𝗄𝖺𝗉𝗂𝗍𝖾𝗅 𝗏𝗂𝖾𝗋𝗓𝖾𝗁𝗇.

Sorgsam zupft Chrysan meine Haare zurecht, während ich überprüfe, ob der Dolch an meinem Oberschenkel befestigt ist. Durch die vielen Lagen des dunklen Kleides fällt das Loch gar nicht auf, das gerade so groß ist, dass ich durchgreifen und mir die Waffe besorgen kann. Dakota hat sie mir gegeben – Wir haben es geschafft, uns zu treffen. Es sind alle eingeweiht: Die Geschwister Winstone, Avery, Prinzessin Ainsley, Mirana. Nichts kann heute schiefgehen.

»Du siehst perfekt aus«, wispert Chrysan und zwinkert mir zu. Das habe ich hauptsächlich ihr zu verdanken, so ausgiebig wie sie mich herausgeputzt hat.
»Danke«, erwidere ich lächelnd. Sie war eine wirkliche Stütze in den letzten Tagen, die ich zum Teil mit dem Kronprinzen verbracht habe. Obwohl er sich unglaublich viel Mühe mit mir gegeben hat und ich spüren konnte, dass er es ernst meint, habe ich kein Mitleid mit ihm. Ich habe mit einigen der Konkubinen gesprochen – Er behandelt sie nicht halb so gut wie mich. Außerdem ist er nach wie vor der Verlobte von Waverly.

»Reverie!«
Ich wirbele zu Jaime herum. Er sieht nicht schlecht aus, ein goldverzierter Anzug lässt ihn königlich wie immer wirken. Sofort setze ich ein herzliches Lächeln auf. Durch die Tür zum Ballsaal dringen bereits die Gespräche. Heute ist mein Debüt – Und gleichzeitig mein letzter Tag in der Gesellschaft.
»Jaime!«
Ich werfe mich ihm in die Arme und er zieht mich an sich. Was ist das denn für ein Parfüm?

»Bist du bereit?«, fragt er mich.
»Immer doch«, wispere ich und hauche ihm einen Kuss auf die Wange. Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie sich Chrysan wegdreht. Bald ist es vorbei.
»Dann lass uns gehen.«
Ich hake mich bei dem Kronprinzen unter und die Wachen öffnen uns die Tür. Der Saal erstrahlt vor lauter Prunk und den noblen Gästen, deren Gespräche verstummen. Alle drehen sich zu uns. Ich schmiege mich enger an den Kronprinzen. Auch Waverly entdecke ich unter den Anwesenden – Überraschenderweise ist sie schlicht gekleidet. Für ihre Verhältnisse. Dakota flankiert sie. Avery und Ainsley entdecke ich mit etwas Abstand zueinander am Rand der Gesellschaft. Sie nicken mir knapp zu.

Der Saal ist gewaltig – Kein Wunder, es ist der größte im ganzen Palast. Während der Boden aus edlem Marmor besteht, ist der Rest aus schwarzem Stein. Auf der von hohen Säulen gestützten Decke wurden goldene Ornamente eingearbeitet, sodass es wirkt, als befände man sich unter einem goldenen Sternenhimmel. Ein Kronleuchter, der funkelndes Licht wirft, verstärkt den Eindruck.

»Seine Hoheit der erste Prinz von Seravira, Jaime Oakley Archer Borghese, und seine Mätresse, Reverie Lohen!«, schallt die Stimme eines der Soldaten durch den Raum. Vorsichtiger Applaus folgt den Worten, während wir die Treppen hinunterschreiten. Mein Blick zuckt zu einer der Standuhren. Es wird nicht mehr lange dauern.

Nach Stunden voller Gespräche mit den Adeligen, in denen ich an meinen Lügengeschichten festhielt, ziehe ich Jaime etwas aus der Menge. Weiter entfernt von uns spricht auch Dakota mit Waverly.
»Ich habe Kopfschmerzen«, klage ich, »Könnt Ihr mit mir nach draußen gehen?«
Bittend blicke ich zu dem Kronprinzen hoch. Er lächelt milde.
»Natürlich, Reverie.«

Perfekt. Ich lasse mich von ihm durch die Ansammlung der Menge führen, am Rand meines Sichtfelds übernimmt Ainsley die Adeligen, die uns hinterher wollen, und verwickelt sie in Konversationen. Avery hilft ihr dabei. Die beiden werden die Königinnen Seraviras werden – Und besser hätte es das Reich nicht treffen können. Auch wenn die Baroness sich manchmal etwas grob ausdrückt, ist sie doch eine der intelligentesten Frauen in ganz Seravira. Ainsley kenne ich nicht gut, aber ich vertraue Avery.

Frischer Wind rauscht durch meine Haare, als wir in den Schlossgarten gelangen. Ob sie Ash gefallen hätten? So wie alles, was ich getan habe? Ich hebe den Blick zum Mond. Vielleicht sieht er an einem anderen Ort gerade genauso wie ich nach dort oben. Denkt möglicherweise an mich. Kurz schließe ich die Augen, genieße einfach nur die kühle Luft.

Der Garten ist gewaltig und liegt so am Palast, dass man ihn nur über diesen erreichen kann. Oder über den Stall. Der Ausgang dort wird unser Fluchtweg sein. Kieswege verbinden Rosensträucher, Wiesen und Pavillons, darüber bilden teilweise Bögen aus Blumen kleine Tunnel. Es ist ein Wohlfühlort, an dem ich meine freie Zeit mit Chrysan verbracht habe. Ähnlich wie ich es mit Ash im Bryman-Garten getan habe.

Ruhig spreche ich mit Jaime über das Fest, führe ihn dabei sanft zu unserem Treffpunkt. Dakota wird gerade dasselbe mit Waverly tun. Wie erwartet befindet sich niemand außer uns draußen – Im Ballsaal müssten sich gerade alle um Ainsley scheren, die sonst nie auf Veranstaltungen auftritt. Der Trubel im Palast erfordert die gesamte Aufmerksamkeit der Wachen, sodass keine im Garten aufzufinden ist.

Wir betreten einen der Pavillons. Von meiner Leibwache und der Gräfin ist noch nichts zu sehen – Gut, verspäten sie sich eben etwas. Ich habe keine Zweifel, auf Dakota ist Verlass. Ich bleibe stehen, lege eine Hand in Jaimes Nacken. Der Kronprinz lächelt, küsst mich, wie er es schon so oft getan hat, schließt seine Augen, während meine andere Hand zum Dolch wandert. Das hier habe ich von Waverly gelernt.

Ich ziehe die Waffe hervor, halte sie allerdings so nah an meinem Körper, dass der erste Prinz sie nicht sehen kann. Eigentlich erwarte ich, dass sich mein Atem beschleunigt, doch ich bin völlig entspannt.
»Wisst ihr…«, murmele ich und blicke ihn direkt an, »Eigentlich konnte ich Euch noch nie leiden.<
Bevor er begreifen kann, was ich meine, stoße ich den Dolch in seine Brust. Ekliger Widerstand lässt meine Hand stocken, doch ich überwinde ihn. Der Körper des Kronprinzen erzittert.

»Reverie…?«, bringt er hervor. Panik weitet seine Augen. Ausdruckslos ziehe ich die Waffe aus ihm, lasse ihn zu Boden sinken, nur um ihm eine weitere Stichwunde hinzuzufügen. Je mehr Blut er verliert, desto schneller wird es vonstatten gehen. Es ist ein ganz anderes Gefühl als der Angriff auf die Wache, als ich im Kerker war – Besser, so viel besser. Adrenalin durchflutet meine Adern. Darauf habe ich so lange gewartet.

»Nancy. Eigentlich heiße ich Nancy Rees.«
Ich beuge mich zu ihm hinunter, hebe das Kinn mit dem blutverschmierten Dolch an, während unter mir eine metallische Pfütze entsteht. Er stirbt wie Ash – Nur, dass er niemanden hat, der ihn in seinen Armen hält. Auch Jaime atmet schneller, unregelmäßiger, doch ich habe kein Mitleid. Auch nicht nach all der Zeit, die ich mit ihm verbracht habe.

»Ihr wolltet doch einen Krieg beginnen, nicht? Habt die ganzen Pläne der Gräfin unterstützt?«
»Ja, aber… Aber…«, er hustet Blut, fasst sich auf die Wunde, aber der Fluss ist nicht zu stoppen. Ich hatte also Recht. Er war wirklich ein Teil dieses ganzen grausamen Vorhabens. Zu meinem Hass mischt sich Ekel.

»Wer hat dich geschickt? Von welcher Adelsfamilie bist du?«
Ich lache trocken auf.
»Beinahe Bryman.«

Endlich realisiert er, wer ich sein muss, aber es ist zu spät. Jaimes Blick verliert den Fokus. Wie beiläufig trete ich einen Schritt zur Seite, er kippt kopfüber auf den steinernen Boden. Es kracht, unter seinem Kopf breitet sich ein weiterer Fleck aus. Einer von zweien erledigt. Ich streiche die Klinge gelassen an meinem Kleid sauber. Langsam wird es zur Gewohnheit, dass meine Kleidung von dem Blut jener durchtränkt wird, die mich liebten. Sofern es bei dem Kronprinzen Liebe war und nicht nur Obsession oder Begehren.

»War der Plan nicht, dass wir gemeinsam getötet werden sollten?«
Diese Stimme. Diese amüsierte, lockere Stimme. Langsam drehe ich mich um. Waverly lehnt an einer Säule des Pavillons, auf ihrem Gesicht ein amüsiertes Grinsen. In ihrem dunklen Kleid sieht sie so bösartig aus wie sie es ist. Die Leiche vor meinen Füßen lässt sie kalt, sie schenkt ihrem zweiten Verlobten lediglich einen abwertenden Blick. Diese Schlange. Dakota steht knapp hinter ihr, die Hand an seinem Schwertgriff. Halt – Woher weiß Waverly von dem Plan?

»Diesmal hast du aber wirklich meinen Verlobten erstochen«, schmunzelt sie, »Diesmal muss ich das gar nicht persönlich tun! Obwohl es besser wäre, wenn das nach meiner Hochzeit geschehen wäre. Aber egal, auch die Königsfamilie wird mich entsprechend entschädigen. Vielleicht sogar mit dem zweiten Prinzen?«
Nachdenklich tippt sie sich mit einem perfekt manikürten Finger ans Kinn.

»Dakota«, zische ich, »Was geht hier vor sich?«
Er zieht das Schwert, sofort richte ich meinen Dolch dagegen. Kälte schlägt mir aus seinem Blick entgegen. Das darf nicht sein. Ausgerechnet er hat mich verraten? Er, der mir als erster seine Hilfe angeboten hat?

»Ich habe eingesehen, dass man Waverly nicht aufhalten sollte. Du weißt nicht, was sie wirklich plant. Sie wird Seravira zu einem Kaiserreich erheben – Und ich werde an ihrer Seite sein.«
Ich starre ihn an. Sie muss ihm einer Gehirnwäsche unterzogen habe. Anders kann ich mir das nicht erklären. Was macht ihn so sicher, dass sie ihn nicht auch beseitigt, sobald sie ihn nicht mehr braucht?
»Außerdem kann ich dich schon lange nicht ausstehen.«

»Da wendet sich das Blatt rasch, nicht?«, kommentiert Waverly belustigt. Ich ignoriere sie.
»Seit wann?«, meine ich knapp an Dakota gewandt. Die falsche Schlange hat Recht, das verändert die gesamte Situation. Obwohl ich stärker geworden bin, da Chrysan mir einige Techniken gezeigt hat, werde ich gegen ihn nicht ankommen. Immerhin ist er eine ausgebildete Leibwache. So sehr es schmerzt, so kurz vor dem Ziel zu sein und es doch auf etwas anderes zu lenken, sollte meine Priorität jetzt sein, zu fliehen – Zu überleben.

»Schon bevor wir in den Palast gezogen sind.«
Ich nicke. Natürlich. War es nicht immer er, der irgendwie verhindert hat, dass ich seine Herrin direkt beseitige? Der mich dazu gebracht hat, mich auf den Kronprinzen einzulassen? Hass flammt auf. Eigentlich hätte ich es vorher bemerken sollen. Weshalb lässt sich eine starke Leibwache auch auf ein unfähiges Küchenmädchen ein? Er hat mich lediglich benutzt, nein, Waverly hat mich benutzt. So wie Dakota dasteht, ist er kurz davor, mich aus dem Weg zu räumen, da ich meinen Zweck erfüllt habe. Und natürlich wird es wieder aussehen als sei jeder außer der Gräfin schuld.

»Hast du mir von Anfang an nur geholfen, weil du eigentlich ihr helfen wolltest?«, frage ich ihn. Wind frischt auf. Früher hätte er mir die lange Strähnen ins Gesicht gepustet, jetzt kitzeln mich die Spitzen nur an den Wangen. Ich darf nicht scheitern. Nicht nach alldem, was ich getan habe.
»Nein. Am Anfang hatte ich wirklich Zweifel an Waverly«, gesteht Dakota, »Unberechtigt.«

»Das reicht jetzt«, beschließt sie gelangweilt, kommt mir damit zuvor und betrachtet ihre Fingernägel beiläufig, »Beseitige sie. Ich brauche sie nicht mehr.«
Dakota schießt augenblicklich vor – Viel zu schnell, um auszuweichen. Sein Schwert streift mich an der Seite, als er plötzlich innehält. Täte er das nicht, wäre ich aufgespießt. Ich kenne mittlerweile diesen schockierten Blick, dieses Weiten der Augen. Sein Mund klappt auf.

Die Lanze ist vollständig durch ihn gedrungen, die Spitze ragt aus seinem Bauch. Ich taumele, nicht nur wegen meiner Wunde. Dakota bringt kein weiteres Wort heraus, sondern kracht seitlich auf den Boden, seine Waffe fliegt scheppernd aus seinem Griff. Chrysan atmet schnell, starrt die Leiche vor ihr an. Fassungslosigkeit zeichnet sich in ihrer Miene ab, doch sie schafft es überraschend schnell, sich wieder zu beruhigen. Eigentlich sollte sie mit Lorcan eine Kutsche zur Flucht bereitmachen. Offensichtlich ist sie mir gefolgt – Ich war noch nie so froh darüber.

»Da bin ich gerade noch rechtzeitig gekommen.«

Waverly benötigt nur Sekunden, um die Situation zu begreifen. Sie will gerade flüchten, aber meine Freundin ist schneller und schnappt sie am Handgelenk. Ich reiße mich los, hebe Dakotas Schwert auf und schleppe mich zu der Gräfin. Meine Wunde zwingt mich auf die Knie, doch ich kämpfe mich weiter. So muss sich Jaime gefühlt haben. Nicht schön.

»Wenn ich jetzt sterbe«, bringe ich heraus, »Nehme ich dich zumindest mit.«
Und endlich kann ich Waverly verwunden. Das Schwert rauscht zwar an ihrer Seite vorbei, aber das genügt, damit ihr Körper geschwächt wird. Chrysan lässt sie los, stützt mich. Langsam tanzen schwarze Punkte in meinem Sichtfeld, auch ich sinke auf den Boden. Wie in Trance hebe ich den Dolch, doch anstelle damit Waverly zu erstechen, fahre ich über ihr Gesicht. Schneide ihr dieses widerliche Grinsen heraus, nehme ihr die Möglichkeit, jemals wieder mit ihrem Charme zu täuschen.

Das letzte, was ich sehe, ist Chrysans tränenüberströmtes Gesicht. Ich hoffe, ich habe es gut gemacht, Ash.

30 392 Wörter - das Ende?

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