11
ELLIOT
Als ich nach Hause komme, ist niemand da, außer mein Hund. Ich bin froh. Ich kann jetzt nicht auch noch mit meinen Eltern umgehen. Heute ist schon genug Scheiße passiert. Wer hätte gedacht, dass nur ein Tag Schule reicht, damit ich mir wünsche, wieder zurück in der Klinik zu sein? Die Klinik ist absoluter Bullshit, keine Frage. Aber in der Klinik hatte ich einen geregelten Tagesablauf. Ich wusste jeden Tag zu jeder Stunde, was mich erwartet. Keine bösen Überraschungen. Nur Routine. So dumm es auch klingen mag, aber ich vermisse das.
Fonda geht es ohne mich beschissen. Auch wenn sie so tut, als wäre alles tip-top. Ich kenne sie noch nicht lange, aber wenn ich eins kann, dann spüren, wenn mich jemand anlügt oder mir ein Spielchen vorspielt. Ich weiß, wie es ist, ohne soziale Kontakte in der Klinik zu hocken. Nicht wissend, was man mit sich selbst anfangen soll. Ich hab das fast sechs Wochen lang durchgezogen. Aber wenn ich das kann, dann kann Fonda das schon lange.
Am Abend versuche ich, ein paar meiner Hausaufgaben zu erledigen. Doch schon nach zwanzig Minuten stehe ich frustriert mit einer Zigarette in der Hand auf meinem Balkon, mit der Hüfte gegen das Geländer gelehnt. Ich atme zitternd den Rauch aus und lege meinen Kopf in den Nacken, während ich versuche, tief durchzuatmen. Ich wusste, dass das passieren würde. Ich kann nicht einfach wieder ganz normal in den Alltag zurückkehren, als wenn nichts gewesen wäre. Acht Wochen Klinik reichen dafür nicht aus, ich bin zu fucking schwach für den ganzen Scheiß. Ich bin nicht meine Eltern. Ich kann nicht einfach verdrängen, was passiert ist und weiterleben, als hätte ich keine Schuld an dem, was kurz vor den Sommerferien geschehen ist.
Ich öffne meine Augen und starre hoch in den dunklen, wolkenlosen Nachthimmel. Ich muss Schmunzeln, als ich an einen Moment vor ein paar Jahren erinnert werde.
„Clara? Claraaa!" Ich stehe mitten im Garten und schaue mich um. Ich hab überall gesucht. Im Schuppen, im Gebüsch, auf dem Klettergerüst, unterm Trampolin... Sogar im Pool, obwohl Mum immer gesagt hat, ich soll alleine nicht so nah herangehen. Wenn sie nur mal sehen würde, wie gut ich schwimmen kann... Aber sie hat nie Zeit dafür.
Ich gehe kurzerhand durch die Terassentür rein ins Haus, unser neuer Welpe Apollo folgt mir dicht auf den Fersen. Dad hat gesagt, ich bin sein Lieblingsmensch, deshalb verfolgt er mich immer. Ich tue immer so, als würde mich das nerven, damit Clara nicht traurig ist. Aber eigentlich liebe ich es.
„Mum, hast du Clara gesehen?", frage ich, als ich sie in der Küche finde.
„Nein", antwortet sie, aber das hört sich mehr nach einer Frage an. Sie bückt sich, um einen Teller in die Spülmaschine zu räumen. Als sie wieder aufblickt, stehe ich immer noch an der selben Stelle, die Augen misstrauisch zusammengekniffen. Meine Mum muss lachen.
„Du lügst!", rufe ich empört. „Wo ist sie? Mum, Clara soll nicht nochmal gewinnen. Sie hat schon die ganze Zeit gewonnen", schmolle ich. Ich weiß, dass Mum immer nachgibt, wenn ich dieses Gesicht mache. Bei Dad funktioniert das nicht so gut.
Mum seufzt und lehnt sich mit der Hüfte an die Kücheninsel. Sie hebt verteidigend ihre Arme. „Alles, was ich dir sagen kann ist, dass sie nicht reingekommen ist." Sie zwinkert mir kurz zu, dann dreht sie sich wieder um und räumt weiter das benutzte Geschirr vom Abendessen ein. „Aber sag ihr nicht, dass du das von mir hast!", ruft meine Mum mir hinterher, als ich wieder durch die Terassentür nach draußen renne.
Ich glaube, ich weiß wo sie ist.
Ich laufe um das Haus herum, Apollo folgt mir auf Schritt und Tritt. An der Hausecke bleibe ich stehen. Ich versuche, Apollo zu zeigen, dass er ruhig sein soll, aber stattdessen legt er sich hechelnd auf den Rücken.
Ich luge kurz um die Ecke — ha!, denke ich, als ich zwei paar Füße vom Balkon baumeln sehe.
„Gefunden!", rufe ich und schieße aus meiner Deckung hervor.
Clara zuckt nicht mal zusammen. Es ist schon immer schwer gewesen, sie zu erschrecken, aber dieses Mal dachte ich wirklich, ich hätte sie auf kaltem Fuß erwischt. Wohl doch nicht.
„Hast du mich schon vorher gehört?", sage ich etwas enttäuscht und klettere an der Wand hoch auf den Balkon. Clara und ich haben das geübt, seitdem wir laufen können.
„Nicht dich, aber Apollo", grinst sie und zieht mich mit einer Hand über das Geländer. Ich schüttele böse den Kopf in Richtung Apollo, der nur mit großen, schmollenden Augen zu uns hochstarrt.
„Du hättest—"
„Guck mal nach oben, Lio", unterbricht meine Schwester mich und zeigt mit einem Finger nach oben. „Siehst du das? Der große, helle Stern den du da siehst — das ist Venus. Und der etwas kleinere daneben ist der Mars."
Ich lege meinen Kopf in den Nacken und kneife meine Augen ein bisschen zu, um besser sehen zu können. Es ist kurz nach Sonnenuntergang, ein paar letzte Strahlen sorgen dafür, dass der Nachthimmel noch nicht ganz in völligem Schwarz verschwindet.
„Woher weißt du das?", frage ich fasziniert, als ich die beiden hellen Flecken entdecke, die sie meint.
„Schule", zuckt sie mit den Schultern, ihre langen Haare fallen dabei über ihren Rücken. Mum will schon länger, dass Claras Spitzen wieder geschnitten werden, aber Clara lässt sie nicht.
Ich hätte ihr das nie gesagt, aber ihre Starrköpfigkeit hat mich schon immer beeindruckt. Egal, zu wie vielen endlosen Streitereien das immer geführt hat.
„Hey, siehst du den Mond darunter? Das sieht aus, wie ein Smiley!", sage ich aufgeregt und deute in den Himmel. Ich schaue zu ihr, in der Hoffnung, dass sie das auch sieht.
„Wo siehst du da denn einen Smiley?"
„Guck, der Mond ist der Mund und Venus und Mars die Augen. Siehst du?"
Ich kann genau den Moment abpassen, in dem sie es auch entdeckt. Ihre Augen hellen sich auf und in ihren Wangen bilden sich diese tiefen Grübchen, die wir beide von Mum haben. Claras sind nur noch ein bisschen tiefer als meine.
„Ich seh's auch", lacht sie und dreht ihren Kopf auf die Seite. „Aber nur, wenn ich so gucke."
„Stell dir vor, alle anderen auf der Welt sehen auch den Smiley. Dann sind alle gleichzeitig glücklich."
„Aber ich glaube nicht, dass alle ihn sehen."
„Warum glaubst du das? Das sieht man doch."
„Aber manche Leute haben zu viel zu tun, um in den Himmel zu schauen", sagt Clara ein bisschen traurig. Sie muss mir nicht erklären, was sie meint. Sie redet von Mum und Dad.
„Wenn sie nicht wenigstens einmal kurz in den Himmel gucken können, dann haben sie's auch nicht verdient, ihn zu sehen", antworte ich nach ein paar Augenblicken trotzig und recke das Kinn nach vorne. Clara stimmt mir zu und wir schauen so lange in das lächelnde Gesicht am Himmel, bis Mum uns herein ruft.
Soweit ich weiß, war ich da erst acht oder so, meine Schwester höchstens neun. Wir sind nur elf Monate auseinander.
Als ich jetzt gerade in den Himmel schaue, sehe ich das gleiche Smileygesicht wie vor all den Jahren. Und es ist genau das, was ich gerade brauche, um wieder runterzukommen.
Hör auf, dich dagegen zu wehren. Gerade die schönen Erinnerungen können dir weiterhelfen, Elliot. Tja, wer hätte gedacht, dass der Doc mal recht haben kann?
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