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ELLIOT
„Aaron, wie hat dir dein Mittagessen heute geschmeckt?"
„Wollen Sie das wirklich wissen?" Lachen.
„Natürlich will ich das wissen. Das war eine ernstgemeinte Frage."
„Abgesehen davon, dass ich weder erkennen noch schmecken konnte, ob das jetzt Kartoffelpüree oder Haferbrei war, hat's wie Scheiße geschmeckt, Doc."
„Scheiße? Katie, was sagst du dazu?"
„Gar nichts." Wieder Lachen.
„Gar nichts?"
Stille. Sie hat noch nie viel gesagt. Das mag ich an ihr.
„Elliot, hat's dir denn geschmeckt?"
Zehn Augenpaare liegen auf mir. Neun. Minus Claire, die sich für gar nichts interessiert.
Ich zucke mit den Schultern. „Geht." Die gleiche Antwort wie gestern. Und vorgestern. Und vorvorgestern. Und den Tag davor, und den Tag davor... Und so weiter.
Es sind immer die gleichen Fragen. Und immer die gleichen Antworten. Wäre ich der Doc, würde ich mich selbst einweisen.
„Was ist mit dir, Will?"
Ich schweife wieder ab und schaue aus dem Fenster. Witzig, wie sie extra Gitterstäbe davor gebaut haben. Nein, schade eigentlich. Ich wäre gerne gesprungen, um dem ganzen Scheiß hier zu entkommen.
Draußen sehe ich einen Krankenwagen vorfahren. Das Blaulicht ist aus, also kein Notfall.
Langweilig.
Ich drehe mich wieder um, schaue auf die Uhr. Mein Fuß wippt im Takt des Sekundenzeigers mit. Ich bin nicht nervös, ich bin nur ungeduldig. Es sind noch zwanzig Minuten. Zwanzig Minuten, dann kann ich wieder auf mein Zimmer gehen.
„Weiß einer von euch, wo Fonda ist?", fragt der Doc und schaut auf seine Papiere.
„Wer ist Fonda?"
„Die Neue."
„Sie war gestern schon hier, ihr erinnert euch sicherlich. Schwarze Locken, klein, hat nicht viel gesagt..."
Keiner kann etwas dazu sagen. Ich selber erinnere mich nur vage an das Mädchen. Jetzt gerade beneide ich sie. Ich wäre auch lieber woanders als in einem Sitzkreis mit Psychopathen.
Dabei bin ich per Definition wahrscheinlich selbst einer.
„Gut, dann beenden wir die Sitzung heute mal etwas eher. Denkt dran, morgen um die selbe Zeit."
Stühle kratzen über den Boden, als wir alle aufstehen. Ich bin einer der letzten, der den Raum verlässt. Ich mag das Getümmel an der Tür nicht.
„Elliot?"
Ich bleibe in der Tür stehen und drehe mich um. „Doc?"
Der Doc wirft einen Blick in seine Papiere und nimmt sich mit einem bedauernden Gesichtsausdruck die Brille von der Nase. „Du hast deine Medikamente wieder nicht genommen?"
Natürlich geht's darum. „Ich brauche sie nicht."
„Schwester Joanne hat gesagt, sie hat dich die Nacht wieder schreien gehört."
Schwester Joanne kann sich ins Knie ficken.
„Elliot. Die Medikamente sind da, um dir zu helfen. Wir können dich natürlich nicht dazu zwingen, sie einzunehmen, aber meinst du nicht, sie sind es wert, wenn du dafür mal in Ruhe durchschlafen kannst?"
Nein. Sind sie nicht. Ich tausche meine Schwester nicht gegen Pillen ein.
Ich sage nichts.
Der Doc seufzt. „Wie du willst. Du kannst gehen."
Genau das tue ich.
„Aaron, wie war dein Mittagessen?"
„Das wollen Sie nicht wissen, Doc." Lachen.
„Sonst würde ich nicht fragen."
„Ich weiß nicht, was ekelhafter war. Die Stückchen in der Soße oder das weiche Fleisch. Es war Scheiße."
„Scheiße? Katie, was sagst du dazu?"
„Gar nichts." Wieder Lachen.
„Gar nichts?"
Stille. So wie immer. Ich glaube, ich mag sie. Sie ist standhaft.
„Elliot, hat's dir geschmeckt?"
Ein Schulterzucken. „Geht."
„Und Will, was ist mit dir?"
Ich seufze und schaue aus dem Fenster. Ich komme mir vor, wie in einer Zeitschleife, in der ich immer und immer wieder den selben Tag durchlebe. Irgendjemand hält die Fernbedienung in der Hand und drückt immer wieder auf Repeat. Wird's denn nicht irgendwann langweilig?
„Fonda, hat dir dein Essen heute geschmeckt?"
Ich streiche mit meinen Fingern über meine Stuhllehne.
„Ja."
Ich höre auf und schaue nach oben. Ich bin nicht der einzige, der die Neue anstarrt. Selbst der Doc scheint überrascht zu sein.
„Gut! Das ist gut! Habt ihr das gehört? Fonda geht positiv da-"
„Ich war bei McDonald's."
Es ist lustig zu sehen, wie dem Doc die Gesichtszüge entweichen. Ein paar Leute lachen, aber sie bleibt ernst. Sie meint das ernst. Mein Interesse ist plötzlich da. Als hätte man ein Feuerzeug entzündet.
Wie zur Hölle ist sie hier rausgekommen?
„Fonda, das hättest du lieber für dich behalten sollen", sagt der Doc enttäuscht und schreibt sich etwas auf. Ich bin neugierig, was er da aufschreibt.
Das Mädchen starrt stur mit verschränkten Armen auf den Boden. Sie sagt nichts.
Ich finde es fast schon schade, als der Doc die Stunde für heute beendet.
Ich bin wieder einer der letzten, der geht. Als ich durch die Tür gehe, bekomme ich noch mit, wie der Doc der Neuen etwas über die Besuchszeiten der Familien erzählt.
Besuchszeiten.
Ich hasse diese Zeiten. Meine Familie war es, die mich hier reingesteckt hat.
Ich brauche sie nicht zu sehen.
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