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CHICO

Ich starre einen Moment lang auf mein Handy, wo Fondas Name noch über das Display blitzt. Mir wird erst in dem Moment so richtig klar, dass Elliot mich verarscht hat. Fonda ist nie bei Jeremy gewesen, und ich bin den ganzen Weg umsonst gefahren. Ich weiß nicht mal, auf wen ich mehr sauer sein soll. Auf meine Schwester, weil sie mich hintergangen und trotz unserer Abmachung geraucht hat oder auf Elliot, weil er mich angelogen hat. Aber ich kann schlecht auf Elliot wütend sein. Wir sind nicht befreundet und er ist mir nichts schuldig. Trotzdem war das eine scheiß Aktion.
Zurück im Loch brauche ich eine halbe Ewigkeit, bis ich die beiden gefunden habe. Mittlerweile sind zwar die meisten Leute schon wieder gegangen, aber das Lagerfeuer ist aus und ich kann kaum was sehen. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber es kann sogar sein, dass ich aus versehen über jemanden gestolpert bin.
Ich finde die beiden schließlich etwas abseits, oben auf dem Steinbruch auf einem Baumstamm sitzend. Fonda redet ausgelassen mit Nathaniel, Jeremys Bruder, und Elliot sieht aus, als würde er jeden Moment einschlafen. Als Fonda mich sieht, schießt sie einen bösen Blick in Richtung Elliot.
„Ich dachte, du hast ihn zu Jere geschickt", beschwert sie sich, als wäre ich gar nicht da.
„Huh?" Elliot hebt verwirrt den Kopf und will sie wahrscheinlich anschauen, aber auf halben Weg entdeckt er mich und sein Blick bleibt auf mir haften. „Oh."
Ich brauche eine Sekunde, bis ich mich von seinem Blick losreißen kann und schaue zu Fonda. "Ich hab dein Handy geortet", sage ich. Ich weiß nicht genau, warum ich Elliot in Schutz nehme. Wahrscheinlich, weil ich irgendwie das Gefühl habe, ich wäre ihm etwas schuldig. Schließlich hätte er mir nicht sagen müssen, wo Fonda letztendlich ist.
„Du hast mein Handy geortet? Woher weißt du überhaupt, wie sowas geht?"
„Spielt keine Rolle, ich bring dich jetzt zurück zur Klinik."
„Schön", verdreht Fonda die Augen, steht aber auf. Sie scheint zu merken, dass ich gerade absolut keine Lust auf ihre Spielchen habe. „Aber wir nehmen Elliot mit."
„Woah, nein", sagt Elliot sofort und steht auf. „Ich lauf nach Hause."
„Einen Scheiß wirst du tun", sage ich und drehe mich um. Ich schaue nicht, ob die beiden mir folgen, aber ich höre ein genervtes Stöhnen von Fonda und dann mehrere Schritte hinter mir. Komisch, dass von Elliot nichts kommt.
Am Auto angekommen, setzt sich Fonda ohne ein Wort nach vorne. Elliot sitzt hinter mir.
Die Autofahrt verläuft still. Ich glaube, mittlerweile hat die Wirkung vom Gras wieder nachgelassen und die beiden hängen ihren eigenen Gedanken hinterher. Es ist das erste Mal, dass mich die Gedanken von jemand anderem mehr interessieren als die meiner Schwester. Ich weiß nicht genau, was ich mir dabei gedacht habe, Elliot mitzunehmen. Ich weiß nicht einmal, wo er wohnt. Alles was ich weiß ist, dass ich keine Lust gehabt hätte, bekifft alleine im Dunkeln nach Hause zu laufen.
An der Klinik angekommen, steigt Fonda aus, ohne sich von mir zu verabschieden. Entweder ist sie sauer, weil ich ihr den Spaß genommen habe, oder sie ist einfach nur sauer, weil ich sauer auf sie bin. Ich weiß es nicht, aber ehrlich gesagt ist es mir auch egal.
„Kommst du nach vorne?", frage ich, als Fonda die Tür hinter sich zugeschlagen hat und schaue in den Rückspiegel.
Elliot erwidert meinen Blick eine Sekunde lang, bevor er wortlos aussteigt, das Auto umrundet und vorne neben mir wieder einsteigt. Mit ihm folgt der Geruch von Weed, der mich fast erschlägt.
„Wo wohnst du?"
„Warum hast du mich mitgenommen?", entgegnet er zusammenhangslos. Im Augenwinkel sehe ich, wie er aus dem Fenster starrt.
Ich fahre vom Parkplatz runter und biege nach rechts ab. „Warum hast du mir mit Fonda geholfen?"
Er sagt nichts. Es bleibt so lange still, dass es schon unangenehm wird. Aber ich glaube nicht, dass es für ihn unangenehm ist.
„Links abbiegen."
Ich mache, was er sagt. Wir fahren eine verlassene Straße entlang, ich habe keine Ahnung, wo wir sind. Ich hätte gedacht, er wohnt irgendwo mitten in der Stadt. In irgendeiner schönen Gegend, so eine richtige Vorzeigenachbarschaft mit gemachten Gärten und allem drum und dran. Aber hier stehen kaum Häuser und der Abstand zwischen den Häusern ist so groß, dass ich mir nicht sicher bin, ob man die Leute noch als Nachbarn bezeichnen kann.
„Wie lange fährst du morgens zur Schule?", frage ich, um die Stille irgendwie zu überbrücken. Und weil es mich wirklich interessiert.
„Zwanzig Minuten."
Er fährt länger als ich. Hätte ich nicht gedacht.
„Ist das dein Auto?", fragt er plötzlich.
Darüber hat er die ganze Zeit nachgedacht?
„Um, ja", antworte ich etwas unsicher. Mein Auto ist nicht gerade das, was man Neuwagen nennt. Das Ding hat schon fast 50 Jahre auf den Buckel, hätte ich meinen Onkel und seine Werkstatt nicht, wäre das Auto schon längst auf dem Schrottplatz gelandet. Aber ich mag es. Es ist alt und klapprig und wenn man einsteigt, steigt einem sofort der Geruch von abgenutztem Leder in die Nase, aber das ist es, was ich daran so liebe. Ich würde dieses Auto für nichts auf der Welt wieder hergeben, diese Schrottkarre ist mein ganzer Stolz. Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich da schon dran herumtüfteln musste, damit es überhaupt fährt. Aber es fährt. Und was soll ein Auto schon sonst können?
Ich kann nicht sagen, ob Elliot den Wagen cool findet oder ob er sich insgeheim darüber lustig macht und denkt, dass ich mir nichts besseres leisten kann. Wenn er das denkt, ist er ein noch größeres Arschloch, als er sowieso schon ist.
„Cool", sagt er bloß und ich kann im Augenwinkel sehen, wie sich sein linker Mundwinkel kurz hebt.
Ich spüre, wie sich meine Schultern augenblicklich wieder entspannen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so viel Wert auf seine Meinung legen würde.
„Was fährst du für einen Wagen?", frage ich aus Interesse.
„Ich hab keinen."
„Oh." Ich werfe einen kurzen Blick zu ihm rüber, aber er schaut wieder bloß aus dem Fenster. „Wieso nicht?"
Elliot dreht seinen Kopf zu mir. „Weiß nicht", zuckt er mit den Schultern. „Autofahren ist nicht so mein Ding."
Ich spüre seinen Blick noch ein paar Sekunden lang auf mir und will gerade etwas erwidern, aber er kommt mir zuvor. „Meine Schwester hat eins."
„Du hast eine Schwester?", frage ich verwundert und schaue kurz zu ihm. Ich wünschte, ich würde nicht gerade Autofahren. So kann ich seine Reaktionen nicht richtig sehen und das nervt mich ein bisschen. Wir haben noch nie ein normales Gespräch geführt und ich hab das Gefühl, dass ich die Gelegenheit auch so schnell nicht mehr bekommen werde.
„Sie heißt Clara", antwortet er mir.
„Wie alt ist sie?" Vielleicht kenne ich sie ja. Oder vielleicht auch nicht. Wahrscheinlich hätte ich dann gewusst, wer ihr Bruder ist.
„18."
„Oh", sage ich halb verwundert, halb fasziniert. „Ihr seid Zwillinge?"
Elliot fängt an zu Lächeln. Er hat Grübchen, stelle ich dabei fest. Ich glaube, ich habe ihn noch nie richtig Lächeln sehen.
„Nein. Wir sind elf Monate auseinander."
„Das ist cool. Ihr seid euch bestimmt richtig nah, huh?"
Ich weiß nicht, ob ich irgendwas Falsches gesagt habe oder so, aber plötzlich verschwindet das Lächeln auf seinen Lippen und er schaut wieder aus dem Fenster. Ich wünschte, ich wüsste, was gerade in seinem Kopf vorgeht.
„Ja", antwortet er bloß.
Wahrscheinlich sollte ich das Thema einfach fallen lassen, es ist offensichtlich, dass er da nicht mehr drüber reden will. Aber ich hab Angst vor der unangenehmen Stille, die folgen wird, also mache ich meinen Mund noch einmal auf. „Und... was macht sie jetzt so? Studiert sie?"
Ich weiß nicht genau, woran ich das festmache, aber ich weiß sofort, dass ich diesmal wirklich etwas Falsches gesagt habe. Ich hab das Gefühl, die Luft um uns herum wird plötzlich kalt.
„Unter der Erde liegen", sagt er trocken, ohne mich anzuschauen.
Mein Magen dreht sich um. So, als würde ich gerade in einer Achterbahn sitzen und mit 65 Meilen pro Stunde die Rampe runterknallen. Es ist wirklich kalt hier drinnen.
„Ich... Uh... Ich-"
„Passt schon."
Ich könnte mich gerade dafür schlagen, dass ich keine Ahnung habe, was ich sagen soll. Warum hab ich das nicht eher gewusst? Hätte ich gewusst, dass seine Schwester tot ist, hätte ich dieses Thema nie angefangen.
Was sage ich dazu? Es tut mir Leid?
Ich weiß noch, als meine Abuelita gestorben ist und alle möglichen Leute zu mir gekommen sind, und mir ihr Beileid ausgesprochen haben. Ich hab's gehasst. Und ich hab's nie verstanden. Warum sagen Leute, dass es ihnen Leid tut? Es ist nicht so, als hätten sie was mit ihrem Tod zutun gehabt. Und ihre Entschuldigungen bringen mir überhaupt nichts.
„Du kannst mich hier rauslassen."
„Was?" Ich bin so tief in Gedanken versunken, dass mich Elliots Stimme völlig aus der Bahn wirft und ich erst nicht checke, was er da überhaupt gerade gesagt hat. Als mein Gehirn seine Worte richtig verarbeitet hat, trete ich aus Reflex sofort auf die Bremse. Meine Reifen quietschen unangenehm und ich verziehe mein Gesicht bei dem Geräusch. Ich muss unbedingt neue Reifen raufmachen.
Als der Wagen steht, schaue ich bei Elliot aus dem Fenster. Wir stehen vor einem Tor, dahinter schlängelt sich ein Weg unter Bäumen hindurch zu einem Haus, das so weit entfernt ist, dass ich im Dunkeln nur die Umrisse erkennen kann.
„Hier wohnst du?" Hier ist nichts weiter als dieser Weg, das Haus und die Bäume. Ziemlich abgelegen. Aber nicht so, als würde er auf dem Land leben, eher etwas außerhalb der Stadt einfach.
„Sieht wohl so aus", erwidert er und meidet meinem Blick. Mir fällt sofort wieder ein, worüber wir gerade geredet haben und ich fühle mich beschissener wie nie zuvor.
„Hör mal, ich-", fange ich an, ohne überhaupt genau zu wissen, was ich eigentlich sagen will. Aber bevor ich meinen Satz beenden kann, unterbricht er mich.
„Danke."
Ich lehne mich zurück in meinen Sitz und starre auf mein Lenkrad. „Kein Problem", bringe ich schließlich hervor. Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll. Er will offensichtlich nicht mehr über seine Schwester reden.
„Ich bin Montag nach der Schule bei Fonda."
Ich runzle meine Stirn und schaue zu ihm rüber. Warum erzählt er mir das? Elliot erwidert meinen Blick kurz, aber es war zu kurz, um den Ausdruck in seinen Augen lesen zu können.
Plötzlich wird mir klar, dass das vielleicht meine Chance ist, das von vorhin irgendwie wieder gutzumachen. „Ich kann dich mitnehmen, wenn du willst", biete ich an. Ich schaue auf meine Finger, mit denen ich nervös auf mein Lenkrad trommle.
Ich dachte eigentlich, das ist das, was er damit andeuten wollte. Aber stattdessen gibt er kopfschüttelnd einen sarkastischen Laut von sich und öffnet die Tür. Ich starre perplex auf den leeren Beifahrersitz. Was hab ich jetzt schon wieder falsch gemacht?
„Ich laufe", höre ich ihn sagen und ich schaue hoch. Elliot hält den Türgriff in der Hand und sieht aus, als wolle er noch was sagen, aber stattdessen schüttelt er nochmal den Kopf und macht die Tür zu.
Ich beobachte durch das Fenster, wie er durch das Tor geht und starre ihm solange hinterher, bis ich ihn nicht mehr sehen kann.
„Dir auch gute Nacht", sage ich ins Nichts. Ich schüttle den Kopf, bevor ich auf das Gaspedal trete und wieder losfahre.

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