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CHICO

Ich bin schwul, Chico. Dieser Satz geistert mir schon den ganzen Tag durch den Kopf. Ich kann mich kaum konzentrieren, bei allem was ich mache. Eigentlich sollte es mich gar nicht so sehr beschäftigen. Wahrscheinlich stimmt das nicht mal. Wahrscheinlich war das wieder ein neuer Zug in seinem kranken Spiel, das er mit mir spielt. Um mich zu verunsichern, damit ich mich ihm unterlegen fühle. Aber immer, wenn ich an diesen Moment zurückdenke, habe ich diesen Blick in seinen Augen vor mir, der mir nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Eine Sekunde lang hatte ich wirklich das Gefühl, als wäre er verunsichert gewesen. Fast so, als hätte er bereut, mir das gesagt zu haben.
Und normalerweise bereut man doch nichts, wenn man etwas nur gesagt hat, um den anderen zu verarschen, oder? Das ergibt keinen Sinn. Er ergibt einfach keinen Sinn.
Als ich Fonda heute das erste Mal seit ein paar Tagen wieder besuche, kann ich nicht anders, als sie zu fragen.
„Natürlich wusste ich das, Chico", sagt sie bloß und schaut mich an, als sei das das offensichtlichste auf der Welt.
„Warum hast du mir das nicht gesagt?"
Sie zuckt mit den Schultern. „Warum sollte ich? Es ist jetzt nicht so, als würde das großartig was ändern."
Ich denke kurz über ihre Worte nach. Sie hat recht. Das tut es nicht. Ich mag ihn immer noch nicht.
„Ich glaub, du könntest ihn wirklich mögen, wenn du ihn besser kennenlernen würdest."
Ich muss lachen. „Im Leben nicht." Alleine der Gedanke daran, mich mit Elliot gut zu verstehen, gibt mir ein ungutes Gefühl.
„Ist das so eine typische Ich-kann-nichts-mit-einem-schwulen-Typen-zutun-haben-weil-er-sich-sonst-in-mich-verliebt Mentalität?" Fonda hebt eine Augenbraue.
Ich antworte nicht.
„Das ist so typisch. Chico, nur weil jemand schwul ist, heißt es nicht gleich, dass derjenige auf jeden Typen steht, den er sieht. Auch Schwule haben Standards, weißt du."
„Das habe ich ja auch nicht behauptet. Mir ist egal, ob er schwul ist oder was auch immer. Ich mag ihn nur einfach nicht."
„Du kennst ihn doch nicht mal."
„Ich mein's Ernst, Fonda. Mir ist scheißegal, wer er ist. Wenn ich ihn nicht mag, dann ist das so. Warum reden wir überhaupt darüber?"
Sie verdreht ihre Augen. „Du hast doch damit angefangen."
„Dann beende ich's jetzt."
„Okay", seufzt sie und zieht an ihrer Zigarette. „Dann lass uns darüber reden, wie ich übers Wochenende hier rauskomme."
„Übers Wochenende?", frage ich verwirrt.
Sie schaut mich an, als müsste mir jeden Moment ein Licht aufgehen. Aber da kommt nichts. Ich ziehe eine Augenbraue hoch.
„Die Party im Loch?"
Die Party im Loch. Fast hätte ich den Scheiß vergessen. Natürlich.
Das Loch ist ein bekannter Treffpunkt unter Teenagern mitten im Wald, wo ein alter Steinbruch eine große Grube bildet, in der meistens ungestört gefeiert werden kann. Und die Party im Loch am Freitag ist quasi das größte Event des Schuljahres. Egal ob Freshmen oder Seniors, alle sind da. Manchmal mischen sich sogar Studenten vom örtlichen College dazwischen, die dann hoffen, junge naive Mädchen abschleppen zu können.
Ich kann nicht sagen, dass ich mich auf diese Party freue, aber natürlich will Fonda dahin.
„Vielleicht findet am Wochenende ja die Beerdigung von Tante Magda statt", seufze ich.
„Warte", funkt Fonda dazwischen, die Zigarette hängt zwischen ihren Fingern auf halben Weg zu ihrem Mund. „Du hilfst mir?"
„Wenn ich's nicht tue, baust du eh nur Scheiße."'
Fonda grinst. „Tante Magdas Beerdigung klingt super."
„Eine Bedingung", sage ich ernst und wische ihr das Grinsen aus dem Gesicht.
Sie verdreht die Augen. „Natürlich kommt das nicht umsonst."
„Keine Drogen", ignoriere ich sie. „Ich habe keine Lust, am Ende dein Tripsitter zu sein."
„Wann warst du denn bitte mein Tripsitter?"
„Fonda."
„Ja, chill. Ist ja gut. Keine Drogen", erwidert sie etwas angepisst.
„Gut."
„Nicht mal Gras?"
„Nicht mal Gras."
Fonda seufzt theatralisch. „Warum geh ich dann überhaupt hin?"
„Von mir aus kannst du auch hier bleiben, mir ist das egal."
„Vergiss es. Den Scheiß lass ich mir nicht entgehen."
„Dann hör auf, dich zu beschweren."
„Ohne Spaß, ich weiß gar nicht, warum ich wollte, dass du herkommst. Alles was du machst, ist schlechte Laune zu verbreiten." Fonda wirft frustriert die bis zum Filter gerauchte Zigarette auf den Boden. Ich beobachte die Glut, bis sie erlischt.
„Wo hast du die eigentlich her?", frage ich, mein Blick liegt immer noch nachdenklich auf dem Zigarettenstummel.
„Elliot."
Mein Kopf schießt hoch. „Was?" Der ist doch gar nicht mehr hier?
„Ich hab sie von Elliot", wiederholt meine Schwester.
„Ich hab dich schon beim ersten Mal verstanden", antworte ich etwas schnippisch und ärgere mich im nächsten Moment selbst darüber. Er ist kein Grund, so aufzudrehen, Chico. „Ist er hier?", frage ich ruhiger.
„Er ist gegangen, kurz bevor du gekommen bist. Newsflash: er mag dich nämlich auch nicht."
Das ist keine Überraschung. Aber es ist trotzdem ein scheiß Gefühl, das direkt gesagt zu bekommen. Ich hab sonst nie wirklich Probleme mit anderen Leuten.
„Weißt du, was der Doc heute gesagt hat?", fragt Fonda nach ein paar Minuten Stille. Als ich meinen Kopf fragend zu ihr drehe, sehe ich, wie sie mit gerunzelter Stirn in die Ferne schaut.
„Du warst da?"
Fonda rollt ihre Augen und dreht den Kopf zu mir. „Was glaubst du eigentlich, was ich hier den ganzen Tag mache?"
„Was hat der Doc gesagt?", hake ich nach, damit sie aufhört, mich so genervt anzuschauen.
Sie schaut wieder nach vorne. „Er hat gesagt, dass ich aufhören muss, Menschen zu kategorisieren. Er meint, Menschen lassen sich nicht einfach in irgendwelche Schubladen stecken."
Ich denke einen Moment lang nach. Ich weiß, dass Fonda die Welt schon immer ein bisschen anders wahrgenommen hat, als andere. Da wo ich beispielsweise nur ein ganz normales Kind sehe, sieht Fonda ein Ergebnis aus Zahlen, logischen Schlussfolgerungen und einer Verkettung bestimmter Ereignisse. Sie denkt viel analytischer als andere Leute. Manchmal hab ich das Gefühl, dass das selbst für ihr Gehirn zu viel ist und sie deshalb Drogen nimmt, damit sie in eine andere Welt entfliehen kann und ihr Kopf einmal still ist. Aber Stille ist genauso gefährlich. „Und was hast du gesagt?", frage ich, denn ich weiß, dass Fonda immer das letzte Wort haben muss.
Sie kaut auf ihrer Unterlippe herum. Das tut sie selten. Meistens dann, wenn ihr Kopf von rastlosen Gedanken überströmt wird und sie dem kein Ende setzen kann. Dann muss sie den Druck in ihrem Kopf eben anders loswerden.
Fonda hört abrupt auf und schaut mich an.
„Warum funktioniert es dann?"

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