𝗄𝖺𝗉𝗂𝗍𝖾𝗅 𝗏𝗂𝖾𝗋.
Eine Stimme in mir rät, mich langsam zurückzuziehen. Ich bin schon viel zu lange hier. Aber ich will nicht gehen – Nicht, solange Ash‘ Hand an meiner Hüfte ruht und mein Kopf auf seiner Schulter. Die Nacht ist viel zu schön, seine Nähe beschützend. Mit einem tiefen Atemzug nehme ich seinen angenehmen Duft wahr, süß und attraktiv.
Während mein Blick auf die Sterne gerichtet ist, kann ich aus dem Augenwinkel bemerken, dass er mich ununterbrochen ansieht. Es ist ein gutes Gefühl, zu wissen, dass er auf mich Acht gibt, obwohl es gerade keine Gefahren gibt – Außerdem ist er im Umgang mit Waffen verboten tollpatschig. Doch der Gedanke zählt. Ich schmiege mich enger an ihn.
Eine Weile werde ich mich noch gedulden müssen, bevor wir offiziell als Liebespaar auftreten können. Das wird fantastisch werden. Endlich werde ich mich auf Veranstaltungen nicht mehr verstecken müssen. Natürlich wird Ash Waverly heiraten, aber ich rede mir ein, dass es eine Zweckehe ist. Die Chambers bringen den Brymans Ansehen, die Brymans den Chambers Vermögen. Ein fairer Austausch.
»Was hältst du von deiner Verlobten?«, höre ich mich plötzlich wispern. Ein Seufzen lässt Ash an meiner Seite erbeben – Nicht genervt, eher betrübt.
»Was soll ich schon von ihr halten?«, erwidert er leise, »Waverly ist zweifellos eine Frau von Klasse, ja. Aber mehr als ihre hochqualitative Bildung ist sie nicht.«
Er dreht mich und hebt meinen Kopf, sodass unsere Blicke sich treffen. Unglaubliche Sanftheit strahlt mir entgegen.
»Du bist die Einzige für mich und daran wird sich nichts ändern.«
Mein Herz pocht so schnell und laut, dass ich befürchte, dass Ash es hören könnte. Doch er lächelt mich weiter an und auch ich kann nicht anders.
»Danke.«
Ich strecke mich wieder, um ihn zu küssen.
»Lord Ashton Charles Bryman und die Zofe seiner Schwester haben ein Verhältnis…?«
Ein Aufschrei entweicht mir, reflexartig stoßen wir uns voneinander. Ich wirbele zu der Stimme umher. Im Rahmen des Fensters, die Arme verschränkt, lehnt Waverly. Ein knielanges, beiges Seidenkleid reicht ihr knapp unter die Knie, die dunkelbraunen Haare fallen leicht über ihre Schultern. Als könnte es die Tatsache ändern, blinzele ich hektisch. Nein, sie steht wirklich da. Die Verlobte des Mannes, den ich gerade beinahe geküsst habe. Scheiße.
»Eure… Eure Durchlaucht«, stammelt Ash, schafft es sogar, eine Verbeugung anzudeuten. Nachdem ich sie einige Sekunden angestarrt habe, gelingt es mir ebenfalls, demütig zu Boden zu blicken und einen Knicks zu machen. Das darf nicht sein. Nicht sie. Panik schließt sich eiskalt um mein heftig schlagendes Herz. Waverlys Gesichtsausdruck war vollkommen neutral. Ich kann sie überhaupt nicht einschätzen.
»Euer Hochgeboren.«
»Was gerade geschehen ist, das… Das ist nicht-«
»Wie ist ihr Name?«, schneidet Waverly ihm das Wort ab. Ash zögert offenbar, während mir allmählich Tränen in die Augen steigen. Sollte sich das herumsprechen, hätte ich seinen Ruf und den seiner Schwester vollkommen ruiniert. Avery würde sich bestimmt nichts daraus machen, aber ich könnte mir das nie verzeihen.
»Nancy«, bringt Ash schließlich heraus. Zwei, drei Sekunden Stille.
»Nur Nancy?«
»Nancy Rees, Euer Durchlaucht.«
Nach wie vor wage ich es nicht den Kopf zu heben. Schritte klingen auf dem Steinboden, die teuren Schuhe der Gräfin treten in mein Sichtfeld. Ein Zittern ergreift meinen Körper, das nicht nur von dem frischen Wind rührt.
»Nancy…«
Sie spricht meinen Namen aus als wäre es ein Fremdwort, das man erst einige Male verwenden muss, bis es sich richtig anhört. Meine Schultern spannen sich an, während meine Abneigung sich vergrößert.
»Dir ist bewusst, was ich dir alles anhängen könnte? Dass du Lord Ashtons komplettes Ansehen zerstören könntest?«
Natürlich weiß ich das. Wir haben allerdings nicht damit gerechnet, dass es so schief läuft. Langsam nicke ich. Waverly lacht kurz amüsiert auf, was mir Gänsehaut verursacht. Die Gräfin hat uns in der Hand, sie kann alles tun, alles verlangen.
»Ich denke nicht, dass du dir darüber wirklich im Klaren bist«, murmelt sie herablassend. Moment. Was hat sie vor?
»Euer Durchlaucht, ich kann es erklären«, schaltet sich Ash bemüht ruhig ein, doch seine Stimme überschlägt sich fast. Er war noch nie gut darin gewesen, sich zu rechtfertigen.
»Das könnt Ihr Euch sparen«, wehrt Waverly ab. Ihre Schritte klingen so laut, dass ich Kopfschmerzen kriege. Jedes einzelne Geräusch verängstigt mich mehr. Aber die Gräfin stolziert an mir vorbei, auf Ash zu. Verwundert wende ich mich um. Ich dachte, sie will mir etwas antun.
Auch Ash‘ Gesicht ist von Furcht gezeichnet, als er vor seiner Verlobten zurückweicht, bis er gegen die viel zu niedrige Reling des Balkons stößt. Er wirft einen Blick nach unten. Ein Stockwerk tief. Waverly kommt ihm näher, viel zu nah. Instinktiv mache ich einen Schritt nach vorne, doch meine Vernunft hält mich davon ab, weiter zu den beiden zu gehen. Ich muss mich an meine Drecksstellung erinnern. Zofe. Ich darf nichts Falsches machen, ich darf es nicht schlimmer machen.
»Ich weiß genau, wie wir das alles wieder richten«, säuselt Waverly. Langsam legt sie eine Hand in Ash‘ Nacken, der sie verzweifelt ansieht. Er will ihre Nähe nicht, aber er kann nichts tun. Wenn er noch weiter zurückweicht, stürzt er. Wenn er sie wegstößt, ist sie verärgert und das Risiko kann er nicht eingehen. Mittlerweile zittere ich so stark, dass ich keinen richtigen Schritt setzen kann. Ich will nicht sehen, wie eine andere Frau Ash so nahe ist.
Als sie sich vorbeugt, scheint etwas in mir zu zerbrechen. Ich will meinen Kopf abwenden, aber ich schaffe es nicht. Starre die beiden Adeligen an, als… Als Waverly Ash gar nicht küsst, sondern sich lediglich vorlehnt. Ihm etwas ins Ohr flüstert. Irritiert blinzele ich. Plötzlich erblasst Ash, reißt die Augen auf. Zu spät bemerke ich, dass Waverlys andere Hand, auf die ich freie Sicht habe, an ihren Oberschenkel gleitet, um etwas hervorzuholen.
»Ash!«
Ich stürme vor, will Waverly den Dolch aus der Hand reißen. Aber es ist zu spät. Mit einem anzüglichen Lächeln versenkt sie ihn in seinem Oberkörper. Ich strauchele. Das muss ein Traum sein. Bitte.
»Nein!«, entfährt es mir, während die Gräfin unberührt die Waffe dreht, herauszieht. Blut spritzt hervor, bedeckt sofort den Boden. Ash sinkt mit einem Aufschrei auf die Knie, atmet schnell. Waverly lässt den Dolch in die Pfütze fallen, macht einen Schritt zurück.
»Los«, meint sie an mich gerichtet, »Geh du zu deinem Liebsten. Es sind seine letzten Sekunden.«
Ich reiße mich los, stolpere, stürze neben ihn. Dass ich dabei direkt in sein Blut falle, bemerke ich kaum. Warm tränkt es mein dünnes Gewand.
»Ash…«
Mehr bringe ich nicht heraus. Tränen überströmen mein Gesicht, ich atme so schnell, dass ich mich fast verschlucke. Druck belegt meine Lungen.
»Nancy, es tut mir leid«, wispert er.
»Nein, bitte, wir finden eine Möglichkeit, um dich zu heilen!«
»Kannst du mich umarmen?«
Ich schlinge meine Arme um ihn, spüre die Wunde an meinem eigenen Körper pulsieren. Schwach erwidert er die Umarmung, während ich an seiner Schulter weine. Scheiße, scheiße, das darf nicht sein! Ich kann Ash nicht verlieren, nicht so früh! Unsere beste Zeit stand uns noch bevor.
»Sag Avery, dass… Dass ich sie lieb habe, ja?«, murmelt er.
»Tu nicht so als würdest du jetzt sterben!«
Meine Stimme bricht. Er drückt mich fester, gibt mir einen Kuss auf die Wange.
»Danke, dass du bei mir warst. Ich warte auf dich.«
Sein Zittern durchdringt auch mich. Kopfschmerzen erschweren es mir zu denken, ich ziehe ihn nur fester an mich. Ash‘ Schulter ist nass von meinen Tränen.
»Ich… Gehe mit dir«, wispere ich, »Bitte bleib bei mir.«
»Nein. Ich will, dass du weiterlebst. Vergiss mich und… lebe.«
»Wie könnte ich dich vergessen?«, kreische ich. Nein, nein, nein!
»Nancy, danke.«
Beruhigend streicht er mir über den Rücken. Was mir früher gutgetan hat, hilft jetzt gar nicht. Der Druck in meiner Lunge verbietet mir zu atmen, ich bringe keine Worte mehr heraus. Ash schnappt unregelmäßiger nach Luft, hält mich als würde er versuchen, sich im Leben zu halten.
»Ich habe etwas Angst, ehrlich gesagt. Versprich mir, dass du…«
Ash bringt ein Würgen hervor. Eine warme Flüssigkeit fließt auf meine Schulter, begleitet von dem metallischen Geruch, in dem ich mittlerweile fast bade. Mir wird schlecht, ich zittere, aber er hält mich nach wie vor. Ich lasse ihn auch nicht los.
»Bitte werde glücklich«, haucht Ash.
»Nicht ohne dich«, schluchze ich.
»Kannst du mir einen Lavendel, Veilchen und Holunder zusammenbinden?«, fragt er mich leise. Ich erzittere. Die Blumen stehen für Erinnerung oder Geheimnis, Hoffnung und… das Jenseits.
»Na… Natürlich.«
Er sagt nichts mehr.
Sein Körper bebt, dann verliere ich das Gefühl seines schlagenden Herzens. Nein, echot es in meinem Kopf, Nein, nein, nein. Ich beiße mir auf die Lippe, schluchze.
»Wie tragisch«, murmelt Waverly hinter mir, doch hinter ihren Worten verbirgt sich Abscheu. Ich ignoriere sie, nehme Ash an den Schultern, um ihn aufzurichten. Schüttele ihn leicht.
Seine Augen sind geschlossen. Diese wunderschönen braungelben Augen, die mich so süß angesehen haben wie Honig ist. Ein feines Rinnsal aus Blut fließt an seinem Mundwinkel entlang, tropft. Tropft wieder. Ein weiteres Schluchzen durchfährt mich, meine Brust schmerzt. Es ist ein Anblick, der mir nicht einmal in Alpträumen begegnet wäre. Heftiges Stechen in meinem Kopf versucht, den Eindruck zu vertreiben, aber ich sehe nicht weg. Ich kann den Blick nicht von dem abwenden, den ich liebe.
»Es ist vorbei, Zofe.«
Waverlys Fingernägel bohren sich in meine Schulter, die der Bluterguss nicht erwischt hat. Augenblicklich erstarre ich. Ohne, dass ich es bewusst tue, tasten meine Finger nach dem Dolch, doch die Gräfin stellt ihren Fuß auf meine Hand.
»Lassen wir das lieber.«
Ihr Ton ist viel zu freundlich dafür, dass sie soeben ihren Verlobten erstochen hat. Ash wurde erstochen. Ash ist tot. Die Realisation bringt mich dazu, wieder schluchzen zu wollen, aber das will ich Waverly nicht auch noch gönnen. Den unendlichen Tränenfluss hingegen kann ich nicht stoppen.
»Ich muss dir danken. Du hast meinen Plan so viel einfacher gestaltet.«
»Was…?«
Die Gräfin lässt von mir ab. Vorsichtig, liebevoll lege ich Ash ab. Streiche ihm vermutlich das letzte Mal eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Obwohl ich wieder so stark wie nie zittere, schaffe ich es, mich aufzurichten. Beinahe stürze ich erneut auf den Boden, als ich mich betrachte. Das Gewand ist nicht mehr weiß, sondern blutrot. Wegen Ash. Mein Magen rebelliert, ich halte ihn, damit ich mich nicht übergebe. Langsam drehe ich mich zu Waverly. Sie schenkt mir ein triumphierendes Lächeln.
»Ohne dich hätte sich der Zeitpunkt seines Todes viel länger verzögert, das wäre unendlich nervenauftreibend gewesen. Dank dir ist es viel schneller gegangen.«
Fassungslos starre ich die Gräfin an. Ich kann nicht glauben, was ich höre. Sie wollte ihn im Vorneherein umbringen. Wie lange plant sie das schon? Zu meiner Angst, der Verzweiflung, mischt sich Wut.
»Wachen!«
Der panische, kreischende Ton gelingt ihr sofort, genauso wie die Angst in ihrer Miene. Tatsächlich ziehen Tränen Spuren über ihre Wangen. Aus dem Inneren des Anwesens erklingen Schritte. Ich spüre, wie mir die Farbe aus dem Gesicht weicht.
»Eine… Eine Mörderin!«, schreit Waverly, sie zittert sogar.
Dakota, ihre Leibwache, und zwei weitere Wachen stürmen auf den Balkon, alle mit gezückten Waffen. Ich weiche einen Schritt zurück, stoße gegen Ash. Würge. Ich weiß genau, wie das aussehen muss. Die fremde Zofe, die erst vor kurzer Zeit ernannt wurde, blutbeschmiert vor der Leiche des jungen Barons. Dakota starrt mich an als würde er sich nicht erinnern, dass wir vor wenigen Stunden gemeinsam durch den Park spaziert sind. Es erscheint so fern. Wie gerne wäre ich wieder dort, als mein größtes Problem Ash‘ Abwesenheit war – Nicht sein Tod.
»Sie hat den Baron erstochen!«, bringt Waverly heraus, »Ergreift sie!«
10270 Wörter - Hälfte des dritten Meilensteins!
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