte. Egal was gewesen wäre, sie hätte es mir auch erzählt. Ich glaube Fonda. Nicht jede Geschwisterbeziehung ist abgefuckt.
„Ich hab ihm von meiner Schwester erzählt."
Fonda reißt ihre Augen auf. „Du hast eine Schwester? Warum weiß ich das nicht?" Sie lacht kurz.
„Ich dachte, ich hätte das schon erzählt." Das ist eine Lüge. Ich weiß genau, dass ich ihr nie was von Clara erzählt habe.
Sie runzelt die Stirn und starrt mich einen Moment lang an. Ich weiß schon, was sie sagen wird, bevor sie überhaupt den Mund aufmacht.
„Du lügst."
Da haben wir's. Ich zucke bloß mit den Schultern. Ich hab ehrlich gesagt gerade keine Lust, darüber zu reden. Ich hab in den letzten Tagen schon mehr von ihr geredet, als in dem ganzen letzten halben Jahr.
„Wieso?"
Ich kann genau sehen, wie sie versucht, mich zu entschlüsseln.
„Sie ist tot, Fonda. Können wir jetzt über was anderes reden?" Ich weiß nicht, warum ich ihr jetzt doch einfach die Wahrheit gesagt habe. Ist wahrscheinlich unkomplizierter.
Ich kann ihre Reaktion nicht sehen, weil ich sie nicht anschaue. Ich weiß auch ohne zu sehen, wie sie jetzt wahrscheinlich gerade guckt. Ich hasse das. Ich hasse es, im Mittelpunkt zu stehen. Dieses Mitleid ständig. Tut mir leid. Ich kann nicht zählen, wie oft ich die Worte schon gehört habe. Schon so oft, dass diese Worte für mich keine Bedeutung mehr haben. Wie wenn man als Kind solange ein Wort gesagt hat, bis man vergessen hat, was dieses Wort eigentlich bedeutet. Diese Ironie dahinter bringt mich fast zum Lachen.
„War sie krank?"
Ich schaue kurz hoch. Das habe ich nicht erwartet. Überhaupt nicht. Niemand hat jemals Fragen gestellt. Alle haben es immer einfach nur hingenommen.
Ich schüttele nur den Kopf. Das ist ja das Schlimme dran. Clara war nicht krank. Sie war kerngesund, sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich, wäre jetzt eigentlich in Yale gewesen. In Yale. Und dann kommt ein kleiner Fehler und zerstört alles, in nur Sekunden. Ich hasse das Leben. Alles daran.
„Was ist passiert, Elliot?"
Empathie ist echt nicht ihr Ding. Aber das mag ich. Es ist so viel einfacher.
Bevor ich meinen Mund aufmache, weiß ich schon, dass ich ihr nicht die Wahrheit sagen werde. Bei anderen Leuten hätte mich das nicht gejuckt, mir ist es so egal, was andere Leute über mich denken. Aber wenn ich ihr die Wahrheit erzähle, würde sie sehen, dass ich doch weniger bin.
„Sie ist-"
Die Tür fliegt plötzlich auf und ich erschrecke mich so sehr, dass mein Herz einen Satz macht.
„Ich dachte, wir wollten uns im Aufenthaltsraum-" Chico hält sofort inne, als er mich sieht.
Ich bin gerade so geflasht, dass ich nichts anderes tun kann, als ihn anzustarren. Hat er gehört, was ich gesagt hab? Im nächsten Moment checke ich, wie dumm das ist und ich reiße mich von seinen hellen Augen los. Ich hab meinen Satz nicht mal beendet. Mein Herzschlag beruhigt sich trotzdem nicht sofort.
„Chico! Ich dachte, du wolltest erst zur Werkstatt", sagt Fonda und steht auf. Sie scheint die Anspannung hier überhaupt nicht zu spüren.
„Ich... uh-" Chico reißt seinen Blick von mir los und meine Schultern entspannen sich augenblicklich, jetzt, wo die Aufmerksamkeit nicht mehr auf mir liegt. „Ich hab dir geschrieben, dass ich doch nicht hinfahre."
„Oh. Sorry, hab ich nicht gelesen."
Ich sehe im Augenwinkel, wie Chico kurz zu mir rüberschaut. „Hab ich bemerkt."
„Cool", sage ich laut und stehe auf, bevor Fonda antworten kann. „Ich geh dann mal." Wenn Chico hier ist, brauch ich nicht auch noch hier zu chillen.
„Was? Du bist gerade erst-"
„Krass, oder? Zeit ist 'n komisches Konzept", unterbreche ich Fonda und lächle kurz in ihre Richtung, bevor ich meine Tasche schultere und an Chico vorbei durch die Tür gehe. Mir entgeht nicht, wie er mir extra einen Schritt ausweicht. Witzig, was so eine Autofahrt alles anrichten kann.
„Ey", höre ich ihn mir hinterherrufen. Der Typ überrascht mich echt immer aufs Neue.
Ich bleibe mitten im Flur stehen und drehe mich um. Er steht etwas unbeholfen im Türrahmen und scheint nicht so wirklich zu wissen, was er sagen soll. Wahrscheinlich hat er nicht damit gerechnet, dass ich mich tatsächlich umdrehen würde. Da sind wir schon zwei. Vielleicht will Fonda unserem Club ja auch noch beitreten.
Ich lege meinen Kopf auf die Seite und hebe fragend meine Augenbrauen. Zunge im Hals stecken geblieben, oder was ist da los?
„Soll ich dich nach Hause fahren?"
„Was?" Ich runzele die Stirn. Nein, jetzt wirklich. Was? Hat ihm eine Autofahrt nicht gereicht?
Ich kann sehen, wie Chico anfängt zu bereuen, was gesagt zu haben. Gut. Das war nämlich verdammt komisch.
„Ich weiß nicht, der Weg ist nicht gerade kurz und ich dachte-"
„Hör auf zu denken", unterbreche ich ihn und höre mich wahrscheinlich fieser an, als es eigentlich gemeint war. „Ich laufe."
Ich warte eine Sekunde lang, aber von ihm kommt nichts mehr. Ich schüttele den Kopf und gehe.
Hat er vergessen, dass ich ihn nicht mag? Hat er vergessen, dass er mich nicht mag?
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